Kathrin Schmidt: Zu Marion Poschmanns Gedicht „Grund zu Schafen“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

− Zu Marion Poschmanns Gedicht „Grund zu Schafen“ aus dem Gedichtband Marion Poschmann: Grund zu Schafen. −

 

 

 

 

MARION POSCHMANN

Grund zu Schafen

Kochbirnen Walnüsse Gras
es war weiß es war rot es war grau
Mosaike aus Bauschutt verlorenes
Material wir verhielten uns unsichtbar

späte Ware die Nachkriegsmatratzen
wie Altersflecken im Garten
bekamen wir Schwachstellen unsere
T-Shirts auch tagsüber noch voller Nacht

die Birnen verrechneten wir
mit den Wespen ein Blumenstau gratis
zum Ende des Sommers war weiß oder rot
jede Hitze vermehrte sich

eine Wiese mit Bäumen man wuchs
unter Blitzen auf dunkelte nach war
das Auftragen alter Bekleidung kein Grund
zu Schafen

 

Erinnerte Bildfragmente oder Die Zeiten fallen in eins

Ich flüchte mich, dickes Mädchen mit Stampferbeinen, gedoppeltem Kinn und streng geschnittenem Haar, in den Grund dieses herbstlich verzeiteten, aber schwer fassbaren Bildes. Wer zu leiden hat unter dem Erwachsensein, ergreift vielleicht ganz gern die Gelegenheit zur Flucht. Wie ein Standbild aus einem alten, zerfallenden Zelluloidfilm lockt mich dieses Gedicht immer wieder in sich hinein. Es ist, als sei immer genau das scharf abgebildet, was das Auge im Augenblick gerade nicht fixiert. Will man es aber fixieren, verschwimmt es auf der Stelle. Das geht den Schafen wie den Sternen, denke ich und versuche mich an Kochbirnen. Die heißen Griese Bern oder Gieser Wilderman, ich bekomme sie aber nicht in den Blick. Nie habe ich eine gesehen oder gegessen, bin eben nicht aus der Hamburger Gegend, wo Birnen, Bohnen und Speck auch heute noch (oder wieder) als Traditionsgericht auf den Tisch kommen. Walnüsse aus dem Gras zu klauben ist hingegen für das dicke Kind, das ich war, eine der liebsten Herbstbeschäftigungen. Lieber noch als Kastaniensammeln, auch wenn das sauberer abgeht für die Finger. Ich kann mich tief ins Gedicht bücken für die schwarzummantelten Früchte. Wenn ich den Kopf hebe, sehe ich links neben mir meinen Vater, der mir aufmunternd zunickt, es war, wie ich heute weiß, wiederum seine Lieblingsbeschäftigung, mich zu beschäftigen. Oder sich mit mir zu beschäftigen? Was es auch gewesen sein mag, es war gut, seine Tochter zu sein und in Sicherheit im Korb an seinem Fahrrad gesessen zu haben auf dem Weg zum Nussbaum im verlassenen Garten. Die Jacke rot überm blauen Faltenrock, das Kopftuch orange-braun gepunktet, die Gummistiefel von hässlichem Grün über den dicken, braunen Strümpfen, am Leibchen befestigt – so sehe ich mich klein neben meinem großen schönen Vater im Gras stehen, und es war für einen Moment die Stille, die laut von innen an meine Kalotte schlug, ehe sie grau auslief in den weiten Himmel. Oder grau ausläuft? Ja, die Zeiten fallen in eins, ich bin vier Jahre alt, während ich Nüsse klaube. Aber mit meinen vier Jahren kann ich längst lesen und habe neben vielen, vielen anderen eben auch dieses Gedicht wieder und wieder gelesen, in dem ich nun unterwegs bin… Lächeln muss ich. Mosaike aus erinnerten Bildfragmenten verzahnen sich miteinander. Der Bauschutt, über den wir im September des Jahres 1962 stiefelten, das Haldenholz, die Ziegelklumpen in diesem verlotterten, verlassenen Garten muten auch fünfzig Jahre später noch an wie gerade eben verlorenes Material, das dem üblichen Gang der Dinge aus den Falten fiel, und hätte es damals nicht überklettert werden müssen, so türmte es sich heute umso höher auf vor uns. Ja, nach einer Strophe schon sage ich „uns“: Mein Vater starb vor anderthalb Jahren, und es ist eine ungeahnte Wohltat, mit ihm zusammen zu sein auf diese erstaunliche Weise, wir sehen uns an wie zu seinen Lebzeiten nie. Die Möglichkeit des letzten Augen-Blicks zwischen uns war zu keinem Zeitpunkt angenommene Realität, er starb aus dem Stegreif. Und verhielten wir uns im Bild nicht wie Vater und Kind – vielleicht bliebe er unsichtbar? Ich drehe mich um – er ist verloren an die Unschärfe…
Allein mit meinen Gedanken, ziehen sie mir schließlich Stiefel und dicke Strümpfe aus, der späte September ist warm. Ich lasse mich ins duftende Gras fallen und schließe die Augen. Schöne Ware feil! Schöne Ware feil!, tönt es da plötzlich mit weibischer Stimme. Den Ruf meine ich zu kennen, er ist mir ein Schrecken, denn kurze Zeit später fällt Schneewittchen stets in ernstzunehmende Ohnmachten, ich verstecke mich hinter den ein Stück abseits liegenden Nachkriegsmatratzen und mache mich flach wie ein Brett, das Gesicht auf der Erde. Es dauert eine Weile, ehe ich mit klopfendem Herzen meinen Vater als Rufenden ausmache. Mit ihm habe ich das DEFA-Märchen gesehen, das 1962 ein Jahr alt ist und im Kino lief, vor wenigen Wochen erst. Mein Vater versucht offenbar, sich weibliche Altersflecken auf die Stimmbänder zu packen; als ich ihn durchschaue, verfliegt das Herzklopfen und ich fliege in seine Arme, hier im Garten, von dem wir nicht wissen, wem er gehört. Wie ich heute weiß, bekamen wir damals Zukunft geschenkt mit den Nüssen im Gras, den Blicken füreinander, und selbst die Fahrradpanne am Flüsschen war eine Aussicht auf später, denn beim Zusehen begriff ich, wie mein Vater den Reifen flickt und habe es niemals vergessen. Die Schwachstellen der Schläuche sind heute ebenso unberechenbar wie damals. Trotzdem flicken wir selten, kaufen eher neu wie unsere T-Shirts, die auch einer höheren Wechselfrequenz unterliegen als früher, da sie noch Nickis hießen östlich der EIbe. Sogar tagsüber werden sie gewechselt, wenn es heiß draußen ist und der Schweiß läuft. Gerade noch hat mein Vater geschwitzt, da fröstelt es ihn schon, ein voller Mond wird später über der schon kalten Nacht stehen, wenn wir wieder zu Hause sein werden mit geflicktem Reifen und die Mutter uns mit Blutwurst und Kartoffeln begrüßt haben wird. Vorerst aber pflückt Vater buttrige Birnen und blaue Pflaumen von den Bäumen im fremden Garten, verrechneten Wahrzeichen gleich des gerade vergangenen Sommers, auf dass wir reich gesegnet zurückkehren können. Die Nüsse liegen zuunterst im Beutel, darauf die Birnen und Pflaumen, mit ein, zwei sauren Äpfelchen dazwischen. Mein Vater legt den Beutel in einen fest auf dem Gepäckträger installierten Korb, so habe ich die Wespen wenigstens nicht vorn, wo ich sitze.
Ich bin müde geworden, ein Blumenstau auf der Wiese verleitet Vater zum Anhalten. Besser die Blumen für die Mutter gratis zum Ende des Tages als teuer beim Blumenpaul am Eingang zum Städtchen. (Des Sommers Farben sind mir noch heute Gold und Honig, aber für den Vater war Sommer stets weiß oder rot, jede Nachfrage erübrigte sich.) In der abschwellenden Hitze ist es, als vermehrte sich unversehens die Anzahl der Wolken, die über den Horizont herankriechen und eine Wiese zwangsweise ins Dunkel schieben. Wolken, die mit Bäumen um die Höhe würfeln, in der sie sich halten dürfen, man sieht, wer gewinnt… Noch sitze ich auf Vaters Vorkriegsfahrrad, dem das Begehren auf später über den Lenker wuchs bis zu mir, die ich unter Vaters Kindern das erstgeborene Nachkriegskind bin. Will ich mich anschauen, werde ich undeutlich. Nicht anders habe ich die Heisenbergsche Unschärferelation begriffen: Durch meine Beobachtung verändere ich die Welt, die ich beobachte. Die winzigsten Teilchen sind so klein, dass die Wellenlänge des Lichtes, in dem ich sie beobachte, kleiner sein muss als die Teilchen. Wenn diese Wellenlänge so klein ist, muss die Frequenz riesengroß sein. Da aber große Frequenz gleichbedeutend mit hoher Energie ist, beschießt mein so geartetes Licht die kleinen Teilchen mit so viel Kraft, dass ich höchstens eine Wahrscheinlichkeit von Ort und Impuls, von Zeit und Energie angeben kann. Mit Blitzen gemessen, schießen die Teilchen hinaus übers Ziel. Kein Verlass mehr auf das, was gestern sein wird, und so dunkelte nach, was morgen war. Selbst das Auftragen alter Bekleidung ist kein Grund, nicht irgendwann doch noch geboren zu werden. Geringe Veranlassung also für die Geduldigen, vor der Zeit zu Schafen zu mutieren.
Besser ist es nicht zu sagen. Nie hätte ich es so sagen können. Und hoffe, der Neid möge die Bewunderung nicht trüben.

Kathrin Schmidt

Unscharfe Schafe, unsichtbare Bienen

− Für Kathrin Schmidt. −

Meist sitze ich lange an einem Gedicht, feile und forme, brüte darüber. Dieses floss, mit einer gewissen Eigenmächtigkeit, möchte ich sagen, in einem Rutsch aufs Papier, und noch immer bin ich ein wenig verwundert, dass diese Erfahrung dem Bennschen Diktum „ein Gedicht entsteht nicht, ein Gedicht wird gemacht“ eklatant widerspricht. Auch diesem Gedicht, ja, ging eine Phase des Brütens voraus, eine lange sogar, in meiner Erinnerung bin ich wochenlang in schneidendem nassen Wind umhergewandert und habe ihm den Boden bereitet. Ich widmete mich diesem Gedicht im Vorfeld, aber gleichsam blind, ohne etwas zu notieren, ohne groß etwas zu „machen“, ohne überhaupt eine bestimmte Vorstellung zu entwickeln.
Einer alten Dame, die inzwischen längst tot ist, verdanke ich das Wort „Kochbirnen“. Durchaus habe ich schon Kochbirnen gesehen, gegessen und auch gekocht, aber ich erinnere mich, dass ich Skrupel hatte, das Wort zu verwenden. Es gehörte nicht zu meinem Wortschatz, es war für mich eine Art Fremdwort, und es bedurfte einer leicht aggressiven Selbstüberwindung, es mir anzueignen.
Wer dichtet, sollte nicht skrupulös sein, und ich glaube, Kathrin Schmidt ist das ganz und gar nicht. Sie kennt die „Klarnamen“ der Kochbirnen: Griese Bern, sagt sie, Gieser Wilderman, und ich würde gern mit Schafsnamen kontern, die Skudde aus dem Baltikum erwähnen, die auf der Roten Liste der bedrohten Nutztierrassen steht, das Fettschwanzschaf, ein Wüstentier, das seinen Fettvorrat im Schwanz speichert wie Kamele den ihren im Höcker, ich würde vom bizarr-majestätischen Zackelschaf sprechen, dessen korkenzieherhaft gedrehte Hörner dem Tier eine entsetzte Würde verleihen, als hätte eine Löwenmähne zu Berge gestanden, sich zu Zöpfen gedreht und wäre versteinert. Ich nennte das biblische Jakobsschaf und das schottische Blackface, die Moorschnucke, das niedliche Schwarznasenschaf, das Brillenschaf mit seiner klapprigen Rosinante-Anmutung.
Aber da es um Unschärfe geht, die auch damit zu tun hat, wie sehr (oder wie wenig) sich über ein Ding, ein Bild, ein Wort verfügen lässt, möchte ich einige Tiere aus den Gedichten Kathrin Schmidts anführen, die ich mir gern zu eigen machen würde, wäre es möglich, sie aus ihrem Gedichtkosmos herauszulösen: Die „postentiere“ zum Beispiel, die mächtigen „elterndelphine“, die „asylwölfin“, die rätselhaft-einleuchtenden „belladonnen“: „wenn eine nicht bellt, / wird sie gleich für den hund gehalten, der immerfort schweigt (…)“. Die eigenartige Gefahr der Hundwerdung, die die Identität des lyrischen Ichs bedroht, erweitert, herausfordert, man weiß es nicht, findet ein Echo in dem Gedicht „milde kleine diagnosesplitter“:

der wind, den ich spürte, leimte die linien der frau
in die landschaft, daß, wo sie stand, kein platz blieb;
für magere hunde

Je fester die Konturen, könnte man sagen, desto weniger Raum ist vorhanden; desto punktueller tritt das Ich auf, desto unflexibler wird es sich zeigen in Hinblick auf Metamorphosen; höchstens denkbar die Maßnahme, die Lücken mit „Klarnamen“ so lange zu füllen, bis eine neue Abwesenheit eintritt. Der leere Raum des Ich hingegen ist unklar, unkonturiert, ein Möglichkeitsraum: „Doch sind wir nicht sichtbar, ein mottenpaar“. Die unsichtbaren Motten Kathrin Schmidts haben zwar wenig gemein mit geduldig-abwesenden Schafen, im Gegenteil beziehen sie aus ihrer Unsichtbarkeit den Nutzen, im Geheimen operieren und mit der Arbeit der Zersetzung beginnen zu können, ganz in einer Drohgebärde des „Doch nicht“. Aber auch diese Motten sind empfindliche Geschöpfe, staubige, weich stäubende, staubfarbene Flügel „im rücken“, den „herbst“ im Rücken, das eigene Verschwinden im Rücken. Während „die bienen in ihrer blindheit / am himmel baumeln wie faules gezänk.“
Wir also als „blinde bienen“? Wir sehen uns nicht.

Marion Poschmann

Die Texte wurden entnommen aus: die horen, Heft 246, Wallstein Verlag, 2. Quartal 2012

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