Nico Bleutge: Zu Gunnar Ekelöfs Gedicht „Klima“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Gunnar Ekelöfs Gedicht „Klima“ erschienen in Gunnar Ekelöf: Strountes / Unfoug, Opus incertum / Opus incertum, En natt i Otocac / Eine Nacht von Otocac: Dikter 1955–1962. Gedichte 1955–1962.

 

 

 

 

GUNNAR EKELÖF

Klima

Leb wohl Ordnung!
Willkommen Wirrnis!
Ich grüße den Gestank von Urin in der Gasse
das Geriesel aus dem Rohr in der Häuserwand
und im Hintergrund
diese stockfleckige Schönheit
Ich grüße, Morgen wie Abend
bemoost in der drohenden Kluft
die Stille
ungerührter Nachbar dieser gellenden Stimmen
die Katzen mit ihren Katzenleben
die Hunde mit ihren Hundeleben
nah beieinander
Arm und Reich mit ihren Menschenleben
nah beieinander

 

Gib mir die Augen der Sepien

Drei Splitter zu Gunnar Ekelöf

1
Selten hat mich ein Gedicht so fragend zurückgelassen wie Gunnar Ekelöfs „Klima“. Ekelöf ist mir vertraut als ein Dichter, der sich fern von bloßen Gegensätzen hält. Mehr noch, er hat sich immer wieder exzessiv mit dem beschäftigt, was er einmal die „Versuchung des Dualismus“ genannt hat. Seine Texte entwickeln sich allesamt jenseits eines Denkens in Polen. Dem „sterilen Reich“ aus Licht und Schatten, Gut und Böse, Wirklichkeit und Traum hält er die Erfahrung der Schwebe vor. Hier entpuppt sich das feste Ich als Chimäre und die Wirklichkeit als etwas durchweg Flüssiges. Diese Vorstellung ist keineswegs mit naivem Einheitsdenken oder einer Art Natürlichkeit zu verwechseln. Vielmehr hat der ungerade, „einsame Mensch“ die dualistische Welt des Rationalismus bereits durchwandert und setzt bewußt auf das Unbestimmte, Unvermessene. Oder, wie es in dem Gedicht „Kategorien“ heißt:

Dort, auf der dritten Seite des Lebens,
dort sind das Schwarze, das Graue und Weiße keine der Seiten
und aus den dreien wird eine Vielzahl Schattierungen gezeugt
jenseits aller Wahrheiten und Lügen.

Und nun ein Gedicht, das mit eben solchen Gegensätzen arbeitet? „Ordnung“ und „Wirrnis“, „Lebwohl“ und „Willkommen“, „Morgen“ und „Abend“, „Arm“ und „Reich“. Jemand verabschiedet die Ordnung und sagt der Wirrnis Guten-Tag – tut dies aber auf eine so geordnete, um nicht zu sagen: pingelige Art und Weise, daß einem beim Lesen angst und bange werden kann. Und alles im Stile einer klassischen Anrufung, einer der ältesten (und mit Sicherheit langweiligsten) Sagweisen der Poesie. Ein Gedicht der Klarheit? Ein Gedicht, das den Romantiker, als der sich Ekelöf immer sah, vergessen macht?

Gib mir die Augen der Sepien
die sanften nach innen blickenden
als hörten sie geheimen Glockenklang
der aus den Tiefen hervorbricht

hat er gedichtet,

gib mir die Haut der Sepien
aus wechselnden Stimmungen
als unterhielten sie sich
mit Unterwasserschatten

Doch so einfach ist es nicht. „Klima“ gehört in das Gefüge von Ekelöfs achtem Gedichtband Unfoug (Strountes, erschienen 1955). Dort versammelt er eine spezielle Art von Nonsens-Gedichten. Nonsens meint bei Ekelöf nicht etwa bloße Spielerei oder gar Klamauk. Ganz im Sinne seines dialektischen Denkens sind Sinn und Sinnlosigkeit immer schon aufeinander bezogen. Denn wie schreibt er in einem Gedicht:

Wenn man es soweit gebracht hat wie ich in der Sinnlosigkeit
wird jedes Wort erneut interessant:
Fundstücke im Erdreich
die man mit archäologischem Spaten wendet

In Unfoug-Gedichten können Lammkoteletts auf einmal sprechen. Und nicht nur sprechen, sondern auch Beschlüsse fassen:

Keiner wird mich je essen

Oder das Gedicht spielt – „Simsalabim!“ – mit Redewendungen und dreht sie in eine neue Richtung:

Der Krug geht
so lange zum Brunnen bis das Wasser bricht.

Die Unfoug-Gedichte gehen weit über eine Marotte ihres Autors hinaus. Ekelöf selbst spricht in einer kleinen Notiz sogar von einem „Unfoug-Denken“ und nennt es einen „persönlich gefaßten Absurdismus“.
Dieses „Unfoug-Denken“ entdeckt Gunnar Ekelöf nicht etwa als beinahe 50-Jähriger, er hat es von Beginn an praktiziert. Da schreibt einer schon in seinem Erstling eine „sonate in denaturierter prosa“, die von der genüßlichen Variation der „buchstabennissen“ und des ganz und gar nicht schwindelfreien Materials lebt. Da nutzt er andernorts das Gedicht zu einer ironisch aufgerüsteten „Umfrage“, die auch die witzige Zuspitzung kennt („Ihr Lieblingshobby? Ich habe keine. / Ihr kleines Kardinallaster? Das Onanieren“). Da begibt er sich schließlich zu den Nachtmahren der schwarzen Romantik und verfaßt einen „viechischen“, die Sprache traktierenden ,Höllen-Brueghel‘. Das Unfoug-Denken, Ekelöfs ganz eigener Absurdismus, scheint nichts anderes zu sein als eine Erscheinungsform der „dritten Seite des Lebens“. In ihm kann der Dichter Romantiker ebenso sein wie verrückter Sprachspieler, kann sich mit den Unterwasserschatten unterhalten und zugleich die Wörter in ihre Einzelteile zerlegen, um sie neu, un-sinnig, wieder zusammenzufügen.
Was also hat es auf sich mit jenem „Klima“, das Ekelöf in seinem Gedicht entfaltet? Je öfter ich das Gedicht lese, desto stärker geraten seine Begriffe in Bewegung, desto unklarer (in einem emphatischen Sinne!) werden seine Verhältnisse. Das beginnt schon mit dem Titel. Meint das „Klima“ die meteorologische Situation, eine bestimmte, sagen wir, Temperatur-Ebene, mit der es der Leser im Verlauf der Lektüre zu tun bekommen wird? Ist es vielleicht gesellschaftspolitisch gedacht, als ironische Reflexion der Zustände im schwedischen Wohlfahrtsstaat, wie sie Ekelöf in dem Gedicht „An die Volksheimischen“ schon einmal in Sprache gefaßt hat? Oder ist es gar als eine Klimax zu verstehen, die Ekelöf hier von den einfachen Gerüchen über die Tiere hin zu den „Menschenleben“ aufbaut und die er – ganz im Sinne eines forcierten Unfoug-Denkens – um den letzten Buchstaben gekürzt hat?
Auch die scheinbaren Gegensätze beginnen beim genaueren Lesen zu flimmern. Warum wird die „Wirrnis“ im Klima dieses Gedichts bis in die sensorischen Details hinein vor dem Leser ausgebreitet, aber über ihr vermeintliches Gegenteil, die Ordnung, erfährt man – nichts? Warum zieht der Gegensatz zum „Lebwohl“, das „Willkommen“ also, eine Liste an Momenten nach sich, die sich am Anfang noch als Beispiele der apostrophierten „Wirrnis“ deuten lassen, aber spätestens mit der „Stille“ den Leser auf ein Phänomen stoßen, das man doch eher der „Ordnung“ zuschlagen würde? Und wird nicht die „Stille“ noch einmal einem anderen Gegensatz zugeführt, den „gellenden Stimmen“ nämlich, die sich aber kaum als Momente der „Ordnung“ verstehen lassen dürften, schon gar nicht, wenn man an die unüberhörbaren Laute von Katzen und Hunden denkt? Ganz zu schweigen davon, was genau es mit „Arm und Reich“ auf sich hat und wie diese beiden Pole sich wohl zu dem basalen Gegensatzpaar von „Ordnung“ und „Wirrnis“ verhalten könnten. Kaum merklich verschiebt Ekelöf die Zuschreibungen seiner Begriffe, macht die Sprache scharf und vieldeutig.
Ein Blick auf die einzelnen Zeilen läßt zudem Paradoxien sichtbar werden: Wie soll man sich eine „stockfleckige Schönheit“ denken? Ist damit die Atmosphäre der schartigen und bewußtseinsflackernden Gasse gemeint, die der Sprecher beschwört, oder eher eine in die Jahre gekommene Schöne? Wie kann diese, egal ob es sich um eine Atmosphäre oder um eine mögliche Frau handelt, „im Hintergrund“ eines ganz aus olfaktorischen und akustischen Reizen sich zusammensetzenden, ja, Klimas sein? Und was heißt eigentlich „bemoost in der drohenden Kluft“ und bezieht sich diese Fügung auf das „Ich“ des Sprechers, auf „Morgen wie Abend“ oder auf die „Stille“, die gleich darauf folgt? Zuletzt sind noch ein paar wunderbar tautologische Formulierungen zu entdecken, die Ekelöf im Moos seiner Sätze wuchern läßt:

die Katzen mit ihren Katzenleben
die Hunde mit ihren Hundeleben

Vielleicht müssen wir uns Gunnar Ekelöf als jenen „leicht lesbaren Hermetiker“ vorstellen, als den ihn Thomas Kling einmal bezeichnet hat. Eine Formulierung, die ebenso trickreich und paradox ist wie das vorliegende Gedicht. Und wenn ein Hermetiker auch ein Trickster sein kann der listig seine Spuren auslegt, dann sollten wir das „nah beieinander“ des Gedichts nicht nur als Versöhnung spendende Geste verstehen, sondern als Hinweis darauf, was es mit den scheinbar einfachen Gegensätzen des Gedichts auf sich haben mag. Vielleicht liegen auch sie „nah beieinander“, sind auf absurde Art und Weise miteinander vermittelt – und damit Teil eines Denkens, das ihre mögliche Polarität längst überstiegen hat, eines Denkens der „dritten Seite“.

2
„Die ganze Zeit über in Gedanken an das Leben“, notiert Gunnar Ekelöf einmal, „denke und schreibe ich über den Tod und die Toten“. Es ist der Entwurf zu etwas, das er einen „Artikel über die Erinnerung“ nennt. Und auch wenn dieser Entwurf aus den frühen 60er Jahren ein Entwurf bleiben sollte, verwahrt er ein paar bemerkenswerte Ideen in sich, die viel über Ekelöfs Verhältnis zu den Atmosphären stockfleckiger Schönheit aussagen, wie er sie in dem Gedicht „Klima“ ausbreitet. Einzig nach der Geschichte der Toten, so Ekelöf in seinem Entwurf weiter, könne man einen „Breitengrad zur Positionsbestimmung“ anpeilen. Den Längengrad müsse man dann selbst ausmachen:

Die Toten und ihre Erlebnisse, allgemeinmenschliche, alltägliche, sind, historisch betrachtet, unser Gedächtnis.

Diese verschnörkelte, im Ton durchaus selbstbewußte Aussage spricht gewiß von den historischen Beständen, mit denen es der Dichter immer schon zu tun hat, von der Tradition, den mal bewunderten, mal auf Abstand gehaltenen Stimmen der schreibenden Vorgänger. Man sehe sich nur an, wie Ekelöf die Toten in seiner großen Mölna-Elegie besingt, als wären Leben und Tod völlig miteinander verschränkt:

So spür ich
in den Tiefen meines Zwerchfells diese Toten:
Die Luft die ich atme stockt vor Toten,
der Durst den ich trinke ist mit Toten versetzt,
sie sind mein Hunger, sie sind meine Speise:
Ich sterbe ihr Leben, sie leben meinen Tod.

Die Notiz über die Toten meint aber auch ein „memento mori“, das dem Dichter eine ganz bestimmte Aufgabe oder genauer: eine Fähigkeit zumißt. Gemeinhin fällt die Erforschung der Vergangenheit den Historikern zu. Doch für Ekelöf ist die Erinnerungssuche, das „Gedächtnis“, wie er es nur nennt nicht Sache der Geschichtswissenschaftler, sondern das Metier der Dichter. Den Toten widmet der Dichter sein Schreiben, er bewahrt die Erinnerung an sie und erweckt sie bisweilen zum Leben. Bei Ekelöf können sie sogar in einer Mondscheinnacht durch eine Kirchhofpforte schlüpfen und ausgehen, um die Stadt zu besehen. Doch seine Wiedergänger sind keine Zombies, sie wollen eher ihren alten Besitz wiederhaben zurückkehren in ihr gewohntes Leben – nur um festzustellen daß nichts mehr davon vorhanden ist. Die Häuser sind eingestürzt, die Freunde längst nicht mehr da. So gleichen diese Toten ewig Suchenden, die allen Menschen ihre Erinnerungen zeigen:

O diese heimatlosen Toten!
Sie stiften keinen Schaden
sie halten uns lediglich wach
Zwar fehlt ihnen
ein Finger, ein Zeh, ein Arm
ein ganzer Brustkorb womöglich
von einstigen und heutigen Hexen entwendet
und zu Mehl zerstoßen für neue Liebesfilter
Die Lebenden stiften häufig Schaden
Die Toten stiften keinerlei Schaden
Die Lebenden zehren
Die Toten sind nährend
Die Toten, sie nähren

Und noch etwas hebt Ekelöf in seinem Entwurf hervor. Die Erlebnisse, die sein Interesse wecken, sind „allgemeinmenschliche, alltägliche“. Nicht die Kriegsereignisse, nicht die Staatsaktionen, keine Jahreszahlen und nicht die „Stiefel von Schwedens Königen“, wie er schreibt. „Vielmehr halte ich mich an das, was in Briefen und Memoiren, Tagebüchern von ,gewöhnlichen‘ einfachen Leuten aufgeschrieben wurde, an ihre Werk- und Sonntage.“ Es ist die „petite histoire“, die Ekelöf – beinahe „magisch“ – anzieht, das Ensemble der alltäglichen Begebenheiten, der Gestank in der Gasse ebenso wie das Geriesel oder die Stimmen hinter den Häuserwänden. In dieser Idee schimmert auf, was die geschmähten Historiker „Oral History“ nennen, eine Hinwendung zu unbeachteten Fundstücken und Zeugnissen scheinbarer Privatgeschichte. Eine Lust auch, den vergessenen oder scheinbar überhörten Stimmen sein Sprechen zu leihen.
Daß es immer nur Fundstücke sind, auf die der Schreibende stößt, ein Splitter aus der näheren oder ferneren Vergangenheit, ein Stimmrest, eine Figur, die unvollständig ist, weist Gunnar Ekelöf als versteckten Romantiker aus. Von jeher hat er sich für das Fragmentarische ausgesprochen. Für jene „Fundstücke im Erdreich“, die der Dichter mit seinem archäologischen Sprachspaten wendet. Allerdings kann das Bekenntnis zum Fragment in zwei, auf den ersten Blick recht unterschiedliche Richtungen weisen. Hier der Splitter als Zeichen von Brüchigkeit, die ein glattes Tradieren des Historischen von vornherein unmöglich macht und die Materialität und den immer stockenden Prozeß der Überlieferung betont. Dort die Vorstellung einer Ganzheit, die in zahllose Einzelheiten zerfallen ist und die der Dichter wieder zu einer Einheit fügen muß, „repoetisieren“, wie es August Wilhelm Schlegel einmal genannt hat.
Gunnar Ekelöf nimmt sich von beiden Seiten etwas. Er geht, wenn man so will, auch hier seinen dritten Weg. Denn er arbeitet mit Fragmenten, die er zu stets fragilen Formationen fügt, gemäß seinem Diktum:

Nun ist die Arbeit des Dichters Vision und Form und ich lobe den Herren, der mich dazu befähigt hat, selbst fade Fakten aus dicken Schwarten in Visionen zu übersetzen.

Fast möchte man meinen, er selbst sei eine jener „heutigen Hexen“, ein skandinavischer Hexenmeister, der den Toten, den Stimmen der Tradition, zwar nicht unbedingt einen Finger oder einen Zeh, bestimmt aber die eine oder andere Zeile, das eine oder andere Motiv entwendet, um daraus seine poetischen Liebesfilter zu machen. In jedem Fall bekennt er sich zu einem Bewußtsein, dem alle Äußerungen des Lebens gleichermaßen wertvoll sind:

Es ist der ungeheure verschwenderische Reichtum an Formen, Farben und Möglichkeiten, der die Hauptbedingung des Lebens bildet.

3
Auch wenn er über die Stimmen der Toten schrieb, hielt sich Gunnar Ekelöf an die Wahrnehmung und an das Körperliche des Lebens, an jenen „Sinnengenuß“, der für ihn zu jeder echten Literatur gehörte. Die Fülle der Formen, Farben und Möglichkeiten war ihm Fluchtpunkt seines Schreibens, sie machte es ihm erst möglich, das Gedicht als „Magie und Beschwörung“ zu verstehen, als einen Weg, das Sichtbare nach und nach zu übersteigen.

Du siehst, und sehend spürst du
wie sich alles zu Asche verwandelt
wie der Blick sich verwandelt
und aufhört zu sein
gleichwohl aber bleibt

heißt es in einem der späten Werke.
Zu den großen Reservoirs, aus denen Ekelöf immer wieder schöpfte, gehört die Mystik. Speziell ihre orientalische Ausformung, wie sie sich etwa bei Ibn al-Arabi findet, jenem sufischen Dichter aus dem 13. Jahrhundert, für den die mystische Verschmelzung der erfüllendste Weg war, das Sichtbare zu übersteigen. Die Erfahrung des Anderen, es mag sich um Gott handeln oder um die Liebe, ist so etwas wie die dunkle Essenz jeder mystischen Erfahrung. Eine Erfahrung, die so umfassend ist, daß sie alle überkommenen Vorstellungen sprengt, wie sie die dualistische Tradition an die Hand gibt: Denken und Fühlen, Licht und Schatten, Gut und Böse, Wirklichkeit und Traum. Und vor allem sprengt sie alle Möglichkeiten von vermittelnder Sprache, ist doch jeder Begriff eingespannt in ein Netz von Dualitäten und entzieht sich in seiner Tendenz zur Begrenzung der ihrem Wesen nach entgrenzenden mystischen Erfahrung.
Um die mystische Auslöschung aber doch teilen zu können haben die Dichter schon immer Möglichkeiten des Sprechens entwickelt die Momente dieser Erfahrung in sich verwahren. Paradoxien und Fragen sollen etwas von der Widersprüchlichkeit der mystischen Bewegung vermitteln, Litaneien und andere Wiederholungsfiguren ihren meditativen Charakter empfangen, literarische Bilder zumindest zeigen und spürbar machen, was sich am Ende doch nicht aussprechen läßt.
Gunnar Ekelöf hat schon früh Motive und Formen mystischen Sprechens in seine Verse eingeschleust. Die Augen, von jeher Grenzposten zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren, sind einer seiner wichtigsten Bildspender. Was er anfangs noch zaghaft zwischen die Zeilen streut – die „Augen der Sepien“, die nach innen blicken, den „blinden Sänger“, der den Tag nur erahnt – wird zum strahlenden Kern seines späten Schreibens. Ekelöfs Diwan über den Fürsten von Emgión, Teil der großen Akrit-Trilogie, versammelt die imaginierten Lieder eines kurdischen Grenzfürsten, der im elften Jahrhundert nicht nur erleben muss wie Byzanz in der Schlacht gegen die Seldschuken unterliegt, sondern der von seinen Gegnern festgesetzt und – geblendet wird.
Das verlorene Augenlicht treibt ihn zunächst in tiefste Verzweiflung, die er in seinen Gesängen elegisch umkreist. Doch seine Lebenskraft ist noch nicht erloschen. In Fragen und paradoxen Figuren besingt er die Ideen von Sehen, Nichtsehen und Unsichtbarkeit, immer in der Hoffnung, die eingeschränkten menschlichen Möglichkeiten der Wahrnehmung und der Erkenntnis überschreiten zu können. Er findet seinen Weg schließlich in der Anrufung eines jungen Mädchens, das ihn in seine Heimat zurückbringen soll. Das Mädchen wird ihm zu einer Jungfrau oder auch Urmutter. Und plötzlich entdeckt der blinde Fürst einen zweiten Blick, einen Blick, der nach innen geht „und aufhört zu sein / gleichwohl aber bleibt.“ Die „Heimsuchung“ durch die Geliebte „labt“ seine „eiternden Augen / Augen die alles sahn / und sich jetzt nurmehr erinnern / an das was sie sahn“. Der nach innen gekehrte Blick wird zum eigentlichen, die von dort aufsteigenden Bilder sind die Erfüllung. Und so beginnt der Fürst für seine Geliebte zu singen, Lieder voller Widersprüche in immer neuen Anläufen, auf dass ihre goldenen Augen zugleich die „allerschwärzesten“ sein mögen:

Und ich will erzählen, nein singen
Märchen, nein Lieder, für dich
so dass ich tief in mir
deine Augen dunkeln sehe
und auf dem Grund deiner Augen
einen roten Glanz von Wein
und um die Ränder
einen Ring reinen Wassers.

Hinter der Lust an mystischen Redefiguren glimmt eine Idee vom Schreiben auf die den leicht lesbaren Hermetiker Gunnar Ekelöf intensiv über die Sprache nachdenken läßt. Mit der Suche nach einer Ursprache, wie sie manche Sprachwissenschaftler oder entlaufene Romantiker pflegten, konnte Ekelöf selbst nie etwas anfangen. Sein Weg wies in eine andere Richtung. In einem Brief an den Orientalisten H.S. Nyberg, seinen ehemaligen Lehrer für Persisch an der Universität Uppsala, schreibt er:

Was ich vielmehr suchte oder suchen wollte, war eine „Sprache in der Sprache“. Auch manche banale Alltagswendung hatte für mich einen erahnten symbolischen oder vielmehr magischen Inhalt, etwas, das von der äußeren, nach außen gerichteten, als faktisch betrachteten Bedeutung abgewandt war. Statt in der u.a. phonetischen Entwicklung der Wörter glaubte ich dies in Nuancen zu erkennen und den subtilen Wechseln des Farb- nicht immer Bedeutungswerts, wenn man z.B. zwei oder mehr Wörter nebeneinander, in Bezug zueinander stellte. Die ,Ursprache‘ war deshalb für mich nicht tot oder ausgestorben, sie war nur verborgen, versteckt in der Konvention, nach der ein Ding dies oder jenes bedeutete. Der Grund lag darin, dass ich die Funktion der Sprache stets als magisch, deshalb potentiell lebendig ansah. Die Ursprache war eine Beschwörung des Sinnlosen.

Es geht Ekelöf also nicht um das konkrete Verständnis, sondern um die Bedeutungsfülle, die er auch eine „Bedeutungsstreuung“ nennt. Eine Idee von Sprache, wie sie etwa die Fachwissenschaften mit ihren Terminologien pflegen – fest umgrenzte Begriffe, die der Definition von Gegenständen dienen – war ihm durchwegs fremd. Jeder Sinn ist für Ekelöf labil und wechselhaft, und ein Wort, das für sich eine Sache bedeutet, kann einen ganz anderen Sinn erhalten, wenn es zum Beispiel in einen Satz eingefügt wird. „Das Gedicht strebt danach“, schreibt Ekelöf in einem kleinen poetologischen Essay, „das Wort aus seinem definierten Sinn freizusetzen und ihm einen neuen Klang, einen neuen Platz im Bewußtsein des Lesers, einen neuen Duft zu geben.“ Und um wieviel mehr gilt dies, wenn mehrere unterschiedliche Wörter zusammenkommen. Dann geschieht nämlich etwas Wundersames, sie erhalten einen Zwischensinn:

Die Grundbedeutungen bleiben, aber darüber spannt sich eine Membran von Nuancen, Abstufungen, Andeutungen zwischen den Wörtern. Die Stärke des Gedichts liegt nicht in den Wörtern als solchen, sondern in der sentimentalen Spannung zwischen den Wörtern. Das Gedicht ist nicht Stein, sondern Mörtel, und der Mörtel ist eine dynamische Mischung vom unterschiedlichen Gewicht, Farbe, Form, Seltenheit der Steine im Verhältnis zueinander.

Fern von bloßer Abbildung kann das Gedicht eine Atmosphäre aufspannen, kann in seinem Gefüge etwas anderes mitschwingen lassen: zwischen den Zeilen, zwischen den Wörtern, zwischen den Bedeutungen. Ekelöf selbst umkreist dieses „Andere“ in seinen Gedichten ein ums andere Mal, umschreibt es hier als „Gefühlsspannung“, dort als „Klima“ oder als tatsächliche „Leere“. Mit seinem großen Gespür für Klänge und Rhythmen öffnet er feine Echoräume in die Sprache. Sein poetischer Mörtel entfaltet am Ende eine ganz eigene Wirkung, vergleichbar einer Strahlung, die dem Gedicht zukommt. Einer Strahlung, die all die Hunde- und Katzenleben ebenso einholt wie die geheimen Schatten der Sepien:

Diese Strahlung hat es durch die Fähigkeit des Dichters erhalten, die Wörter und Bedeutungen in ein solches Reibungs- und Nuancierungsverhältnis zueinander zu setzen, dass die Leere weiter nachbebt, lebt, ausschlägt, ,sendet‘, eine Art von magnetischem Gewebe aus unsichtbaren Fäden, Kraftlinien, die sich gegenseitig anziehen oder abstoßen.

Nico Bleutge, Park, Heft 67, Dezember 2014

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