Kerstin Hensel: Zu Sarah Kirschs Gedicht „Selbstmord“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Sarah Kirschs Gedicht „Selbstmord“ aus dem Band Sarah Kirsch: Zaubersprüche. –

 

 

 

 

SARAH KIRSCH

SELBSTMORD

Aber bei der lag es in der Familie
Sie wohnten früher am Moor
Der Großmutter fiel regelmäßig
Ein Bild von der Wand wenn wieder
Ein Sohn gefallen war.
(um 1970)

 

Ratio und Rätsel

Kunst ist Form. Formen heißt Entformeln.
Kurt Schwitters

Was ist ein Gedicht? Jede Behauptung, was Kunst sei oder nicht, fordert Gegner heraus. Gewiß auch jene: es gäbe einen benennbaren Unterschied zwischen Prosa und Lyrik. Ein Gedicht besteht aus Versen, Prosa aus Zeilen – diese Aussage ist ein alter Hut, der auf gegenwärtigen Lyrikmodeschauen nur noch selten getragen wird. Der Hut scheint zu eng, aber ich vermute, viele sind nur nicht mutig genug, ihn – nach eigener Fasson – zu tragen.
Um den Unterschied Lyrik – Prosa zu verdeutlichen, spiele ich ein Thema in verschiedenen Sprachvarianten durch. Ich wähle „Selbstmord“.
In der Umgangssprache, die zur unmittelbaren Verständigung im Alltag dient, könnte das Selbstmord-Thema so klingen:

Haste von der schrecklichen Jeschichte jehört? die Peschke-Lisa hat sich jestern Abnd selbst um de Ecke jebracht. Liegt bei der inne Familie. Schon dern Jroßmutter hat sich offjehängt und dern Tochter, auch dern Söhne sin alle irjendwie hops jegangen. Ick vamute, det kommt, weil die ham früher mal am Moor jewohnt, und du weeß ja, wie sowat is…

Umgangssprache (mit oder ohne Jargon), die sich von der Standardsprache durch das Sprachniveau unterscheidet, ist die ungeformteste und ungenormteste aller Varianten. Sie gibt Auskunft über die soziale Schicht des Redenden. Umgangssprache ist keine Kunst, kann aber, bewußt eingesetzt, ein wichtiges Stilmittel sein. Auch im Gedicht.
Eine Zeitungsmeldung will eine breite Leserschaft auf allgemeinverständliche Weise über das Thema informieren, bzw. darüber berichten:

Am Abend des 23. Juni 1996 entdeckte ein Passant eine leblose Person am Ufer der Spree. Nach Ermittlungen der Polizei handelt es sich um die 54-jährige Lisa Peschke. Sie hat Selbstmord begangen und einen Abschiedsbrief hinterlassen, in dem sie ihre Lebenssituation als nicht mehr tragbar schildert…

Texte im Lexikon oder einer wissenschaftlichen Schrift werden in Fachsprache verfaßt. Das Thema wird sachlich, ohne Emotionen, Phantasie oder sonstige sprachliche Ausschmückung erörtert:

Suizid (lat.: sui caedes ,Tötung seiner selbst‘), auch Selbsttötung, Selbstmord oder Freitod, ist das willentliche Beenden des eigenen Lebens, sei es durch beabsichtigtes Handeln oder absichtliches Unterlassen von lebenserhaltenden Maßnahmen.

Bis hier hin ist alles Prosa, die unser Thema unterschiedlich, jedoch kunstfern behandelt. Kunst beginnt mit der künstlerischen Gestaltung der Sprache, d.h. sie verläßt die unmittelbare Informationsebene und somit die eindimensional wahrgenommene Realität:

An der dunkel, ins Nächtliche fließenden Spree, eine halbe Stunde entfernt vom Kino, aus dem ich an einem Novemberabend gekommen war, stieß mein Fuß plötzlich auf etwas weiches, tierhaftes, was da am Ufer lag. Ich erstarrte. Ich wagte nicht, mich zu bücken und nachzusehen, was mir im Weg lag. Schließlich tat ich es doch und sah: eine Frau, vielleicht fünfzig Jahre, in einem grauen, schäbig zerrissenen Mantel. Sie war tot. Sie lag da, so traurig und unheimlich war ihr erloschener Blick…

Das war erzählende Prosa: Epik. In der epischen Literatur werden die Dinge be-, das Thema somit umschrieben, Stimmungen geschaffen, Spannung erzeugt, also alles, was wir in Romanen, Erzählungen, Reportagen usw. finden. In der Epik leitet uns der Blick des Autors durchs Geschehen. Er will nicht mehr nur informieren, sondern andere Dimensionen des Erkennens schaffen.
Ebenfalls Prosa, aber mit lyrischen Einsprengseln, heißt dichterische Prosa. Sie kommt, wie die epische, in Zeilen daher, arbeitet aber mit komprimierten Bildern, ausgeprägtem Sprachrhythmus und oftmals eigenwilliger Syntax:

An der dunkel nächtlich verfließenden Spree, stößt der Fuß auf weiches Ufergetier. Erstarrung und Furcht! was seh ich, was schneidet den Weg mir ab, da liegt sie: die Tote, im grauen schäbigen Kleid. Sie liegt, als hätte sie selbst sich gerichtet, so traurig, unheimlich der erloschene Blick…

Zu allen Zeiten gab es die Mischung der Gattungen untereinander; Prosa mit Elementen der Lyrik, Lyrik mit Prosaelementen, lyrische Dramatik, epische Dramatik, dramatische Lyrik. Mischformen klingen interessant, gaukeln aber mitunter nur tiefere Bedeutung vor. Aus diesem Grund sehe ich die Erweiterung der Gattungen, ihre begriffliche Unbestimmbarkeit nicht immer als Bereicherung.
Wir erreichen nun die gebundene Sprache, das Genre Gedicht:

Lisa Peschke, welch ein Unglück,
nahm sich einen dicken Strick.
Hatte schon immer Pech im Leben:
Krieg, alle Söhne tot und vieles ging daneben.
Auch das Moor, wo sie wohnte, war für sie nicht gut,
Nun ist Lisa Peschke tot.

Was daran ist ein Gedicht? Der Text sieht aus wie ein solches und reimt sich. Formal kommt er als Gedicht durch – freilich als miserables: es fehlen die poetische Idee, sowie jegliches Sprach- bzw. Rhythmusgefühl. Das Metrum holpert, die Reime sind Mißklang, die Weltsicht ist naiv, und zum Thema Selbstmord erfahre ich: nichts.

SELBSTMORD

Aber bei der lag es in der Familie
Sie wohnten früher am Moor
Der Großmutter fiel regelmäßig
Ein Bild von der Wand wenn wieder
Ein Sohn gefallen war.
(Sarah Kirsch, um 1970)

Hier geht es um mehr als um eine Selbsttötung. Aber worum? Ich frage. Ich spüre, daß dieser Text, bei aller Einfachheit der Worte, ein Geheimnis in sich birgt. Dieses Geheimnis ist, was ein gutes Gedicht ausmacht. Der Dichter schafft es, der Leser muß es erkunden. Dieser Erkennungsprozeß soll Spaß machen, sonst ist die schönste Poesie nichts wert. Gewiß ist eine Interpretation, besser Gedichtanalyse, ein bißchen wie Rätselraten, aber Rätselraten gilt als eines der ältesten Menschheitsergnügen, und es gehört zur poetischen Ursubstanz.

Schon das erste Wort verwundert. Es heißt „Aber“. „Aber bei der lag es in der Familie“. Wer äußert so etwas wie über wen? „Aber“ klingt wie eine hilflose, aber ahnungsvolle Erklärung eines unbestimmten lyrischen Subjektes. So könnten beispielsweise Klatschweiber hinter vorgehaltener Hand wispern. „Es liegt in der Familie“ ist eine Redewendung. Man äußert sie über jemanden, in dessen Familie seit Generationen besondere Leistungen oder besondere Unglücke nachzuweisen sind. Es schwingt der Unterton mit: die kann ja nichts dafür, daß es ist, wie es ist: also schicksalhaft. Ohne, daß das Gedicht die gesellschaftliche Stellung der Betroffenen benennt, sondern nur durch das abfällige Wörtchen „der“ (statt „sie“) ahne ich, daß die Person von den Klatschweibern schon länger beäugt wird.
Vers 2 gibt eine zweite Ursachenvermutung: „Sie wohnten früher am Moor“. Am „Moor wohnen“ erinnert mich an Moorleichen, Irrlichter, Nebelgeister, Sumpffieber, arme Torfstecherseelen. „Moor“ ist symbolisch verwandt mit „Sumpf“. In der Traumdeutung begegnet einem der Sumpf als Sinnbild des Unbewußten. „In der Familie liegen“ und „am Moor wohnen“ – das sind für die Klatschweiber Indizien, daß eine fatalistische Macht Frau Nachbarin zum Suizid verholfen hat.
Ab Vers 3 arbeitet das Gedicht mit der Wirkung von Zeilensprüngen: „Der Großmutter fiel regelmäßig / Ein Bild von der Wand wenn wieder / Ein Sohn gefallen war“. Im inneren Auge sehe ich eine düstere Kate, in welcher eine alte Frau wohnt. Daß wie von Geisterhand Bilder von der Wand fallen, ist mir unheimlich, doch ich beruhige mich: das Moor hat’s in sich, da kann doch keiner dafür. Erst der letzte Vers löst das Rätsel: die Söhne der Frau sind gefallen. Nicht hingefallen, sondern im Krieg „gefallen“. Da gibt es nichts mißzuverstehen. Der Krieg ist die eigentliche Ursache des Unglücks von Generationen.
Die Bilder, die der Großmutter von der Wand fallen, lassen mehrere Deutungen zu: auf der ersten Ebene sind es die üblichen Bilder, die Mütter in Kriegszeiten an der Wohnzimmerwand hängen hatten: kitschige Landschaften, Fotos der Männer und Söhne, vielleicht Dürers „betende Hände“. Aber auch der Kaiser oder das Bildnis Adolf Hitlers hing in vielen Stuben. Jedes Mal… „wenn wieder / Ein Sohn gefallen war“, fielen der Mutter also nicht nur die realen Bilder von der Wand, sondern auch das Führerbild, also: ihr Weltbild. Bei jedem toten Sohn brach es ein Stück mehr in Scherben. Trösteten sich viele Kriegsmütter bei der ersten Nachricht über einen gefallenen Sohn noch mit dem zynischen Begriff Heldentod, war es beim zweiten schon nicht mehr so. Spätestens beim dritten „für Volk und Vaterland“ Gefallenen erwachten die meisten Mütter. Da war es zu spät. Da wollten sie selbst nicht mehr leben.
„Aber bei der lag es in der Familie“, unken die Klatschweiber im Gedicht. Das heißt im Fazit: Nicht der Krieg hat Schuld am Unglück, das über die Familie kam, sondern das allmächtige Schicksal, die Vorsehung, die vererbbare Veranlagung, das böse Moor. Die Klatschweiber zeigt Sarah Kirsch in subtiler Weise als jene Leute, die nichts aus der Geschichte begriffen haben.
Die Erkundung des Gedichtes „Selbstmord“ ist, bei aller Ausführlichkeit, nur eine Teilerkundung geblieben. Keine mathematische Formellösung, sondern meine Wegweisung zum Verständnis. Das Gedicht, weil es nichts beschreibt oder ausspricht, arbeitet im Kopf des Lesers weiter. Kommt er ihm auf die Spur, wird es ihn bezaubern und erschrecken. Daß Sarah Kirsch ein gutes Gedicht vorgelegt hat, beweist, daß es auf kleinstem Raum viel zu entdecken, zu denken und zu enträtseln gibt.

Kerstin Hensel, aus Kerstin Hensel: Das verspielte Papier. Über starke, schwache und vollkommen mißlungene Gedichte, Luchterhand Verlag, 2014

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