Mehrsprachige Gedichtbücher aus dem Verlag im Wald

Mehrsprachige Gedichtbücher aus dem Verlag im Wald

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Delta der Lyrikverlage“

Im Delta der Lyrikverlage

Waldeinsamkeit,
Die mich erfreut,
So morgen wie heut
In ewger Zeit!
O wie mich freut
Waldeinsamkeit!

LUDWIG TIECK

In den Tagen und Wochen nach der Publikation von Ohne Punkt & Komma, in dessen zweitem Teil ich zahlreiche neue Gedichtbände aus den 1990er Jahren zumindest kurz vorstelle, fiel es mir schwer, mich von dieser liebgewonnenen Art zu trennen, im Anschluß an die Lektüre das Gelesene am Computer schriftlich Revue passieren zu lassen. So dachte ich beispielsweise bei Hans-Ulrich Treichels Lyrikbänden Seit Tagen kein Wunder (Suhrkamp, Frankfurt am Main 1990) und Der einzige Gast (Suhrkamp, Frankfurt am Main 1994), wie gut Zitate von Gedichten aus diesen Büchern dem meinen noch getan hätten. Um wieviel mehr jedoch bedauerte ich, daß die überraschende Büchersendung vom Rimbacher Verlag im Wald mit Lucien Wasselins zweisprachigem Gedichtbuch Voix Obscure (1999) mich nicht ein paar Monate früher erreicht hatte, lernte ich hier doch einen Verlag kennen, dessen mehrsprachige Art mich sogleich ganz besonders ansprach. Mit der Bitte um Besprechung und der Klage, wie schwierig es sei, in Deutschland als kleiner Verlag rezensiert zu werden, [Rüdiger Fischer vergleicht die Situation mit der in Frankreich, wo die Bücher seines Verlags zehnmal so oft besprochen werden wie hierzulande! Im Kapitel „Kritiker in der Kritik“ äußere ich mich ausführlich zu dem schwerwiegenden Problem zahlreicher Kritiker, weite Landstriche deutscher Literatur, in deren unwegsamen Falten und Höhlen Hunderte von kleinen Verlagen mit ihren unzähligen Büchern verschiedenster Autoren nisten und hausen, schlicht zu ignorieren. Im Zusammenhang mit dem Verhalten dieser parasitären Spezies gegenüber Günter Grass (vor und nach dem Nobelpreis) bezeichnete ein Lyriker (der auch Kritiken schreibt) die negativen Beispiele dieser Zunft als „Geschmeiß“.] wandte sich Verleger und Übersetzer Rüdiger Fischer an mich. Axel Kutsch hatte ihm meine Adresse gegeben. Die Tonart seines Briefes gefiel mir. Ich las das Buch, war begeistert und schrieb Fischer umgehend als Antwort, daß mich Voix Obscure so gefesselt habe, daß ich durchaus Lust hätte, ein Porträt seines Verlags, der mir bislang gänzlich unbekannt gewesen sei, zu schreiben. Leider sei mein Buch Ohne Punkt & Komma soeben erschienen, in dem ich den Verlag im Wald / Éditions en Forêt gern vorgestellt hätte, aber ich würde nun einen selbständigen Aufsatz über seine verlegerischen Aktionen schreiben, der unter günstigen Umständen auch ein Kapitel eines möglichen neuen Buches werden könnte. [Ich hatte mich in letzter Zeit wieder einmal mit Problemen beim Übersetzen von Lyrik beschäftigt, und so kam Fischers Sendung gerade zum rechten Zeitpunkt. Ich glaube nicht an Zufall oder doch: „Zufall ist, was mir zufällt“, betont Max Frisch, der es von den alten Griechen hat.] Am 7. August 1999, knapp drei Wochen nach meinem Brief, hält Postbote Guido mir ein schweres Paket entgegen. Sie können sich, liebe Leser, meine Euphorie vorstellen, Buch um Buch aus dem Karton des Verlags im Wald auszupacken. Erst nach dem 35. Exemplar ist dieser leer. So glaubte ich nicht nur, ich sei im Walde, sondern war es ja – und das in doppelter Hinsicht: Schließlich lebe ich hier im Nationalpark Eifel, ringsum von Bäumen umgeben.
Bereits die allererste Begegnung mit einem Gedichtbuch versetzt mich in meine liebste Stimmung: die lyrische. Das neugierige Blättern vorne, in der Mitte und hinten im Buch, das Betrachten des Umschlags, die Freude über einen originalen Holzschnitt von Heinz Stein, den ich in dem besonders gelungenen blauen Buch Le Grillon Bleu / Die blaue Grille von Jacques Canut entdecke, in dem ich mich sogleich festlese, das Gedicht

Mit dem Ideal auf der Schulter,
stolpere ich über die Wirklichkeit,
halte mich fest am Geländer
der Dichtung.

Mit kleinen Flügeln an den Achsen der Wörter
gelangt man in ungeahnte Länder

sehr ansprechend finde und mich frage, ob Canut wohl damit einverstanden ist, wenn der Übersetzer Rüdiger Fischer „personnalités“ mit „hohe Tiere“ übersetzt, die Überraschung, auf dreisprachige Titel zu stoßen und vieles andere mehr. Ich sortiere die Bände nach den drei Reihen „Wege und Stimmen“, „Pfade“ sowie „Quellen“ und stelle am Ende fest, für mehr als einen Monat Lesestoff vor mir liegen zu haben – und zwar lauter Bücher, deren Autoren mir bislang wenig bis nichts sagen (mit der Ausnahme des hochgeschätzten Pierre Garnier, von dem ich bereits eine Reihe von Titeln besitze). In seinem Begleitschreiben bedankt sich Rüdiger Fischer im voraus für die Mühe, die ich mir mit seinem Verlag machen würde, und ich denke kopfschüttelnd: Mühe, Mühe, wenn der Mensch wüßte, wieviel Freude er mir bereitet hat mit dieser Sendung. Und so packe ich ebenfalls eine Büchersendung zusammen: Ja, er soll eins der 27 Exemplare des Künstlerbuchs Momentmale (edition bauwagen, Itzehoe 1999) erhalten, dazu noch Der blaue Schmetterling (Corvinus Presse, Berlin 1994) und natürlich Ohne Punkt & Komma (Wolkenstein, Köln 1999). Leserinnen und Leser, die mich schon etwas länger kennen, wissen, wie gern ich Kunst und Literatur auf dem Postweg tausche, um auf diese Art kommunikative Begegnungen in Gang zu setzen, von denen wir im Prinzip gar nicht genug haben können. Der kreative Austausch von in verschiedenster Hinsicht gut gestalteten (Künstler-)Büchern aller Art gehört für mich dabei zum Schönsten, was ich in der kontaktfreudigen Welt der Mail Art kennengelernt habe.
Das Buch, das vom Format her komplett aus dem Rahmen fällt – es mißt 8 x 11 cm – ist Daniel Leducs Le Livre des Nomades / Das Buch der Nomaden, und so entscheidet sich von selbst, welches der Bücher ich als erstes lese:

Wir säen
manchmal
Lächeln aus
und gemurmelte
Worte

Ohne
zu wissen
ob es je
eine Ernte
geben wird

Sämtliche der ca. einhundert (acht- oder neunzeiligen) Gedichte sind in dieser archaischen Tonart geschrieben. Auffallend: Alle Gedichte beginnen mit dem Pronomen „wir“. Le Livre des Nomades ist ein Buch von 200 Seiten, das ich zunächst wie ein Daumenkino „durchrast“ habe – erst beim zweiten und bedächtigen Lesen habe ich mehr als einen Blick auf die französischen Originale geworfen. Davon abgesehen, daß mich die wie deutsche Gedichte anmutenden Übertragungen stark ansprechen, liegen Probleme des Übersetzens gleich bei oben zitiertem Gedicht auf der Hand. Bitte vergleichen Sie:

Nous semons
parfois
des sourires et des
murmures

ignorant
si la récolte
ne se fera
jamais

Vor allen Dingen der letzte Vers eines Gedichts ist ja stets von größter Bedeutung. Leduc hat hierhin – für sich allein – das ausdrucksstarke Wort jamais gesetzt: niemals! Und was ist daraus in Rüdiger Fischers Version geworden? Hat er etwa zu sorglos übersetzt? [Die Frage hat rein rhetorischen Charakter und gibt die negative Antwort selbst. Auch bei der Lektüre des nunmehr 20. Buches – Pierre-Bérenger Biscaye, Näher am Herzen von Esprels (1991) – aus der erwähnten Sendung verstärkt sich weiter der Eindruck, daß hier ein Übersetzer und Verleger am Werk ist, der die Literatur liebt. Der bukolische (und wunderbar sinnliche!) Charakter dieser Gedichte, in denen allerdings auch die Schatten nicht verschwiegen werden, wird kongenial nachempfunden, und das ist das Entscheidende. Die nicht immer gelösten Probleme bei der Erhaltung des ursprünglichen Zeilensprungs – einem der wesentlichen Faktoren des freirhythmischen Verses −, die bei den syntaktischen Unterschieden der Sprachen nicht so leicht in den Griff zu kriegen sind, oder die für mich nicht nachvollziehbare Entscheidung, zwei aneinandergereihte Adjektive in der Übersetzung mit „und“ zu verbinden, wiegen dagegen gering. Dennoch dürfen wir, gerade beim Gedicht, nicht vergessen: Auf jedes Wort kommt es dem Dichter an! So auch in dem schönen Gedicht, das ich auf Seite 19 des Buches lese:

Der Landmann hofft auf die Ernte
und der Dichter auf die Sammlung…
Man findet sie manchmal an einem Tisch
im Gasthaus des Dorfes,
sie reden ein wenig, zwischen zwei
sonnenbeschienenen Gläsern erwähnen sie
die Furchen der Worte, die die Dinge durchziehen.

Was der Übersetzer auch für seine Übertragung benötigt, ist Glück. So gibt es nun einmal für die französischen (alliterativ, klanglich, wortspielerisch eingesetzten) Wörter „récolte“ (Ernte) und „recueil“ (innere Sammlung), die die Eingangsverse im Original (zusammen mit dem Binnenreim terre/espère) „Líhomme de la terre espère / la récolte et le poète le recueil“ sowohl inhaltlich als auch formal außerordentlich dicht machen, meines Wissens keine direkten Entsprechungen: Oder haben Sie einen Vorschlag? (Eva Hesse hätte bestimmt einen: Ihr 2003 bei Rimbaud in Aachen erschienenes Büchlein Vom Zungenreden in der Lyrik vermittelt eine Reihe feiner Einblicke in die Werkstatt der professionellen Übersetzerin.) Jedenfalls erkennen wir bei dieser etwas genaueren Betrachtung, wie vorteilhaft die mehrsprachige Edition ist, in der sich der Verleger Rüdiger Fischer über den Übersetzer stellt und diesen outet: Das nenne ich ein Kommunikationsangebot an den Leser!] Hören wir in diesem Zusammenhang, was Heinz Piontek, der sich ja ebenfalls intensiv mit Gedichtübertragungen befaßt hat, zu den Problemen beim Übersetzen zu sagen hat:

Vor gut zehn Jahren habe ich selbst versucht, eine größere Auswahl von Keats-Gedichten zu übersetzen, vor allem seine Sonette und seine sämtlichen Oden. Da ich von meiner eigenen Arbeit gewöhnt war, Gedichte als etwas anzusehen, das sich zu einem Ende bringen läßt, brachte mich die prinzipielle Nichtabschließbarkeit von Gedichtübertragungen an den Rand der Schlaflosigkeit. Tag und Nacht prüfte ich Worte, Reime, die meinen Übersetzungen mehr und mehr Richtigkeit, Genauigkeit, Schönheit verleihen sollten. Hätte ich nicht eines Abends die Mappe zugeklappt und sie anderntags einem Verlag geschickt, ich weiß nicht, wohin ich gekommen wäre.

Ich selbst habe 1986 mit der Übertragung von Richard Burnsë Gedichtzyklus „Black Light“ begonnen. 1996 ist Schwarzes Licht im Bunte Raben Verlag (Lintig-Meckelstedt) erschienen. Dabei formulierte Burns in einem seiner zahlreichen Briefe (darüber hinaus besprach er noch über fünf Stunden lang Kassetten mit Hinweisen auf Feinheiten, Strukturmerkmale, Allusionen, Zitate usw., ganz zu schweigen von den beiden einwöchigen Arbeitsbesuchen, die wir einander in Sistig bzw. Cambridge abstatteten) das Phänomen Gedichtübertragung sehr griffig und bildhaft als „fuck between two languages“. [Wobei ich betonen möchte, daß dieser „fuck“ ein wahrhaftiger „Liebesakt“ sein muß, ein Akt zwischen (auch zur Demut bereiten) Partnern, die sich vollständig darüber im klaren sein müssen, daß es nicht um sie, sondern ausschließlich um das Medium geht, das sie verbindet (und das keinem von beiden wirklich gehört): das Gedicht! „Dafür gibt es andere [Anweisungen], die unter den Tisch gefallen sind, meine Arbeit hat Stück für Stück ihre Identität verloren, ich wurde besser oder schlechter gemacht, je nach Pokornys Empfinden und Vermögen“, sinniert in Jurek Beckers Roman Irreführung der Behörden (Hinstorff, Rostock 1973) der Held (ein Drehbuchschreiber) während seiner Diskussionen mit dem Regisseur. Ähnliches empfinde ich häufig beim Lesen von zweisprachigen Gedichtbänden – so beispielsweise bei der Lektüre von Seamus Heaneys Die Hagebuttenlaterne / The Haw Lantern (Hanser, München 1987) oder Pier Paolo Pasolinis Gramscis Asche (Piper, München 1980), in dem beispielsweise der Reim unterschlagen wird: „Traduttore traditore“ – „der Übersetzer verrät den Übersetzten“, sagt der Italiener, and more often than not hat er wohl recht.
Schließlich: der Übersetzer muß – bei aller Demut – auch skrupellos sein und seine Aufgabe mit einer gewissen kühlen Distanz tun. Es ist nicht in Ordnung, die derbe Sprache William Shakespeares in seinen Dramen oder Jerome D. Salingers in seinem Roman The Catcher in the Rye (Der Fänger im Roggen) (um ein älteres und ein neueres Beispiel aus den Bereichen Drama und Prosa zu benennen) zu schönen, wie es Schlegel und Böll getan haben, so dem deutschen Leser einen ziemlich verfälschten Eindruck dessen vermittelnd, wie diese Autoren „wirklich“ geschrieben haben. Ganz anders darf eine Form der „Übersetzung“ mit Original und Intention des Autors umgehen, die wir Parodie nennen. Hier wird der Autor grundsätzlich Opfer von Ironie, Sarkasmus und Zynismus; oft bleibt vom Original nichts übrig als das Äußere. Wo der Übersetzer Demut benötigt, um seiner Sache gerecht zu werden, ist es beim Parodisten (u.a.) der schnöde Hochmut, der ihn bisweilen Versionen schreiben läßt, die über das parodierte Original hinauswachsen.] Der „Fehler“, den ich beim Übertragen der Gedichte ein ums andere Mal beging, war, (vermeintliche) „Schwächen“ im Original zu verbessern. „You should translate what is there and not what ought to be there“, schrieb Burns mir zurecht, [„Der Versuch, Dichtung aus einer Sprache in eine andere zu übersetzen, ist ein unschätzbares Training für einen Dichter, und man kann nur hoffen, daß in jeder Generation immer wieder neue Übersetzungen von Homer, Aischylos, Aristophanes, Sappho und anderen gemacht werden.“ (Wyston Hugh Auden, Die Griechen und wir, in: Das Bewußtsein der Wirklichkeit, Piper, München 1989). Thomas Kling und Raoul Schrott gehören zu den Dichtern der Gegenwart, die höchst eigenwillige Neuübersetzungen alter Dichter versuchen. Allein die heftigen Streitgespräche zeigen, wie wichtig solche Arbeiten für das Fortkommen der Literatur ist: Wir brauchen diese literarischen Partisanen, die Öl in lyrische Feuer gießen, damit lichterloh flackert, was vielerorts nur vor sich hinschwelt. Der vielleicht originellste unter diesen ist der 1997 verstorbene Fritz Graßhoff (Muschelhaufen 37/1998 ist die letzte Zeitschrift gewesen, für die er Verse noch selbst zur Veröffentlichung bestimmte), der bereits in Die klassische Halunkenpostille (1964) gezeigt hatte, wo es mit den Römern und Griechen heutzutage lang zu gehen hat, und der in dem posthum erschienenen in jeder Beziehung exzellenten Buch Martial für Zeitgenossen (Eremiten-Presse, Düsseldorf 1998) noch einmal zeigt, wie man die Klassiker derart ins Bild rücken kann, daß selbst Lateinlehrer (im Nachwort) ins Schwärmen geraten: Es sind echte Martials, eben weil Graßhoff die lateinischen Epigramme martialisch behandelt.] und Ludwig Laistner, der kongeniale Übersetzer der Carmina Burana (Lambert Schneider, Gerlingen, 6. Auflage 1994) meint: „Es ist im Grunde die Aufgabe einer sorgfältigen Nachbildung, auch Unvollkommenheiten der Vorlage wenigstens in Form eines Äquivalents wiederzugeben.“
Bei allem Willen zur Perfektion: Mehr noch als der Dichter muß sein Übersetzer mit den Unzulänglichkeiten und Unvollkommenheiten leben – und der Leser auch. Ich jedenfalls bin dankbar für die Übersetzungen [Glücklicher Salvador Espriu, großer katalanischer Dichter, der griechische, lateinische, hebräische, englische, französische, deutsche, italienische, portugiesische, galizische, baskische, okzitanische, holländische, rätoromanische, schwedische und serbokroatische Gedichte im Original lesen konnte, in dessen Gedichtband Der Wanderer und die Mauer (Piper, München 1990) ich ein „in Gedanken an Goethe“ geschriebenes Gedicht finde, das wir ja auch als eine Art der Übersetzung ansehen müssen – ironischerweise kenne ich nur die deutsche Übertragung von Fritz Vogelgsang:

MORGENLIED

Wach auf, schon tagt es neu,
schon leuchtet
Frühlicht, das altgetreu
dir stille Wege weist, von Dunst umfeuchtet.
Nichts sollst du missen,
wandernd und schauend bis zum letzten Strahl.
Denn alles wird dir mal
im Nu entrissen.

Auch wenn ich kein katalanisch spreche: Bei diesem Gedicht, das von den Versen eines unserer größten Dichter inspiriert zu sein scheint, hätte ich gern das Original gelesen – ebenso bei dem extravaganten Wort „Blickbahnpein“, das ich an anderer Stelle vorfinde.] – hier Rüdiger Fischers −, die es mir ermöglichen, zumindest ein wenig Einblick in eine lyrische Welt zu bekommen, die mir ja ansonsten mehr oder weniger verschlossen bliebe. [Wobei der wesentliche Aspekt den Lesern, die das Original nicht lesen können, vorenthalten bleibt. Wenn wir sagen, wir „kennen“ einen Dichter, kennen wir ihn und sein Werk so lange nicht wirklich, bis wir die Gedichte im Original lesen: „Der ästhetische Verlust bei der Übersetzung von einer Sprache in eine andere ist immer ungeheuer groß.“ (W.H. Auden, „Die Griechen und wir“). Auf durchaus amüsante Art und Weise wird mir das in Anna Achmatowas Im Spiegelland (Piper, München, 1994) vor Augen geführt: Das Gedicht „Lied von der letzten Begegnung“ wird in vier verschiedenen Übertragungen angeboten: Zwei sprechen in einem Vers von „vier Stufen“, zwei von „drei Stufen“.]
Nun gewährt mir der Verlag im Wald einen weiten Blick über die Fluren der zeitgenössischen französischen Poesie, von der ich bislang wenig kannte und die mir ans Herz wächst: Francois de Cornière beispielsweise hat mir gestern mit seinen lyrischen Alltagsnotaten, die ich in seinem Band Longtemps après le soif / Lange nach dem Durst (1995) fand, den Abend verschönert:

KARUSSELL

es braucht gar nicht viel
ein Photo zwischen den Seiten
den Terminkalender
der in einer Schublade wieder auftaucht
ein Taschenmesser den Fetzen eines Briefes
den Namen auf einer Plattenhülle
das Licht auf einem Teppich
ein altes Karussell
das sich auf dem Deich im Oktober noch dreht
während die Muttis darauf warten
daß die Flut zurückkehrt
daß ihr Strickzeug fertig wird
und daß der Schatten sie aufstehn läßt
zu früh es war so angenehm
vor der letzten Fahrt

Und heute morgen beginnt die lange Bahnfahrt von der Eifel nach Köln gleich mit einem Paukenschlag, als ich den Gedichtband Mémoire du Mal / Erinnerung an das Böse (1998) von Yves Heurté aufschlage: „Die Dichtung ist stärker als die drei stärksten Dinge: das Böse, das Feuer und der Sturm (…). Aber was ist Dichtung? Darüber sagt das Sprichwort nichts.“ Diesen Aphorismus von Georges Perros hat der 1926 geborene Heurté Gedichten vorangestellt, die vor nichts haltmachen. Und statt mich durch den gelungenen Aphorismus verleiten zu lassen, mich wieder einmal mit der Frage zu befassen, was denn überhaupt ein Gedicht sei, [Je länger Gedichte geschrieben werden, um so vorsichtiger werden die poetologischen Definitionen des Begriffs „Gedicht“, dessen Facettenreichtum mit einer Begriffsbestimmung schon längst nicht mehr transparent gemacht werden kann.] vertiefe ich mich lieber in diese Verse, die bei aller Schonungslosigkeit auch (ein bißchen) optimistisch sind:

Auch wenn uns Dichtern
kaum Flügel noch Worte bleiben
am Ende des Jahrtausends,
bleibt uns, eine Welt zu entziffern,
der das alles egal ist!

Es ist eine ungewöhnliche Leseeinstellung für mich, daß ich en bloc Lyrikbücher von Menschen lese, deren Namen auf den Umschlägen mir so wenig sagen (und die in Frankreich sicherlich sehr bekannt sind). [Die Mehrzahl der Publikationen ist französischen Ursprungs, daneben gibt es Autorinnen und Autoren aus Belgien, Griechenland, Italien sowie den USA.] Wie anders ist das, wenn ich das Buch eines mir bekannten Dichters oder gar eines international berühmten „Klassikers“ lese: weißes Feld statt labelling effect (von Pierre Garnier, den ich im Kapitel „Sistiger Favoriten“ vorstelle, und Stéphane Mallarmé abgesehen).
Wie stets bei schön empfundenen, über einen längeren Zeitraum andauernden Tätigkeiten spüre ich ein paar Tage vorher die Wehmut bei dem Gedanken, daß ich die Büchersendung aus dem Verlag im Wald bald bewältigt haben werde; gleichzeitig sprechen die Wörter eine andere Sprache: „bewältigen“ vermittelt Konnotationen wie: „Endlich!“ oder: „Geschafft!“
Elles habitent le soir / Sie bewohnen den Abend ist der 1999 von Casimir Prat erschienene Lyrikband tituliert, der u.a. auch die bibliophile Note, die zum editorischen Programm des Verlags gehört, auf betont schlichte Weise hervorhebt. Wie in allen vorherigen Bänden fällt mir wieder der (unnachahmliche?) sinnliche Ton der französischen Lyrik auf, ein Ton, der in vielen zeitgenössischen deutschen Gedichten entweder fehlt oder künstlich wirkt. Und bis auf die seltenen Abweichungen vom Original, die ich für hinterfragenswert halte, [So entscheidet sich Fischer immer einmal für das Hyperbaton, wo der Dichter eine ganz natürliche Syntax pflegt: „La lumière est-elle sainte?“ wird zu „Ist heilig das Licht“? Warum nicht einfach und analog: „Das Licht – ist es heilig?“] gelingt es dem Übersetzer wieder, diesen Ton einzufangen und herüberzubringen, ganz so wie die Sängerin den Operngraben überwinden muß, um die Arie an den Mann zu bringen. [Übrigens befindet sich nur eine Übersetzung unter den 35 vorgefundenen, die einen zwiespältigen Eindruck hinterläßt: In Pith Water / Wasserkraft vom amerikanischen (kosmopolitischen!) Urgestein Cid Corman gibt es eine Reihe von Gedichten (deren Binnenstruktur allerdings auch hochkomplex ist mit ihren Mehrdeutigkeiten und Wortspielereien) die ich anders übersetzen würde. Das Gedicht „RED CHAIR / CANDLE LIGHT // The near nude seated / Woman cracking a flea for / That moment pregnant / Realizes lifeís only / A moment in a Godís hands“ übersetzt Rüdiger Fischer so: „Nahe sitzend, nackt / einen Floh fangende Frau / für einen Augenblick, bedeutungsschwer / die klar erkennt, das Leben ist nur / ein Augenblick in eines Gottes Hand.“ Ich möchte die folgende Version – um der Kontroverse willen – anbieten, verzichte auf jeden weiteren Kommentar (außer vielleicht, daß „prächtig“ ein mehrdeutiges Wortspiel ist, das u.a. „pregnant“ und „trächtig“ kombiniert) und schlage vor, daß Sie, liebe Leser, wiederum Ihre Version finden: „Die vertraut nackt dasitzende / Frau knackt einen Floh, er- / kennt in diesem prächtigen Moment: / das Leben ist bloß / ein Moment in der Hand eines Gottes.“]
Schlichten Gedichten voller Anmut, Liebreiz und Melancholie, voller Sehnen, Hoffen und Suchen begegne ich in den Versen von Jean Rivet in dessen Gedichtband Da nahm mich Charlotte bei der Hand. Dem Dichter fliegt die Enkelin als Muse zu:

Vorsichtig hast du den Vogel
Einen Star, am Flügel hochgehoben
Und mich gefragt: Gell, Großvater
Er ist nicht immer tot?
Gell, Großvater, er fliegt wieder fort?
Und hast mir die Hand gegeben.

Diese 45 Gedichte [die ich wiederum von rechts nach links und von links nach rechts lese, Original und Übertragung vergleichend – und wiederum feststellend, wie schwierig Entscheidungen an vielen Stellen immer wieder sind: „Pour dix lignes puériles“: Meint der Dichter hier das eher positive „kindlich“ oder das pejorative „kindisch“? Oder: „Jíaime la solitude“ – ist hier eher das emphatische „Ich liebe“ oder das besonnene „Ich mag“ gemeint? Und wiederum wird der Vorzug der Bilingualität deutlich: Der Leser wird zum Mitübersetzer, und solange ich mich darauf verlassen kann, daß hier ein leidenschaftlicher Übersetzer am Werk ist – das allerdings ist eine absolute Voraussetzung – spielen diese Kleinigkeiten nicht nur keine Rolle, sondern verhelfen dem gleichsam kommunikativen Prozeß innerhalb der Lektüre zusätzlich auf die Sprünge – denn auch vom Leser ist Wachsamkeit gefordert.
Eine ganz eigentümliche Lesesituation tritt ein, wenn ich beispielsweise Giuseppe Ungaretti in englischen Versionen (Selected Poems, Penguin Books, Harmondsworth 1969) lese, wie ich es an einem regnerischen Sonntag im Februar 2000 getan habe: Zum einen denke ich (grundsätzlich), daß der schlechteste Übersetzer einen so großartigen Dichter wie Giuseppe Ungaretti nicht kaputt kriegen kann, zum anderen denke ich (konkret), daß gerade die Musikalität der englischen Sprache bestens geeignet ist, Gedichte aus dem Italienischen zu: (über-)tragen.
So frage ich mich, nachdem ich die Bücher aus dem Verlag im Wald nun schon einige Zeit hinter mir gelassen habe, bei der Lektüre von Octavio Paz’ fernöstlichem Gedichtband Vrindavan (Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1994), ob man, wie im Gedicht „Intermezzo aus dem Westen (3)“, „en espagnol“ mit „auf deutsch gesagt“ übersetzen darf, wenn die Redewendung eine typisch spanische ist. Eine solche Übertragung wirkt schnell unfreiwillig komisch.] in dem mit einem farbenprächtigen Kinderbild verzierten Umschlag versehenen Buch morgens zwischen sieben und acht Uhr während der Fahrt mit dem Zug nach Köln zu lesen versetzt mir einen sinnlich-geistigen Vitaminstoß in den Tag hinein, der am Abend noch vorhält und mir noch Frische verleiht, wenn der Tag gegangen und Johnny Walker längst gekommen ist und ich das tue, was nicht nur Thomas Mann für das Schönste am Tage hielt: abends lesend im Sessel zu sitzen.
„Doch das kein Ende findende Suchen nach noch genaueren, noch überzeugenderen deutschen Reimen von immer noch schönerer Selbstverständlichkeit zermürbte ihn dermaßen, daß seine Geistesgegenwärtigkeit mitunter aussetzte und er wieder unter Schlaflosigkeit litt“, lese ich in Heinz Pionteks Roman Dichterleben (Schneekluth, München 1976), der die Geschichte des Dichters und Übersetzers Achim Reichfelder erzählt, und diese Zeilengehen mir bei der Lektüre zweier von Werner Wanitschek ins Deutsche übertragenen Bücher immer wieder durch den Kopf, auch wenn es hier weniger um das Auffinden von Reimen geht. Im Verlag im Wald erschien 1997 das Gedichtbuch Poëmes en prose / Gedichte in Prosa von Stéphane Mallarmé und als Premierenband beim 1999 von Wanitschek gegründeten Amsel Verlag Kleine Gedichte in Prosa oder Der Spleen von Paris von Charles Baudelaire. Vor allem Spleen ist als Buch ein Kleinod – in dunkelrotes Leinen gehüllt, 17 x 11 cm klein, 215 Seiten dick, mit einem langen Nachwort und zahlreichen Anmerkungen versehen, allerdings ohne die französischen Originale. Schon der erste Text – „Der Fremde“ – nimmt mich gefangen mit seinen Schlußzeilen „Ich liebe die Wolken… die Wolken, die ziehen… da oben… da oben… die wunderbaren Wolken“. [Weitere Aussagen zum Werk von Baudelaire bzw. Mallarmé bitte ich in den buchstäblich Hunderten von Texten zu diesen Klassikern der Moderne nachzulesen, an denen kein Dichter und Leser, der es ernst mit sich und der Poesie meint, vorbeikommt – auch heute nicht – oder besser: gerade heute nicht?]
Interessant ist noch der Vergleich von Werner Wanitscheks Versionen der Prosagedichte Mallarmés mit denen von Carl Fischer (Verlag Lambert Schneider, Heidelberg 1957). Hier schneidet Wanitschek eindeutig besser ab. Er hält sich eng an die Syntax und Wortwahl der Originaltexte, deren aufgrund der abstrakten Nomen betont kühl wirkende poetische Magie auf diese Weise direkter ins Deutsche übertragen wird.
Schließlich zeigt auch das sich über viele Seiten hinziehende Nachwort (einschließlich zahlreicher Anmerkungen) zum Buch von Baudelaire, wie sehr sich Werner Wanitschek in die selbstgestellte Aufgabe hineinkniet. Im vollen Bewußtsein, längst nicht der erste, sondern eher einer der letzten Übersetzer Baudelaires und Mallarmés zu sein, bietet er dem Leser eine Fülle von Informationen und Kommentaren, die mich zusätzlich motivieren, immer tiefer in dieses große poetische Werk einzusteigen, das Fernando Pessoa (dessen Zitat dem Nachwort vorangestellt ist) so kommentiert: „Wer keine Verse machen kann wie Baudelaire, kann sich, indessen, die Haare grün färben.“ [Und Stefan George jubelt: „Deshalb o dichter nennen dich genossen und jünger so gerne meister weil du am wenigsten nachgeahmt werden kannst und doch so großes über sie vermochtest · Weil alle in sinn und wolklang nach der höchsten vollendung streben damit sie vor deinem auge bestehen: weil du für sie immer noch ein geheimnis bewahrst und uns den glauben lässest an jenes schöne eden das allein ewig ist.“] Hier schlagen wir ein weiteres Kapitel des Übersetzens auf – das des berühmten Dichters (und Erneueres der Lyrik) und seines kaum bekannten Übersetzers. Weshalb begibt sich da noch einmal jemand an offenbar unsterbliche Texte, die schon längst (und mehrfach) übersetzt worden sind? Auch Achim Reichfelder fragt sich: „Mußte es übersetzt werden? Alles müssen wir übersetzen, alles, was wir sehen, schmecken, fühlen, hören, alles kann uns nur über das eigene Bewußtsein erreichen, das in keiner anderen Sprache aufgeht als der eigenen.“ Und wer es so genau wissen will wie Werner Wanitschek und Rüdiger Fischer, wer von der Literatur besessen ist, wer ohne diese Leidenschaft (vielleicht) nicht leben könnte, der übersetzt es, gründet sogar einen Verlag und hofft auf Leser, die sich der mitunter zwar „schwierigen“, jedoch stets atemberaubenden Dichtung stellen, deren Übertragung von einem schier wahnhaften Enthusiasmus zeugt, dem wahrscheinlich das ganze Leben (beinahe) unterworfen ist. Wer wüßte dies besser als Heinrich Faust:

Aber ach! schon fühl ich, bei dem besten Willen,
Befriedigung nicht mehr aus dem Busen quillen.
Aber warum muß der Strom so bald versiegen
Und wir wieder im Durste liegen?
Davon hab ich so viel Erfahrung.
Doch dieser Mangel läßt sich ersetzen,
Wir lernen das Überirdische schätzen,
Wir sehnen uns nach Offenbarung,
Die nirgends würdíger und schöner brennt
Als in dem Neuen Testament.
Mich drängtís, den Grundtext aufzuschlagen,
Mit redlichem Gefühl einmal
Das heilige Original
In mein geliebtes Deutsch zu übertragen.
Geschrieben steht: „Im Anfang war das  W o r t!“
Hier stock ich schon! Wer hilft mir weiter fort?
Ich kann das  W o r t  so hoch unmöglich schätzen,
Ich muß es anders übersetzen,
Wenn ich vom Geiste recht erleuchtet bin.
Geschrieben steht: Im Anfang war der  S i n n.
Bedenke wohl die erste Zeile,
Daß deine Feder sich nicht übereile!
Ist es der  S i n n, der alles wirkt und schafft?
Es sollte stehn: Im Anfang war die  K r a f t!
Doch, auch indem ich dieses niederschreibe,
Schon warnt mich was, daß ich dabei nicht bleibe.
Mir hilft der Geist! Auf einmal sehí ich Rat
Und schreibe getrost: Im Anfang war die  T a t!

Erschienen in: Theo Breuer – Aus dem Hinterland, Edition YE, 2005

 

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