Michael Neumann: Zu Daniela Danz’ Gedicht „Masada“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Daniela Danz’ Gedicht „Masada“ aus Daniela Danz: Pontus. 

 

 

 

 

DANIELA DANZ

Masada

Wenn du dann stehst wo es still ist dass du
es merkst wenn das Denken aufhört und
das Hören anfängt wenn das Hören aufhört
und das Sehen anfängt wenn ein Vogel
fliegt wenn du als schwarzer Vogel gleitest
und schreist wenn du zu sprechen ansetzt
in der klaren Luft und von nichts sprechen
kannst als dem Licht so als wäre es das erste
Licht wenn du einen Schatten auf den Fels
wirfst und sagst mein Schatten bleibt
und der Fels vergeht wenn für jetzt wahr ist
dass es gut ist den ganzen Einsatz zu wagen
kannst du die Wüste mit Namen nennen

 

Wenn das Denken aufhört

Masada, das sind jüdisch-antike Ruinen in der Wüste, nahe dem Südrand des Toten Meeres. Bis vor einiger Zeit vereidigte die israelische Armee dort ihre Spezialkräfte. In die Stille der Wüste stellen die ersten Verse ein Du. Ausgesetzt in unerhörtes Nichts, verwandelt es sich. Das Denken weicht dem Hären, das Hären weicht dem Sehen, und als der schwarze Vogel, den es erblickt, gleitet es plötzlich selbst durch die klare Luft. Solch ein Gleiten durch die Formen der Existenz geschieht manchmal in Träumen. Es geschieht aber auch in den Metamorphosen des Ovid und vielerorts in der Sprache der Poesie.
Was ist Lyrik? Reicht es, die Zeilen abzutrennen, bevor noch der Blattrand erreicht ist? Wer das mit dem nächsten Zeitungsartikel versucht, wird finden, daß das Resultat kläglich oder allenfalls komisch ausfällt. Aber tut dieses Gedicht denn etwas anderes? Läuft durch diese dreizehn Verse nicht ein einziger, ziemlich lang geratener Satz Prosa? Warum wirkt das Ganze dann aber weder kläglich noch komisch? Das herauszufinden, bedarf es eines Wechsels der Perspektive.
Wie das Du die Stille der Wüste, braucht der Leser die Stille des weißen Papiers, die sich um die karge Schwärze der Gedichtzeilen legt. Das rasche Lesen zur Information, der Zeitungslektüre völlig angemessen, muß aufgehalten werden. Das Lesen muß sich die Zeit nehmen, auch zu hören. Dann nimmt es plötzlich die Dichte und die Variabilität der Klänge wahr, dazu die vielbezügliche Vernetzung der Laute. Man horche nur auf den ersten Vers. Wenn – dann, stehst – still ist, du dann – daß du. Dazu tritt der Rhythmus der stets mit „wenn“ eröffneten Teilsätze: In der ersten Hälfte des Gedichts sind diese Sätze etwas länger als die Verse. So reibt sich der Satz-Rhythmus an der Vers-Ordnung – und plötzlich springt der Klangsinn jener Vers-Teilungen hervor, die einem vorpoetischen Lesen als willkürliche Verkleidung bloßer Prosa erscheinen mag.
Acht „Wenn“ kündigen acht Bedingungen an, die eingelöst sein wollen vor der Erfüllung des letzten Verses. Keinem dieser „Wenn“ folgt ein Konjunktiv: Hier ist nicht von Wünschen die Rede oder von unverbindlichen Träumen. Indikative formulieren feste Zusagen. Du wirst zum Vogel werden. Dein Sprechen wird Vogelschrei sein und ein Sprechen vom Licht. Vom glanzvollen Licht? Vom erbarmungslosen Licht?
Was das Gedicht nicht nennt, soll die Lektüre nicht hinzufügen. Menschenohren werden freilich Erinnerungen nicht abweisen können, angehäufte Metaphern vom Licht der Gottheit über das Licht der Erkenntnis bis zum erlösenden Licht nach finsterer Nacht. Der Schrei des Vogels aber spricht wie vom ersten Licht. Poetisch wird die Sprache, wo zwischen all ihren Erinnerungen – ihrem Reichtum wie ihrer Ermüdung – noch ein Anfang geschieht. Die Verse heben solchen Anfang mit dem Mut zu pathetischer Deutlichkeit heraus: Der Schatten des verwandelten Du wird bleiben, wenn selbst der Fels vergeht. Das Wahre und das Gute werden zusammenkommen. Dann „kannst du die Wüste mit Namen nennen“.
Das erinnert an eine alte Geschichte. Im Paradies gab Adam jedem Geschöpf seinen Namen, und da damals seine Einsicht noch nicht vom Sündenfall verdorben und verzerrt war, lag in diesem Namen das wahre Wesen des Geschöpfs beschlossen. Viele Dichter haben gehofft, mit ihrer Poesie an diese Ursprache heranzureichen. Solche Hoffnung hat die Skepsis mittlerweile ausgebleicht. Aber noch heute lebt in Gedichten die Überzeugung von einer Wahrheit jenseits bloßer Information, von einer Wahrheit mit „ganzem Einsatz“.
Wie aber heißt der versprochene Name der Wüste? Sicher nicht „Masada“. Das ist ein Wort für Lexika und Atlanten. Das Gedicht gibt eine Zusage. Es löst sie nicht ein – aber es steht für sie ein. Indem der Leser sich den Versen aussetzt, lernt er die Sprache kennen, welche die Wüste mit Namen nennen kann.

Michael Neumannaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Dreiunddreißigster Band, Insel Verlag, 2010

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