Marcus Roloff: Zu Rainer Malkowskis Gedicht „Kugelgedicht“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Rainer Malkowskis Gedicht „Kugelgedicht“ aus dem Sammelband Rainer Malkowski: Die Gedichte. –

 

 

 

 

RAINER MALKOWSKI

Kugelgedicht

Früh ein Gegenstand der Erkenntnis.
(Archimedes, in Syrakus)
Früh etwas, das fliegt,
fast so schnell wie Gelächter,
zwischen Mädchen mit offenem Haar.
Früh etwas, das tötet.
Eine Frucht, ein Entsetzen.
Die Gestalt
der Erde.

 

Die Welt ist ein Ort, an dem täglich Leute spurlos verschwinden, auf jede denkbare und undenkbare Art gequält und getötet werden – Verbrechen ohne Zahl. Kein guter Ort. Die Stoßkraft der Gewalt bezieht sich aus etwas, das sich seit der Erfindung von Schießpulver und Feuerwaffe Munition nennt. In der Kugel, als Munition, liegt der Anschlag, der Ruck, der durchs Gefüge geht, verdichtet beschlossen. Sie ist der Nukleus, der die Ladung enthält, welche die Luft zerfetzt. Wenn es nur Faustschläge wären oder der Ringkampf, die als Entscheidungshilfen im Konfliktfall fungierten, gäbe es nicht die horrenden Opferzahlen, die uns täglich aus den Nachrichten entgegenschlagen.
Es ist dieses Ding, das der Menschenverstand erfunden hat, man rüstet sich – techne – mit Instrumenten aus, um Effektivität zu erreichen, denkt sich Mittel aus, um die Reichweite der eigenen Faust zu übertreffen. Bis hin zur Auslöschung der Spezies Mensch ist spätestens seit Hiroshima und Nagasaki nichts undenkbar geblieben. Die Kugel enthält all das, die Kugel ist das perfekte Ding, das perfekt geformte Behältnis, in dem sämtliche Zerstörungsphantasien Platz haben.
Rainer Malkowski (1939 bis 2003) widmet ihr ein Gedicht, das selbst ein Gefäß ist, welches, so überbordend es klingen mag, auf knappstem Raum Menschheitsgeschichte enthält – und zwar die des Menschen als gewalttätigem Subjekt. Aus dem „Früh“ der ersten Zeile, in der eine erdgeschichtlich entlegene, prähistorische oder auch antike Frühe um 250 vor Christus anklingen mag, wird ein schlichtes „Früh“ der Tageszeit. Vom allgemeinen schönen wissenschaftlichen Erkennen nimmt das Gedicht den Weg zu einer Szenerie, die ein Morgen auf einem belebten Marktplatz sein könnte – kurz bevor er von einem Angriff zerrissen wird.
Der Erkenntnisgegenstand befindet sich im Zustand seiner praktischen Nutzung und fliegt „fast“ so schnell wie Gelächter durch den Raum. Realiter verhält es sich allerdings genau umgekehrt, die Kugel ist dem Schall voraus. Diese Verzögerung im Gedicht ermöglicht es, eine Sekunde lang innezuhalten und die Szenerie als Standbild auf sich wirken zu lassen. Der Klick kurz vor dem Entsetzen. Spätestens nach dem dritten Lesen stellen sich bei mir Bilder ein aus dem belagerten Sarajevo, von durch Bomben zerstörten Marktplätzen in Bagdad oder Kabul, und etwas später auch von dem aus 486 Frames bestehenden Zapruder-Film (John F. Kennedy in Dallas, 1963). Dass nichts davon wortwörtlich im Gedicht selbst steht, scheint mir eine seiner Stärken zu sein. Eine weitere ist für mich, dass das, worauf das Gedicht zuläuft, so grundsätzlich wie simpel ist, denn die Kugelform hat es in sich, mikro- wie makrokosmisch.
In einem „Fragmentarische Auskunft. Selbstporträt, ein Versuch“ überschriebenen Text von 1985 schreibt Malkowski über die Abbildungskunst, genauer über Porträts und Selbstporträts:

Die Komplexität der dargestellten Person bleibt immer auf der Strecke… sind weniger eine individuelle Seelenauskunft über den Maler als vielmehr ein Widerschein des Lebensrätsels.

Übertragen auf Gedichte, wäre dieser Gedanke der überpersönlichen Unschärfe und nicht eindeutiger Verweise womöglich als poetologisches Programm zu lesen, das Malkowski im Kugelgedicht auf minimalistische Weise realisiert hat.

Marcus Roloff, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.12.2015

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