Michael Lentz: Zu Günter Bruno Fuchs’ Gedicht „Berlin“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Günter Bruno Fuchs’ Gedicht „Berlin“ aus Günter Bruno Fuchs: Werke in drei Bänden. Band I: Gedichte und kleine Prosa. –

 

 

 

 

GÜNTER BRUNO FUCHS

Berlin

Drei Strophen Sonntagssouvenir:
Der Himmel färbt die Dächer leise.
Die Stadt, ein Würfelbrett und Jagdrevier,
summt ihre viergeteilte Weise.
Der Bär ist noch das Wappentier.

Der Hund des Kohlenhändlers bellt.
Nachmittagsstunde. Straßenstille.
Im Rinnstein singt der Zeichner Werner Heldt
den Nekrolog von Peter Hille
auf eine unerlöste Welt.

Vom höchsten Charité-Kamin
fällt eine Zeile Rauch herab
auf die Fassade: Webers Trauermagazin –
(Tritt im Zylinder an des Liebsten Grab!)
Die Spree geht bettelnd durch Berlin.

 

Ein Gedicht als Souvenir

Das „Berlin“ des Dichters und bildenden Künstlers Günter Bruno Fuchs hat die Ästhetik einer speziellen Art von Ansichtskarte, der dreiteiligen Potpourrikarte, auf der mehrere kleinere Bilder zu sehen sind. Fuchs zeigt reale und imagmierte Momentaufnahmen des Nachkriegsberlin, das zur verhandelbaren Masse geworden zu sein scheint, zum Schauplatz und – so wollen es die Metaphern des Würfelbretts und des Jagdreviers – gleichzeitig zum Spieleinsatz der vier Besatzungsmächte. Die „drei Strophen Sonntagssouvenir“, die das Gedicht in der ersten Zeile wie eine Reklame in eigener Sache verspricht, liefern also keine Idylle, auch wenn der Leser mit der zweiten Zeile und ihrer synästhetischen Verschmelzung von visuellen und akustischen Sinneseindrücken zunächst auf eine solche eingestimmt wird. Vielmehr grundiert die in Aussicht gestellte Gemütlichkeit eines ereignislosen kalten Sonntagnachmittages eine Atmosphäre, die jederzeit ins Bedrohliche umschlagen kann.
Dieser widersprüchliche Zustand einer durch den Zweiten Weltkrieg und den Kalten Krieg völlig veränderten historischen Situation bei gleichzeitiger, wenn auch gefährdeter Fortführung alltäglicher Verrichtungen findet ihr sinnbildliches Resümee in der fünften Zeile der ersten Strophe:

Der Bär ist noch das Wappentier.

Es bleibt dem Leser überlassen zu entscheiden, ob das hier so wichtige „noch“ als „bis jetzt noch, bald aber vielleicht nicht mehr“ oder im Sinne der geschichtlichen Kontinuität als „immerhin ist der Bär noch das Wappentier“ zu verstehen ist. Aus historischer Sicht müsste der Satz lauten:

Der Bär bleibt das Wappentier – in beiden Teilen Berlins.

Die Alliierten hatten bereits am 13. August 1946 in ihrer Vorläufigen Verfassung von Groß-Berlin verfügt, dass die Stadt Wappen und Flagge weiterhin mit dem Bären zu führen habe. Während Ost-Berlin das 1935 amtlich eingeführte Wappen beibehielt – Ost-Berlin bekam keine neue Verfassung, und die Dienstsiegel zeigten das Staatswappen der DDR –, erhielt West-Berlin mit dem „Gesetz über die Hoheitszeichen des Landes Berlin“ am 13. Mai 1954 ein neues Wappen, das nach der Wiedervereinigung zum Stadt- und Landeswappen von ganz Berlin wurde.
Dass die Jagd auf „Bärlin“ eröffnet ist und die Ruhe bei sich verdichtender Tristesse nur ein Intermezzo war, signalisiert der bellende Hund des Kohlenhändlers. Sprichwörtlich auf den Hund gekommen ist jemand, der sich im Rinnstein befindet. Den im Rinnstein gesungenen Nachruf „auf eine unerlöste Welt“ des lebenslänglich ruhelosen Schriftstellers Peter Hille legt Fuchs Werner Heldt in den Mund. Heldt, der zeichnende und malende Chronist des Nachkriegsberlin, wurde im Sterbejahr Hilles in Berlin geboren. Diese die Generationen kurzschließenden Referenzen entsprechen ganz der Lebensart und dem Dichtungsverständnis des von Fuchs hochverehrten Hille, der sich auch stets auf andere Dichter würdigend bezogen hatte.
Mit der Charité und „Webers Trauermagazin“ werden zwei einschlägige Namen aufgerufen, die im Gedicht als Synonyme für das Befinden der scheinbar stillgelegten Stadt fungieren. Otto Webers Trauermagazin, Berlins größtes Spezialhaus für „schwarze Konfektion“, befand sich am Gendarmenmarkt in der Mohrenstraße 45, Ecke Markgrafenstraße. Die Charité lag nach der Teilung der Stadt in Ost-Berlin (Mitte) und war das Vorzeigekrankenhaus der DDR. Im „Dritten Reich“ waren ihre Ärzte in vorauseilendem Gehorsam aktiv an den Nazi-Verbrechen beteiligt. Auch dass die DDR-Führung wissentlich Nazi-Mediziner „übernahm“, ist erst nach der Wende ansatzweise aufgearbeitet worden. Vor diesem Hintergrund sind die Zeilen „Vom höchsten Charité-Kamin / fällt eine Zeile Rauch herab / auf die Fassade: Webers Trauermagazin“ umso brisanter. Eine gar nicht mal hoffnungslose Schlusspointe ist, dass die unteilbar durch ganz Berlin fließende Spree in Fuchs’ Gedicht eben nicht fließt, sondern bettelnd durch die Stadt geht als Stellvertreterin ihrer gesamten Bewohner.
Die in Diktion und Form so luzide Bestandsaufnahme des viergeteilten Berlin wurde im Juni 1957 in der Zeitschrift Panorama unter dem Titel „Berlin 1957“ erstveröffentlicht. Die hier wiedergegebene Endfassung ließ Fuchs 1958 im Simplicissimus abdrucken, dem Jahr, als er von Reutlingen, wo er seit 1952 lebte, wieder nach Berlin zurückkehrte. Das vom Dichter in keines seiner Bücher aufgenommene Bildreihengedicht ist eine Hommage an die in jeder Zeile definierte Stadt und die für Fuchs zu ihrem Inventar gehörenden Gefährten im Geiste, Peter Hille und Werner Heldt. Ihre Werke sind ohne das „unerlöste“ Berlin ebenso wenig zu denken wie das Werk von Günter Bruno Fuchs, dem großen, unvergessenen Malerpoeten.

Michael Lentzaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Vierunddreißigster Band, Insel Verlag, 2011

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