Bertolt Brechts Gedicht „Vergnügungen“

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BERTOLT BRECHT

Vergnügungen

Der erste Blick aus dem Fenster am Morgen
Das wiedergefundene alte Buch
Begeisterte Gesichter
Schnee, der Wechsel der Jahreszeiten
Die Zeitung
Der Hund
Die Dialektik
Duschen, Schwimmen
Alte Musik
Bequeme Schuhe
Begreifen
Neue Musik
Schreiben, Pflanzen
Reisen
Singen
Freundlich sein.

1954

aus: Bertolt Brecht: Die Gedichte, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2000

 

Konnotation

Für einen Moment der Ich-Inventur hat der politischste aller Dichter, der seinem Gedicht stets einen „Gebrauchswert“ abverlangte, seine strikt gesellschaftskritischen Maximen außer Kraft gesetzt. In seinem um 1954 entstandenen Gedicht „Vergnügungen“, das kurz nach den Buckower Elegien geschrieben wurde, wählt Bertolt Brecht (1898–1956) das Register einer fast privaten Einfachheit. So scheint es – auf den ersten Blick.
Aber die Liste der privaten „Vergnügungen“ erweist sich als zutiefst politisch. Denn in seinen Glückskatalog hat Brecht auch Dinge eingeschmuggelt, die ins Soziale weisen. Nicht nur den Blick aus dem Fenster, den Hund und die sentimentalische Offenheit für „alte“ und „neue Musik“ hat der Dichter auf seine Agenda der Vergnügungen gesetzt, sondern auch die alten Tugenden des gelehrten Marxisten: die „Dialektik“ und das „Begreifen“. Auch die Freude über „begeisterte Gesichter“ verweist ja auf einen gesellschaftlichen Kontext. Schließlich wird die Hoffnung auf die gesellschaftliche Wirksamkeit des Schriftstellers formuliert: „Schreiben“ und „Pflanzen“ werden als produktive Tätigkeiten im Vers aneinander gebunden.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

2 Kommentare

  1. Fehlt da nicht als vorletzte Gedichtzeile ”Singen” ?

    Antworten

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  1. Alltagsgedichte aus dem Schülerlabor - HZBblog - […] dem Muster von “Vergnügungen” (Berthold Brecht) sammelten alle zuerst einige Stichwörter aus ihrem Alltag und formten sie dann zum…

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