Konrad Paul: Zu Jürgen K. Hultenreichs Gedicht „Thüringen“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Jürgen K. Hultenreichs Gedicht „Thüringen“ aus Jürgen K. Hultenreich: Mein Erfurt. 

 

 

 

 

JÜRGEN K. HULTENREICH

Thüringen

Selbst die Fliegen sind fröhlicher. Sie singen
(in Berlin wird nur gesummt). Die Mücken
stechen nicht, schwirren gemächlich voraus
in die kühle Wirtschaft. Und der Wurm? Er läßt
sich erst gar nicht sehen, so zufrieden ringelt
er das Hinterteil um seine Lieben. Nur am Sonntag
gehts raus und hinauf in die Berge. Was für
ein Gipfelkriechen! Indessen im Tal die Gehörnten
in alle Rohre blasen. Wer jetzt Glück hat,
als Mensch, neben dem sitzt ein Tier. Wem auch
hier nicht zu helfen ist, der ersäuft irgendwo.

 

Einblicke

Lobgesänge, Hymnen und Elogen über Thüringen – gelungene, weniger gelungene, selbst grottenschlechte – gibt es zuhauf, und schon allein der Name Thüringen läßt manchen erschauern. Der Autor Jürgen K. Hultenreich, geboren 1948 in Erfurt, ist da etwas anders, und das hat Gründe. Es liegt nicht allein an der Biographie des Poeten, nein – seine Mentalität unterscheidet ihn von vielen ebenfalls aufmüpfigen Autoren, die sich permanent am ach so sozialistischen Staate rieben. Er verhält sich wie ein Punk, der sein Leben nicht nach fremden Leitsätzen leben will und deshalb immer wieder mit den gegebenen Verhältnissen kollidiert. Der junge Mann lebt in den Tag hinein, eckt an, kommt vor Gericht, das Arbeitskollektiv hält zu ihm, und eine Staatsanwältin läßt ihn in die Psychiatrie im thüringischen Pfafferode einweisen. Dieser Aufenthalt zeitigt einen burlesken Roman mit dem schönen Titel Die Schillergruft, der gleichwohl einen ernsten Hintergrund hat. Den Lesern dieser Anthologie sei er dringend empfohlen – wer Sinn für Aberwitz hat, der kommt garantiert auf seine Kosten. In einer der großen Szenen des Buches liest der Psycho-Chef der Anstalt, ein Schiller-Fan von Graden, den Insassen der Anstalt zu Weihnachten Lyrik vor – Goethes Lied des Harfners aus dem Wilhelm Meister zum Beispiel – und läßt die Zuhörer darüber diskutieren. Die Reaktion eines Patienten auf den Vers „… denn alle Schuld rächt sich auf Erden“: das ist „brutal, etwas brutal…“ ist angesichts der Vergehen der Zuhörer fast verständlich – irritiert aber Vorleser und Zuhörer Hull, in dem unschwer der Autor zu erkennen ist. Wir wollen aber nicht bei dem „grandiosen Panoptikum faszinierender Gestalten“ (Wulf Kirsten) verweilen, denn da ist das Gedicht, das Thüringen als verkommenes Idyll charakterisiert und treffsicher die Bratwurstidylliker und Schrats aus dem Walde, die nur das Rennsteiglied kennen, aufs Korn nimmt. Das ist brutal, etwas brutal, wird jetzt mancher denken, aber die Menschen, von denen im Text die Rede ist, lassen die, die nicht passen, ersaufen. Hultenreich, der, wie er an anderer Stelle sagt, Erfurt liebt, hat in einem anderen lyrischen Text „In eine Stadt wie diese aber tritt man hinein“ geschrieben. Er hat seine Gründe, und über die sollten wir nachdenken. Sein Resümee nach der Lyrik-Lesung in der Anstalt „… Gedichte, begriff ich, können einen glatt um den letzten Rest Verstand bringen“, dagegen sollten wir nicht zu ernst nehmen.

Konrad Paulaus Jens Kirsten und Christoph Schmitz-Scholemann (Hrsg.): Thüringer Anthologie. Weimarer Verlagsgesellschaft, 2018

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