Klara Obermüller: Zu Hermann Burgers Gedicht „Eiszeit“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Hermann Burgers Gedicht „Eiszeit“ aus Hermann Burger: Rauchsignale. –

 

 

 

 

HERMANN BURGER

Eiszeit

Die Kälte nehm ich
als bittern Pelz um den Hals
und folge blind der Rentierspur,
die mich durch Eiszeiten führt,
durch Mindel und Riß über
Spalten bösen Gelächters hinweg.

Nebelgeweihe leuchten am Weg.

Noch funkelt der Goldfisch
in meiner Brust, noch
taucht und wendet er stumm.
Bald, denk ich, bald
wirst auch du erfroren sein, und
Licht trauert auf deinen Schuppen.
Licht, das sich tausendfach bricht
in den Kristallen,
die von meinem Mund fallen.

Dann, ihr rosa Flocken,
schneit mir das Gesicht zu
und die Herzmuschel auch.

 

Ein Opfer der Kälte

Man hat es mittlerweile fast vergessen: Hermann Burger hat mit Gedichten angefangen. Rauchsignale nannte er das Bändchen, mit dem er sich 1967 erstmals zu Wort meldete. „Rauchsignale“ – im nachhinein ahnen wir, daß dieser Titel wohl damals schon wörtlich zu verstehen war: das Gedicht als Notruf, Worte, die wie Rauchzeichen aufsteigen und Leben signalisieren, wo niemand es mehr vermutet.
Als ein solches Signal läßt sich auch das Gedicht „Eiszeit“ lesen: als einen frühen Versuch, Worte zu finden für einen Zustand, der sich im Grunde der Sprache verweigert. „Die Kälte nehm ich / als bittern Pelz um den Hals/ und folge blind der Rentierspur, / die mich durch Eiszeiten führt“ – das sind Worte für jene Schwermut, die Hermann Burger zeit seines Lebens immer wieder befallen, ihn niedergestreckt und der Sprache beraubt hat, bis ihm eines Tages die Kraft fehlte, sich aus der Erstarrung wieder zu erheben. Der Autor war Anfang Zwanzig, als er sie schrieb. Er scheint schon damals unter der Krankheit gelitten zu haben, die ihn schließlich das Leben kostete.
Hermann Burger hat im Verlaufe der Jahre zahlreiche Ärzte aufgesucht und Kuren über sich ergehen lassen. Doch für einen, der wie er wußte, daß „keine Gesundheit sei, wo das Wort gebreche“, blieb am Ende doch nur die Sprache als Antidot gegen die Sprachlosigkeit. Mit immer wieder neuen Bildern, neuen Metaphern, hat er versucht, sich der tödlichen Umklammerung durch die Depression zu erwehren und Sprache werden zu lassen, was ihm die Sprache verschlug. Es war ein titanischer Kampf, von dem zahlreiche seiner Werke ein beredtes Zeugnis ablegen. Der Paradoxie, die darin lag, sich mit Sprache aus der Sprachlosigkeit befreien zu wollen, muß er sich stets bewußt gewesen sein. Seine bisweilen schwindelerregende Sprachakrobatik ist der beste Beweis dafür, wieviel Anstrengung es ihn kostete und wie wenig selbstverständlich es ihm war, sich immer von neuem den Weg aus der Totenstarre der Melancholie zurück ins Leben zu bahnen.
Das frühe Gedicht mit seiner konsequent durchgeführten Eis- und Kälte-Metaphorik liest sich wie eine Vorwegnahme dessen, was den Autor in den späteren Jahren erwartete. Noch regt sich Leben in ihm, „noch funkelt der Goldfisch“ der Kreativität in seiner Brust; doch er ist stumm von Natur aus, und Burger weiß, daß es nicht mehr lange dauern kann, bis auch er ein Opfer der Kälte geworden ist. Dann gibt es nur noch das Licht, das trauert, und nur das Funkeln in den Eiskristallen kündet noch vom Leben, das hier sich einmal hatte entfalten wollen. Wie Stufen eines unaufhaltsamen Weges führen die Wörter „noch“, „bald“ und „dann“ hinab in die Tiefe: dorthin, wo der Autor sich vor der Zeit, einem Scheintoten gleich, vom Schnee in sein Leichentuch hüllen lassen muß.
Später, als die Zeiten eisiger Erstarrung immer länger und die Phasen überreizter Betriebsamkeit immer kürzer zu werden begannen, hat Hermann Burger sich der Metaphorik seines frühen Gedichtes noch einmal erinnert. Schon im Roman Die künstliche Mutter taucht eine Figur auf, die Glaziologie studiert hat und sich bestens auskennt auf jener eiszeitlichen Spur, die den jungen Mann vor Jahren schon „durch Mindel und Riß über / Spalten bösen Gelächters“ hinweggeführt hatte. Und noch offensichtlicher werden die Parallelen in der Erzählung „Blankenburg“, die den schier übermenschlichen Kampf des Autors gegen seine Melancholie zum Thema hat. Mit der Gewalt einer frühlingshaften Schneeschmelze bricht hier das Wort sich zwar noch einmal Bahn:

Ich bin an einem Satz erwacht, ohne daß ich wüßte, an welchem, aber es hat inwendig in mir gesprochen, der eine quälende Ewigkeit lang unterbrochene Dialog ist wiederaufgenommen worden, ich werde wieder lesen können…

Doch im nachhinein wissen wir – und Burger wußte es wohl von allem Anfang an –, daß der scheinbare Aufbruch nur ein Aufschub war. „Bald, denk ich, bald / wirst auch du erfroren sein“, hieß es vorausahnend in dem frühen Gedicht.

Klara Obermüller, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Achtzehnter Band, Insel Verlag, 1995

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00