Kurt Klinger: Zu Hertha Kräftners Gedicht „Abends“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Hertha Kräftners Gedicht „Abends“ aus Hertha Kräftner: Das blaue Licht. –

 

 

 

 

HERTHA KRÄFTNER

Abends

Er schlug nach ihr. Da wurde ihr Gesicht
sehr schmal und farblos wie erstarrter Brei.
Er hätte gern ihr Hirn gesehn. – Das Licht
blieb grell. Ein Hund lief draußen laut vorbei.

Sie dachte nicht an Schuld und Schmerz und nicht
an die Verzeihung. Sie dachte keine Klage.
Sie fühlte nur den Schlag vom nächsten Tage
voraus. Und sie begriff auch diesen nicht.

 

Unterwürfige Revolte

Wenn ich an Hertha Kräftner denke, fällt mir als erstes dieses Gedicht ein und der erschreckende Satz:

Er hätte gern ihr Hirn gesehn.

Es ruft mir den regenüberschwemmten Herbstabend 1950 in Erinnerung, an dem ich in einer obskuren Wiener Literatenwohnung im Kreis junger Autoren, die einander Gedichte vorlasen, Hertha Kräftner kennenlernte. Es war ihr nichts anzusehen: wer sie interessierte, wer sie gleichgültig ließ, was in ihr vorging, was sie dachte – nichts. Ein sehr „anständig“ frisierter dunkelbrünetter Schatten war auf penetrant unauffällige Weise abwesend.
Als sie las, klang ihre Stimme für mich kühl und kraftlos, in sich zusammengesunken, mit jenem Timbre von Erschöpfung und Ohnmacht, dem man später bei der rezitierenden Ingeborg Bachmann wiederbegegnete. Man hätte die Sensibilität von Tieren besitzen müssen, die einen Schiffsuntergang vorausfühlen, um durch die Tristesse des Tonfalls schon die Botschaft zu ahnen, die Hertha Kräftner wenige Tage vor ihrem Selbstmord – am 13. November 1951, im Alter von dreiundzwanzig Jahren – an ihre Mutter schrieb:

Es ist einfach so, daß ich viel zu traurig und zu müde bin, um noch leben zu wollen.

Das Gedicht „Abends“ deckt brutal eines der Motive auf die den scheinbar anpassungsfähigen, in Wirklichkeit aber hermetischen und selbstbesessenen Charakter Hertha Kräftners in die Lebensverweigerung getrieben haben.
Warum schlägt dieser Mann (in Kräftners Briefen trägt er den mißverständlichen Namen „Anatol“) so furchtbar auf seine Geliebte ein, daß sich ihr Gesicht in Brei verwandelt, in „erstarrten Brei“? Warum, wenn nicht aus Verzweiflung, daß es ihm nicht gelingt, sie so absolut in Besitz zu nehmen, wie er sich ihr ausliefern möchte? Ein totaler Anspruch auf Gemeinsamkeit stößt so lange auf eine Zone, die sich ihm entzieht, ihn ablehnt, ihn sogar in der intimsten Vereinigung zurückweist, bis er rasend wird. Er will den Widerstand brechen, in den Kopf hineinsehen, der diese Capricen ausheckt, er will das Innerste nach außen kehren: Prügel als mißglückte Austreibung einer unerklärlichen Gegen-Macht. Er muß es tun, und er wird es immer wieder tun müssen, bis zum Ende oder bis er die Antwort erpreßt hat, nach der er sich sehnt.
Die geschlagene Frau hingegen bringt keine Klage über die Lippen. Sie kann nicht einmal an Klage „denken“, auch nicht an „Schuld“ und „Verzeihung“. Warum fühlt sie nicht den Schmerz des ersten Schlags, sondern den „Schlag vom nächsten Tage voraus“, den übernächsten und nochmals übernächsten – eine nicht mehr abreißende Kette von Schlägen? Weil sie in der Erstarrung des Nichtbegreifens doch eines sehr gut begreift: daß sie diesen Mann, obwohl er sie nur so akzeptieren kann, wie er sie haben will, nicht verlassen wird, nicht verlassen kann, da nur die Bindung an ihn die Selbsterkenntnis verzögert, sie sei weder der rückhaltlosen Hingabe noch der rückhaltlosen Einsamkeit fähig.
Immerhin beschwört er sie ja noch (wie Hertha Kräftner im Tagebuch gesteht):

Lebe für mich!

Wer sonst würde das zu ihr sagen? Der auferlegte Zwang ist immer noch besser als überhaupt kein Halt – die Konsequenz daraus kann nichts anderes sein als zielloses Aufbegehren, eine ständig prolongierte unterwürfige Revolte, die sich die Fähigkeit zur Selbstbefreiung abspricht. Wenn das geschieht, ist im Sinne existentialistischen Philosophierens bereits ein Todesraum markiert – Hertha Kräftner, die von Sartres Schriften fasziniert war, konnte das nicht entgangen sein.
„Abends“, datiert vom 20. März 1949, und benachbarte Texte, die das „Ausweglose“ besingen, sind das melodramatische Komprimat einer Entwicklungskrise nicht nur der unrettbar an sich selber leidenden Autorin. Die autobiographische Grundierung birgt fatale Wesenszüge einer Nachkriegsgeneration, die nach den Verwüstungen, deren hilfloser Zeuge sie sein mußte, der erhofften besseren Zukunft mit so maßlosen Erwartungen entgegensah, daß sie dem Sturz aus der Illusion, dem ersten Schlag ins Gesicht, nicht gewachsen war.

Kurt Klingeraus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Zehnter Band, Insel Verlag, 1986

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00