Manfred Jendryschik: Zu Peter Gosses Gedicht „Munterung an Dädalus“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Peter Gosses Gedicht „Munterung an Dädalus“. –

 

 

 

 

PETER GOSSE

Munterung an Dädalus

Solang Du ein Kerl bist, folge dem Sohne nicht!
In den Horizont ziel, dort muß das Land sein, Dädalus,
zieh in die Stoßstelle zwischen Bläulichem und vagerem Blau, hinterlaß
Hinterm und Bauch die Lockung des Azur!
Fokussier aufs Mähliche! (Kutusows denk: Rückzug allein
machte Sieg machbar.) Fokussier auf die Mitte:
Senge die Flügel nicht, netze die Flügel nicht,
traure, für den Du alles gäbst, traure dem Sohn nicht nach.

Freilich trauere ihm nach, der steil stieg zaubrischen Sehnsüchten nach:
Oh handgreiflich die Sonn, und die Lungflügel ihr ein überschießendes Gefäß!
Und das geschmeidige Meer – schauen es, steigend,
in seiner atmenden fliedernen Ganzheit! Ach
diese guten Gelüste: alles herein mir
an die muskelspielende Menschbrust: das All! – Er konnte
sich nicht widerstehen.
Doch die Sonne: kochendes Kraterloch,
und spurtilgend lagert das Meer.
Leise
treiben die Federn breit.

Welch Unmaß an Unnutz! Sieh Dich nicht um, es löst Schmerz da die Muskeln,
aaaaada starrn sie zu Salz!
Trauere – Du kannst nicht anders. (Was
ist Hirn, nicht befallbar von Wahnsinn. Doch was ein Hirn, befallen von ihm.)
aaaaaTrauere,
doch traure knapp. Dem züngelnden Klagelied tritt auf die Zung, es braucht Luft,
aaaaadie Du brauchst. Drohe
den Ellbogen an die Aufsagung der Freundschaft, wenn sie Ruh bitten, und den
aaaaaFingern,
wenn sie Unruhe bitten, gekrampft ins schweißglatte Schwingenleder. (Daß
Du nicht vergebens, ich bitt Dich,
zerschlugst, Ingenieur, Eure kretischen Ketten.)

Dort Szylla, Charybdis – dort mußt Du durch zwischen Beil und Bock der
aaaaaGuillotinen
halbrunde Aussparungen für Deinen Hals sind ein Tunnel: dort hindurch
hämmernden Fittichs zieh, jag unbesehen Zuversicht in die Sehnen, so ziehn sie
aaaaader Zuversicht
Boden her, Schlag um Schlag!

Verzieht auf Delilas Schoß wie ein Impotenter: so her preß die Potenz. Habe
aaaaaKraft: zerr den Ohropax nicht ausm Ohr in Loreleis Bereich.
Taktiere, Stratege, stiehl Dich voran, was das Wachszeug hält
den Weg, der alle Kraft frißt, den einzigen, diesen schlingernden Grat.
Harthalsig flexibel sei.
Kraftsparend leicht marschier, begeh den Kompromiß, diesseits von Grübeln
aaaaaund Traumeln. Taktier
zwischen Che und Dubcek, auf nieder auf nieder wie sisifosen
die Federgestänge! Lavier – dort ist das Land! –
zwischen Selbstaufgabe und Selbstmord.

 

Die Mitte oder Munterung an G.

1
Lebt Literatur von ihrem Mittelmaß, durch es? Traditionell gewachsen und verstanden als eine Möglichkeit elementarer Bedürfnisse (der Kommunikation) des Menschen, hat sie sich einzulassen auf Tradition und Kommunikation, hat sie ein ihr gehöriges Regelwerk zu bedienen, sich in dessen Grenzen, und damit Kompromissen, zu bewegen, will sie ihren Sinn erfüllen. Alles, was sie zu sagen hat (der Autor), muß von anderen (den Lesern) schon gedacht, (oder) empfunden, (oder) geahnt worden sein: das macht ihre Wirkung. Und je sorgfältiger, genauer sie diese Aufgabe erfüllt (die Deklarierung eines Zeitgefühls schwarz auf weiß), um so größer ist diese Wirkung; die kann nur noch gesteigert werden durch die kunstvolle Verschleierung des genannten Vorgangs, so daß der Rezipient glaubt, er würde gerade die Welt (oder Teile von ihr) entdecken, er ginge über ein allgemeines Verstehen der Drucksache hinaus (was er, durch sein – übliches – Assoziieren, auch tut, so gleichermaßen Kreativitätslust wie Eitelkeit befriedigend). Und so wird Brechts Satz, das Volk wünsche nicht tümlich zu sein, die Verständnisbarrieren würden niedergerissen, wenn die Interessen des Volkes getroffen werden, selbstverständlich.
Anders gesagt: Literatur braucht den Mittelweg, das bedeutet ihre Macht; sie braucht die entstandenen Übereinkünfte, und alle einst so provokativen wie produktiven Neuerungen innerhalb der Künste stellen sich im Rückblick als ziemlich leicht integrierbar heraus.
Allerdings ist es so einfach ja nicht: denn manches Integrierbare erfuhr seine Funktion erst in gewaltiger Phasenverschiebung; Brecht sprach nicht umsonst von einer Kunst des Zuschauens (variiert: Hinzulesens), die einerseits mit einer gewissen geistigen Beweglichkeit, mit Bildung, mit Gewöhnung an Kunst zu tun hat, andererseits, weit wichtiger (und schwieriger), mit der Erkenntnis (ihrer Möglichkeiten) der eigenen Interessen – wie sonst wäre das Verkennen einiger der wichtigsten Autoren des 18. und 19. Jahrhunderts zum Beispiel (ich nenne nur Lenz, Hölderlin, Büchner) über Epochen. hinweg zu erklären?

2
Sagen wollte ich lediglich: der bislang als Lyriker und Essayist hervorgetretene Peter Gosse, einer der wesentlichen, vielfältig die Interessen des Volkes treffenden Autoren unseres Landes, ist einer der unbekanntesten. Und er tut, alles, daß es so ist und bleibt: Er benutzt häufig ungewöhnlich ambivalente Sujets in meditativer Weise, auf die Befindlichkeit der Menschheit zielende Frage- und Problemsammlungen, eine dialektische, am Marxismus geschulte Denkweise, ein Vokabular, das mit Neuschöpfungen, Wortzertrümmerungen und -leimungen, Assonanzen, Umstellungen von Redewendungen und ähnlichem arbeitet, eine aus dem Naturwissenschaftlichen und Technischem herrührende (mitunter hypertrophierte oder hypertrophiert wirkende) Metaphorik, syntaktische Verkürzungen; der zeitweilig Inkommensurabelste deutscher Sprache, Arno Schmidt, erscheint partienweise daneben wie ein Faxenmacher. (Es läßt sich mutmaßen, daß die wesentliche Funktion derartiger Sprachbehandlung darin besteht, über die Intensität der Arbeit mit dem Wort- beziehungsweise Satzmaterial, das nicht einfach so benutzt wird, wie es der Schreiber vorfindet, eine Haltung zur Wirklichkeit auszustellen: die soll ebenfalls nicht einfach hin- und angenommen, sondern als Vorgabe betrachtet werden für menschliche, und damit gesellschaftliche, Veränderung.) Dennoch: Dies zusammen muß jedem Verleger ein Graus sein; daß Gosse trotzdem, hin und wieder, gedruckt wird, zeigt, daß unsere Ordnung sich in manchen Bereichen schon ein wenig Übermut leistet.
Allerdings, solcherart blankes Lob soll nicht zwei Fragwürdigkeiten ausklammern: Die eine besteht meines Erachtens darin, daß dieser Autor sichtbar die höchstmögliche Sprachkonzentration, den quantitativ geringsten Wortaufwand für das Ziel der Literatur hält – dies Beeindruckende muß aber zwangsläufig verdecken, daß ihre Eigenart ebenso von Redundanz, beherrschter Banalität, langwieriger Umgangssprache, überhaupt Atmosphärischem bestimmt sein kann; das zweite bedenkliche Moment sehe ich in der nicht seltenen Konstruktion der Erörterung, im prinzipiell Essayistischen, das den bildhaften Eindruck des Augenblicks, des Prozesses auflöst.

3
Den hiesigen Druck- und elektronischen Medien zu unterstellen, ihnen eignete, beim Erfüllen ihrer Pflichten, das denkbar wie möglichkeitsgemäße Optimale (d.i. das dem gesellschaftlichen Stand und Selbstverständnis Entsprechende), hieße den Fortschritt behindern. Diese beklagenswerte Situation hat dazu geführt, daß zum Berufsbild eines Teils unserer Autoren der Moralismus gehört; das meint, daß sich eine, durch den Mangel an öffentlichen Diskussionen entstandene, rigoristische Einseitigkeit und Flachschichtigkeit hinsichtlich der drängenden Fragen unserer Zeit eingestellt hat, was mit sich bringt, daß Begriffe von Lebensnotwendigkeiten wie Wahrheit, Freiheit, Recht, Verantwortung zu einem unhistorisch behandelten Ramsch sanken. Diese Feststellung will nichts sagen gegen mitunter nötige zugeschärfte Polemik, doch deren Stärke steigt dimensional, hat sie als Hintergrund erkennbares Durchdachthaben, Abwägen (was nützt Provinzielles gegen Provinzielles). Sätze wie Gosses „Zu fragen ist also stets: Wie sehr muß noch Ungleichheit in der Machtverteilung sein, daß der Sozialismus vorankommt, und wie sehr, daß er vorankommt, darf sie noch sein?“ oder „Auf der Höhe jener Frage steht etwa Brechts Satz, es scheine ihm, daß wir nicht mehr befürchten müssen, die freiere Initiative des einzelnen könne dem Ganzen noch allzu schädlich sein; wir dürften uns nunmehr der Vorteile solcher Initiativen versichern. Mich besticht die tolerierende Behutsamkeit des Komparativs…“, verfaßt Anfang der siebziger Jahre, sind einfach zu selten zu lesen gewesen (und zu lesen), wiewohl heute mehr Deutlichkeit (des Wegs) als die angeführte Behutsamkeit bestimmend sein müßte.

4
In die Geschäfte des Lebens, der Gesellschaft, einzugreifen, mit ganzer Stimme, mit ganzem Werk, hat weder etwas mit Fürstenerziehung noch mit aktionistischen Romantismus zu tun, es ist Amt des Dichters, ist Amt auch des Dichters. Aber wie? Eine der, merkwürdig, seltsamsten Haltungen ist offensichtlich die des kühnen kompromißlerischen Pragmatismus, wie ihn Gosse in der eingangs zitierten „Munterung an Dädalus“ anruft; die Taktik, ohne die keine Strategie geht, das zielbewußte Lavieren, ein überblicken der Situation, das „harthalsig flexibel“ ist, ein Sicheinlassen ins Geflecht der Politik, ohne sich zu zerfasern oder zerfasern zu lassen, der schmale Grat zwischen dem Versacken im Alltag und der Utopie schön verführerischer Gipfel, zwischen Amok und Demokratismus. Nicht das Mittelmaß also wird gepriesen, sondern das mittlere Maß, des Mittlers Maß; und nur wer ein blasses Verhältnis zu seinen Idealen hat, muß fürchten, sie solcherart zu verlieren, auch aus den Augen, nur wer die eigenen Richtlinien mit Illusionen verwechselt, redet ständig darüber.
Diese Einsicht meint nicht einzig die Haltung zur geläufigen Welt, sie zielt, entscheidender, auf ein Programm, dies rückwirkend auf die Haltung: Im letzten Drittel des Gedichts werden mehrfach Namen- und Begriffspaare genannt, die für Extreme stehen, die, zwischen sich, ein schmales Schlupfloch in die Zukunft lassen (müssen).

5
Aber erst, da Gosse zeigt, daß Pragmatismus eine schwer zu erringende, bürdende Last bedeutet (bedeuten kann), wird dieser Text groß. Denn nicht dem läppisch-karrieristischen oder von Angst diktiertem Kalkül gehört das Primat, sondern der unter fast unmenschlichen, selbstverleugnenden Bedingungen zu gewinnenden Erkenntnis, die noch dazu dem Protagonisten vom Autor aufgeschwatzt werden muß. „Trauere, / doch traure knapp:“ das ist der Springpunkt des Gedichts; „Bete kurz! denn Zeit ist Geld“ (Herwegh) war ein Ratschlag der sich nicht mehr einließ auf einen Konflikt, der voraussetzte: dieses Traditionsmoment, dieser Ritus ist überflüssig, seine Negierung schon keine mehr. Aber Gosses Daidalos hat einen zerreißenden Abnabelungsprozeß durchzustehen, eine ungeheuerliche Anstrengung: Er hat sich in ein sinnvolles, die Sinne beschneidendes Gefüge einzubinden – schaffte er dies nicht, hätte er nicht, was den Menschen macht, schaffte er dies leicht, verdiente er nicht, so genannt zu werden. (Das Zugestehen von Verständnis, „Trauere“, wird ausschwingend ausgeschrieben, die Aufforderung, der Befehl, die Bitte wird auch verbal kurz gehalten.)
Und der Bruch wird unermeßlicher durch die diesem Satz vorangehende zweite Strophe: der Autor läßt Daidalos in quälender, die Konstellation brisantierender Weise die Lüste des Ikaros nachempfinden, der Sonne, Symbol des Glücks, der Wärme, näher als je einer gewesen zu sein und das Meer, „steigend, in seiner atmenden fliedernen Ganzheit“, gesehen zu haben. Wer jetzt die Kraft hat, das Seinige zu tun, hat alles erfahren. Gosse berichtet dies nicht, er wünscht, anrufend, es.

6
Die entscheidende Szene der Überlieferung erzählt sich so: Daidalos, nach einer Flucht von Athen auf Kreta lebend, hatte den anfänglich freundlichen, inzwischen tyrannischen König Minos satt und Sehnsucht aufs Festland, die zu erfüllen ihm verwehrt wurde. An illegalen Grenzübertritt denkend, brachte langes Brüten endlich Erfolg. Durch die Luft will ich davongehen, sagte er laut Gustav Schwab, und begann Federn mit Leinfäden und Wachs zu Flügeln zu richten, auch für Sohn Ikaros. Den ermahnte er vorm Abschwirren, sich zwischen Himmel und Wasser die sichere Mittellage zu eigen zu machen (daß nicht das Meer die Fittiche mit Feuchtigkeit schwert, daß nicht das Gefieder, sonnennah, Feuer fängt).
Während des Flugs blickte der Vater wieder und wieder zurück, zu sehen, wie sich das Söhnchen hält; und einige Zeit ging’s gut. Dann aber, im Rausch der Leistung, gewann Übermut Oberhand, und Ikaros stieg unendlich; bis Sonnenstrahlen das Wachs weichten, die Flügel zerflattern ließen, den Kühnling stürzen.

7
In Imre Trencsényi-Waldapfels Nacherzählung findet sich folgender Stachel: „Fliege in der Mitte und meide jede Übertreibung. Du brauchst auch die Sterne nicht zu prüfen, um dich zurechtzufinden, es genügt, wenn du mir folgst.“ – Wie sollte, nach derartiger malmenwollender Ermahnung, der Schüler/Sohn nicht ausbrechen? Zwangsläufig heißt es bei ihm später, daß „der Knabe… seinen Führer überholte und… immer höher flog“. Das ist ein anderes, leicht festzumachendes Vokabular, das ist eine andere Dimension.

8
Zu dem uralten Traum, über sich hinauszukommen, über die eigene Befindlichkeit (transparente Variation: durch die Lüfte zu segeln), nehmen mannigfaltig Sprichwörter und Redewendungen Stellung, und dieses, es wäre noch kein Meister vom Himmel gefallen, ist schön verschieden zu lesen. Einseitiger, die Bibel variierend, bleibt da: Wer sich (zu) hoch erhebt (fliegt), wird tief fallen – eine Volksweisheit, die Natürlichkeit (natürliche Erfahrung, Empfindung) wie Beschränkung deutlicht. Es ist die Art von solidarischem Verständnis, die Marx wie Lenin das Tradeunionistische in der Arbeiterklasse nannten.

9
Brechts Kinderlied „Der Schneider von Ulm“, geschrieben im Exil, scheint schlichten Gemüts: Der Handwerker erklärt dem Klerikalen, daß er fliegen kann, und stürzt sich vom Kirchdach zu Tode; nun geht der Bischof herum und verkündet, der Mensch ist kein Vogel, er kann nicht, gottähnlich, fliegen, nie. – Wir, die wir wissen, er kann’s (mit Hilfe technischer Geräte), haben die Lehre bekommen, daß sich alles ändern kann. Diese Tendenz wird verstärkt durch das Genre: Der Hinweis wird gesagt in einem Kinderlied, jedes Kind versteht ihn, weiß ihn längst, es ist die blanke Bestätigung.
Aber das hieße doch, Brecht stellte sich hinter den Schneider, machte ihn zum Vorreiter des Flugwesens, der Befreiung aus der Enge des Irdischen. Doch warum läßt er den Todeskandidaten, der sich seiner Sache unsicher sein muß, vor der Tat, und vor dem Sachverwalter Gottes, mit seinem Versuch pranzen, läßt ihn in schwindelnde Kirchenhöhe steigen „mit so ’nen Dingen / Die aussahn wie Schwingen?“ Blödsinnigkeit ist es, Eitelkeit, selbstmörderische Provokation. Und der Bischof hat tatsächlich recht, der Vorgang liefert ihm erneut das Argument: Der Mensch ist kein Vogel, er kann nicht fliegen. Ein Satz, der im Augenblick stimmt, und für lange Zeit.
Allerdings, beide sind im Unrecht, Schneider wie Bischof: Denn es geht um eine untaugliche, unreif vorbereitete und geführte Übung und um eine Wahrheit, die als ewige verbreitet wird. Brecht, der sich aus einem personalen Engagement heraushält, der nur die Fakten, wie man so sagt, sprechen läßt, der nicht die Schilderung des Sprungs (Flugs) braucht, der ihn nur als Tatsache benutzt, gibt uns die Hoffnung, daß selbst einstige (jetzige) Schwachköpfigkeiten, wenn sie mit den Sehnsüchten, den Bedürfnissen der Menschen zu tun haben, ihre sinnvollen Weiterführungen nach sich ziehen werden. Niederlagen als Lernbeispiele.

10
Das vielfach auslegbare, zur Variation oder Entgegensetzung reizende Motiv: Becher, um 1940, sieht Ikaros als den Aufsteigenden, den Weltraumeroberer, und es ist, als ob ihm die Menschheit folgt, die sich dann teilt, zerstreitet, und eines Tages blieb (von dem Alleingelassenen-Höherfliegenden) nichts zu sehen als Flügel, auf den Wellen treibend; Hermlin, 1944, spricht schon im Titel vom Gefährten, später vom Geliebten, der den „Wind des Erinnerns“ in die verwaiste, zerstörte Welt trug, ins „äscherne Haus der Nacht“, und eine an Expressionisten und Surreale gemahnende Todessehnsucht wird übermächtig, im „feurigen Regen“, dort, „wo die Höhe befreit“, zu verweilen. Zwei Dezennien später stellt Kunert in Frage, daß sich das zivilisationsbelastete Individuum aus seinen Niederungen noch zu erheben vermöchte: „Dennoch breite die Arme aus und nimm / einen Anlauf für das Unmögliche.“ (Der erste Vers schließt mit jenem Wort, das Synonym ist für die Tätigkeit, die wirkliche Eroberung ausschließt.) In etwa dieser Zeit läßt Kahlau den im Wasser Versinkenden seinen letzten Wunsch mitnehmen: „Gebt mir meinen Himmel wieder her!“ Dem erwidert Kirsten ein Halbdutzend Jahre darauf mit seinem „icarus bucolicus“, einem Agrarflugzeugpiloten: „himmel, tu dich auf / gekörntem kalkammon!“ Und die letzten Meldungen von immer noch Fliegenden bzw. Phönixgleichen erreichten uns von Berkes (1976): er nimmt den Gefiederten her für verschiedene Versionen, die sich ihm gleichermaßen anbieten und, behauptend, nebeneinander gestellt werden. Einerseits: „… ich fliege. Da weicht kein wachs, die federn entflattern nicht, aber ich falte die flügel und stürz mich zurück in die irdische tiefe“, andererseits, ungenannt Brueghels Bild anrufend, gibt er sich (an)klagend wie bewundernd: „Das unglück bleibt am rand und unbemerkt von bauer, angler, hirt versinkt der junge. Er flog zu hoch hinaus. Er sah die welt wie nie.“ (Ambivalenzen oder Gegenfragen werden nicht angespielt, zum Beispiel inwiefern das Utopistische mit Recht von den Tätigen unbemerkt bleibt, oder was jemand, der zu hoch flog, von der Welt wirklich sah. – In einer gerade erschienenen Variante fragt Berkes, warum dieser Jüngling, kopfüber Bein zeigend, überhaupt Ikaros sein muß: wäre er’s nicht sondern etwa ein harmlos Tauchenwollender, die Idylle wäre vollkommen; der kleine Traum abends von einem Schiff würde nicht stören.) Seine dritte Möglichkeit einer Position ist die, in den vorherigen Beispielen schon angedeutet, nun in die Konsequenz geführte des sich entfernend Einsamen, des Aufsteigers um nichts (ins Nichts), der bloßen Geste: „Bitter ist, nichts zu finden. (…) Es lähmt verzweiflung den flug, die glieder erkalten, ich ließ mich fallen. In sausender luft fühlte ich: mich.“ (Im „Nachsatz“ zu Berkes’ Buch spricht Reimann davon, daß Fliegen schwer ist und mehr, als aus den Gravitationsgesetzen auszubrechen. Denn es hieße zugleich, die Höhenangst zu besiegen und aufzusteigen trotz so vieler Stürze. So leicht sein sei das Schwerste. „Aber Ikarus ist über der Stadt und zieht seine schönen Figuren:“ da ist Berkes, die Anspielung beiseite, schon weiter gewesen als sein Nachsätzer.)
Diese Teilaspekte sublimierte Arendt in der „Ode IV“ (1956) am deutlichsten – im Verhältnis zu den Genannten – zur Darstellung von weiterführend Sozietärem, dem Mythos motivisch am nächsten bleibend, gleichzeitig in meditativer Distanz. Er suchte, im Gegensatz zu den anderen, nicht den unmittelbaren Kontakt zur überkommenen/seiner Figur, legt sich nicht auf, achtet, auch stilistisch, die Legende. Ehe er auf Ikaros’ Haltung und Schicksal eingeht, setzt er den Versucher, den Forschenden, den Entdecker, den Wissenden frontal:

… Je höher du
je tiefer du dringst und es pochen
um dich die Herzkammern des Alls gewaltiger,
um so schmerzender muß, bis ins Innerste
abgründig deine Helle sein.

Daß diesem Selbstverständnis, fern jeder Spontaneität, zur Selbsterhaltung eine Festigkeit zugehört, die bis zum Abgründigen von alles ausgeleuchtet, erfahren habender Wahrheit ausgefüllt ist, bis zur Starre („leisestes Schwanken“ bedeutet Vernichtung), wird als bittere wie einzige Möglichkeit angeboten.
Dem steht das sinnlose, selbst spurenentbehrende Verlöschen (im Sein) des Hohefliegers entgegen :

Wie die Mohnblüte
der unsterblichen Liebe
in Flammen verhaucht: aschenlos –
Ikarus, dein Erkennen war.
Greifen ins Leere!

Jedoch bleibt dieses Weggehen ins Nichts nicht ohne eine Narbe im (Unter-)Bewußtsein, im Transzendentalen: dieses Verschwinden ist wie ein Partikel, Symptom, Symbol der „unsterblichen Liebe“, der Sehnsucht; so wird die neuerliche Umkehrung der Betrachtung des Falles – in der folgenden Strophe – vorbereitet, die Zwangsläufigkeit insistiert, die die Gesellschaftlichkeit plötzlichen Ausbruchs, auch des Amokläufers, einschließt, die das Nur-Kontemplative abschreibt (warten da auch „nackengewaltig“ die Stiere), es ist das Liebknechtsche „Trotz alledem“:

Und dennoch! um wieviel geborener stündlich
zu leben ist’s an Gestaden, hell von Traum
und Zeugung, denn im Todesgedörn
der alten Angst…

11
In seiner Götterlehre (1791) erläutert Karl Philipp Moritz (mit einem besonderen Kommentar), warum Daidalos (nur diesem ist ein Kapitel gewidmet, nicht Ikaros) nach Kreta fliehen mußte, sich dort in einen goldenen (zum Schluß eisernen) Käfig begab, aus dem er mit seinem Sohn zu entkommen suchte: Daidalos hatte eine neue Kunstepoche eingeleitet (seine Bildsäulen erzeugten den Eindruck, sie bewegten sich), und sein Ruhm war groß; sein Schüler/Neffe Talos, Erfinder der Säge, der Töpferscheibe und vermutlich weiterer Handwerkzeuge, schmälerte, so glaubte dieser, die bisher nur ihn meinende uneingeschränkte Bewunderung, und er stürzte den Jüngling vom Felsen. Moritz schrieb: „Der grausamste Künstlerneid war schon mit der ersten Entstehung der Kunst verwebt.“ Das hinderte Kretas König Midas nicht, Daidalos alle Unterstützung zu gewähren: Minos hatte, wie er dachte, selbst genügend zu verbergen, nämlich das Fremdgehen seiner Frau mit einem Stier, dem der Minotauros entstammte und für den Daidalos ein verschleierndes Labyrinth zu bauen hatte. Ein Pakt also, im herkömmlichen Sinne, zwischen Künstler und Politiker, Schöpfung und Macht (ich lasse unbedacht, inwieweit Schöpfung, mitunter, auch Macht und Macht, mitunter, auch Schöpfung sein kann oder könnte).
Da erscheint Daidalos in einem anderen Licht des Pragmatismus. Aber ob Gosse diese Vorgeschichte einschloß in seine Erwägungen oder nicht, es bleibt das Sinnvolle von Daidalos’ Flucht-/Flugversuch und das Sinnlose, Egoistische von dem des Sohns. – Mythos ist eben nicht Mystik, sondern kraftvolle, von den Gegen-Sätzen des Lebens gespeiste Darstellung. Moritz schrieb, antikatholisch: „Sie (die Phantasie! des Mythos; M. J.) scheuet den Begriff einer metaphysischen Unendlichkeit und Unumschränktheit am allermeisten, weil ihre zarten Schöpfungen, wie in einer öden Wüste, sich plötzlich darin verlieren würden. Sie flieht den Begriff eines anfanglosen Daseins; alles ist bei ihr Entstehung, Zeugen und Gebären, bis in die älteste Göttergeschichte. Keines der höheren Wesen, welche die Phantasie sich darstellt, ist von Ewigkeit, keines von ganz unumschränkter Macht. Auch meidet die Phantasie den Begriff der Allgegenwart, der das Leben und die Bewegung in ihrer Götterwelt hemmen würde.“

12
Dieses Gedicht Gosses ist nicht sein bestes; aber es ist eines seiner wichtigsten. Zu Beginn der siebziger Jahre geschrieben, zeigt es prägnant eine Umbruchphase, die Hinwendung von der Illusion (einer raschen Welteroberung) zur Realität (einer zähen, alle Kraft und Klugheit brauchenden). Die auf der Strecke Gebliebenen, wie der Volksmund so hübsch sagt, die nicht vermochten (die Möglichkeit sahen), Ideal und Wirklichkeit in produktive Fusion zu bringen, bilden den ausgesprochenen Hintergrund.
Die Sentenz des Textes erwächst nicht aus einer sich organisch entwickelnden Szene, sie wird, stufenförmig sich weiternd, dem Gemeinten rhetorisch angetragen (jedoch in ziemlich, wie die Germanistik sagen würde, sinnlich-konkreter Rede); nicht einmal die angedeutete Situation eines Dialogs ist da, vielmehr etwas wie lautes Denken aus der Distanz, der Ferne (und wie aus Unglaube ob des Erfolgs). Das hat mit Lehrstückcharakter zu tun, der auf Abstrahierung und Typisierung aus ist (auf Ambivalenz im Vortragsvorgang wird verzichtet, um die Dringlichkeit der These, des vorgeschlagenen Weges, im ambivalenten Umfeld hervorzuheben). Dies bringt es mit sich, daß im letzten Drittel des Textes das Didaktisch-Deklamatorische Überhand gewinnt, besonders durch das Erinnern von Che und Dubcek als Stellvertreter von Richtungen wird das Gefüge verletzt: Gosse braucht offensichtlich diese Zuspitzung, um seine Erfahrungen nicht in allgemeiner Moralität versinken zu lassen, und daß er sie braucht, ist der Mangel.
Größeres Bedenken allerdings ruft der Mythos als literarischer Vorwurf herauf: Die in den antiken Legenden Agierenden bewegen sich, trotz aller erdnaher Gesetze, in einem Freiraum, wie er Auserwählten zugehört, ihre Tatmöglichkeiten sind nicht eingeschränkt von den Zwängen, die das Leben jedes Plebejers ausmachen. Dies ist die Schwierigkeit für Autoren, die die sozialistische Demokratie ernst nehmen. (Wiewohl die jahrtausendelang vorgeführten Könige nichts waren als die Folie wesentlicher menschlicher Probleme: Der Thronsaal war, mit mehr oder weniger Mühe, wahrscheinlich mit noch mehr Mühe als heutige politische Ansprachen, in die heimische Küche, wenn es eine gab, zu projizieren.)

13
Freilich, es ging hier nicht (nur) um Pragmatismus, es ging um die Möglichkeiten und Notwendigkeiten, das Mögliche und das Notwendige auszufüllen; um die herbeizuzerrende, zu beschwörende Oszillation von Augenblick und nächstem Schritt, Realität und denkbarer, beinahe ersichtlicher Utopie, um nicht mehr als die ewige Frage: Was tun und wie?, um nichts weniger.

Manfred Jendryschik, neue deutsche literatur, Heft 5, Mai 1982

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00