Michael Krüger: Zu Ilse Aichingers Gedicht „Nachruf“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Ilse Aichingers Gedicht „Nachruf“ aus Ilse Aichinger: Verschenkter Rat. 

 

 

 

 

ILSE AICHINGER

Nachruf

Gib mir den Mantel,
Martin, aber geh erst vom Sattel
und laß dein Schwert, wo es ist,
gib mir den ganzen.

 

Der Bettler befiehlt

Vier Zeilen, einundzwanzig anspruchslose Worte, die wir mehr oder weniger täglich im Munde führen, und doch bilden sie ein abgrundtiefes, grundstürzendes Gedicht. Die Legende, die Ilse Aichinger hier mit minimalistischen Mitteln neu schreibt, ist von vielen Darstellungen her bekannt, von der Romantik bis zu Simone Martini in Assisi. Martin von Tours, der spätere Heilige und Schutzpatron des merowingisch-fränkischen Reiches, soll als Soldat vor den Stadttoren von Amiens seinen Mantel, die cappa, mit einem frierenden Bettler geteilt haben, in dem er, hoch zu Roß, das ihn umhüllende Tuch in zwei Teile teilte. Ein Heiliger ist man nur, wie bekannt, in den Augen anderer, und das Erwähltsein durch Gott bedarf der Zustimmung der Menschen. Man wird wegen guter Taten heilig gesprochen.
Bei Ilse Aichinger, der großen Dichterin kleiner Gedichte, wird die gute Tat durch eine entscheidende Drehung der Perspektive in ein anderes Licht gerückt. Bei ihr ist Martin bereits an dem frierenden Bettler vorbeigeritten, ohne diesen halbnackten Burschen in seinem Elend zu bemerken – wie man es besonders prägnant am Sandsteinrelief des Naumburger Meisters in der Bassenheimer Pfarrkirche sehen kann. Ein Soldat hat keine Zeit für Bettler, wenn er auf dem Weg zum Feind ist. Der Bettler mußte also Martin nachrufen, wie es im Titel des Gedichts heißt.
Wir stellen uns vor, der Bettler habe eine kräftige Stimme gehabt, denn immerhin beschließt Martin, dem armen Mann einen Teil seines Mantels mit dem Schwert abzutrennen. Aber im Begriff, dies zu tun, muß er sich von unten drei Ungeheuerlichkeiten sagen lassen: Steig von deinem Pferd ab, wenn du mit mir reden willst; laß das Schwert, das Zeichen deiner Macht und Würde, in der Scheide; gib mir den ganzen Mantel gegen die Kälte, du hast zu Hause genug andere hängen! (Hätte Martin auch noch die Gans bei sich gehabt, neben dem Mantel sein zweites Attribut, hätte der Bettler auch diese für sich gefordert, selbst wenn dadurch das Gedicht länger geworden wäre.)
Die Forderung des Bettlers, wie sie Ilse Aichinger formuliert, stellt das System des modernen Mitleids auf den Kopf. Der Zerlumpte will keine Almosen, nicht den Groschen, den man im Vorübergehen achtlos oder ein wenig peinlich berührt in den umgedrehten Hut wirft, froh, ohne großes Nachdenken eine gute Tat vollbracht zu haben. Und während man, seelisch-moralisch ein wenig gestärkt, gerade die Tür des Restaurants öffnen will, in Vorfreude auf einen Braten und eine Flasche Wein, hört man den Nachruf des Bettlers.
Ilse Aichingers Gedicht ist eine poetische Kalendergeschichte im Geiste Hebels. Es fiel mir wieder ein, als ich in diesen Tagen im Fernsehen das zerlumpte, frierende, stumme Volk der Kosovaren im Schlamm an der Grenze versinken sah. Steigt aus euren Geländewagen, ihr modernen Ritter, laßt die Bomben stecken und gebt den Frierenden einen Mantel, wollte ich rufen, aber in dem Moment waren die Nachrichten schon wieder vorbei. Das Wetter.

Michael Krügeraus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Dreiundzwanzigster Band, Insel Verlag, 2000

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