Peter Bekes: Zu Hans Magnus Enzensbergers Gedicht „Bildzeitung“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Hans Magnus Enzensbergers Gedicht „Bildzeitung“ aus dem Band Hans Magnus Enzensberger: Gedichte 1955–1970. –

 

 

 

 

HANS MAGNUS ENZENSBERGER

Bildzeitung

Du wirst reich sein
Markenstecher Uhrenkleber:
wenn der Mittelstürmer will
wird um eine Mark geköpft
ein ganzes Heer beschmutzter Prinzen
Turandots Mitgift unfehlbarer Tip
Tischlein deck dich:
du wirst reich sein.

Manitypistin Stenoküre
du wirst schön sein:
wenn der Produzent will
wird dich Druckerschwärze salben
zwischen Schenkeln grober Raster
mißgewählter Wechselbalg
Eselin streck dich:
du wirst schön sein.

Sozialvieh Stimmenpartner
du wirst stark sein:
wenn der Präsident will
Boxhandschuh am Innenlenker
Blitzlicht auf das Henkerlächeln
gib doch Zunder gib doch Gas
Knüppel aus dem Sack:
du wirst stark sein.

Auch du auch du auch du
wirst langsam eingehn
an Lohnstreifen und Lügen
reich, stark erniedrigt
durch Musterungen und Malz-
kaffee, schön besudelt mit Straf-
zetteln, Schweiß,
atomarem Dreck:
deine Lungen ein gelbes Riff
aus Nikotin und Verleumdung
Möge die Erde dir leicht sein
wie das Leichentuch
aus Rotation und Betrug
das du dir täglich kaufst
in das du dich täglich wickelst.

 

Das Gedicht „Bildzeitung“ wurde von Hans Magnus Enzensberger im Jahre 1957 in einem in der literarischen Öffentlichkeit vielbeachteten Gedichtband mit dem Titel verteidigung der wölfe publiziert. Die Resonanz auf diese Anthologie war um so nachhaltiger, als hier das erste Mal wieder ein Lyriker – nach einem Zeitraum selbst auferlegter Abstinenz in der deutschen Nachkriegslyrik – versuchte, explizit bestimmte gesellschaftspolitische Probleme in seinen Gedichten zu behandeln.
Sieht man einmal von den beiden wirkungsmächtigsten Protagonisten der deutschen Nachkriegslyrik, G. Benn und B. Brecht, ab, auf die sich der junge Enzensberger als Gewährsleute für seine literarischen Experimente nicht zu Unrecht beruft, so reduzierte sich deutsche Nachkriegslyrik bis zum Erscheinen dieses Bändchens grob umrissen auf zwei Strömungen: auf Naturlyrik und experimentelle Poesie. Den Gedichten der Enzensbergerschen Anthologie ist die ästhetische Differenz zu beiden Strömungen eingeschrieben. Diese verdankt sich nicht nur einer persönlichen Wandlung in der Ausdrucksgesinnung, sondern ist historisch motiviert. Der „heimliche Traum von einer unbeschadeten Welt“, „die Wunschvorstellung einer Wiedergeburt des Mythos aus dem Geiste der Kleingärtnerei“, auf die sich „die Kräutersammler und Botaniseure“ der Naturpoesie beriefen, mußte mit den tatsächlichen Ängsten und Sorgen des Individuums, das sich einer durch soziale Probleme und Widersprüche charakterisierten Umwelt ausgesetzt sah, aufs schärfste kollidieren. Der Rückzug der anderen Richtung auf die Sprachmaterialität entzog ihren Texten häufig genug das konkrete kritische Potential, das einer entfremdeten Restaurationsgesellschaft Widerstand leisten konnte.
Gegenüber dem nur scheinbar ideologiefreien Rückzug in die Natur oder in den Sprachformalismus sucht Enzensberger in seinen Gedichten die Auseinandersetzung in und mit der Gesellschaft.

Diese Lyrik spielte sich nicht mehr im Iuft- und leuteleeren Raume ab, sondern bezog sich auf, verhielt sich zu, brach sich an: Gegenstand und Gegenwart?

H.M. Enzensberger, den die Literaturkritik (Andersch, Holthusen) formelhaft als den zornigen jungen Mann der jungen deutschen Nachkriegsliteratur charakterisierte, machte sich mit seinem Gedichtband zum Wortführer jener verlorenen Generation, die ihre Kindheit und Jugend im nationalsozialistischen Deutschland verbracht hatte, für die also Faschismus, Krieg und Diktatur gerade noch bewußtseinsprägend geworden waren. Und Teile dieser Generation verfolgten mit Argusaugen die gesellschaftspolitischen Entwicklungen, die sich am Ende der fünfziger Jahre in der Bundesrepublik abspielten: das Wirtschaftswunder, das denjenigen wieder Macht und Besitz gebracht hatte, die vor und während der Nazi-Zeit über diese schon verfügten, den restaurativen politischen Kurs, welcher seine „Unlust am Experiment anstandslos sogar wahlmäßig beglaubigte“, die Wiederbewaffnung, den Kalten Krieg, die Monopolisierung der Medien, um hier nur die wichtigsten Tendenzen zu nennen.
H.M. Enzensberger war einer der wenigen literarischen Exponenten solcher kritischen Öffentlichkeit: Er war nicht bereit, sich den herrschenden Trends zu unterwerfen. Mit seiner Lyrik und seinen vielen Essays reagierte er auf die sich in der gesellschaftspolitischen Praxis langsam, aber sicher verfestigenden Widersprüche und Probleme. Zeugnis von solcher Opposition legt sein erster Gedichtband verteidigung der wölfe ab. „Was ihn (Enzensberger) beherrscht“, so notierte der ebenfalls stark gesellschaftspolitisch engagierte A. Andersch in einer Rezension dieses Gedichtbandes, „ist ein Gefühl, das zwischen wildem Haß und hellem Zorn, zwischen hochmütiger Verachtung und Empörung pendelt. Eleganz, Leichtigkeit und souveräne Begabung dienen ihm nur dazu, seinen Haß sprühend zu machen. In dieser Stimmung und mit solchen Mitteln schreibt er seine bösen Gedichte, 18 an der Zahl. Es sind 18 Demaskierungen sondergleichen, 18 zischende Infamien gegen das Infame, 18 eiskalt ausgeführte Schläge in die Fresse der Unmenschlichkeit“. Den hier von Andersch so emphatisch charakterisierten „bösen Gedichten“ hat Enzensberger in seinem Gedichtband zwei weitere Teilbereiche kontrapunktisch zugeordnet: die „freundlichen“ und „traurigen“ Gedichte. Alle diese Texte will der „Autor verstanden wissen als Inschriften, Plakate, Flugblätter, in eine Mauer geritzt, auf eine Mauer geklebt, vor einer Mauer verteilt […] Sie sollen Mitteilungen sein, hier und jetzt, an uns und alle, sollen, wo sie ,freundlich‘ sind, von Paradiesen künden, die wir nicht sehen, wo sie ,traurig‘ sind, gegen die Klagemauer tönen, an der wir vorbeieilen, und wo sie ,böse‘ sind, den Zorn der Welt vermehren um ein Gran“. Auch das Gedicht „Bildzeitung“, will den Zorn der Welt vermehren um ein Gran: Es will Mißstände aufzeigen, hohle und falsche Versprechungen denunzieren, herrschaftskonforme Denkmuster aufbrechen, und das alles am Beispiel eines publizistischen Phänomens, das mit dem Namen der Bewußtseinsindustrie nur sehr allgemein, ja fast verharmlosend umschrieben wird.
Bemerkenswert an diesem Gedicht ist der Umstand, daß das Thema, das der Titel bezeichnet, im Text nie unmittelbar behandelt wird. Allein die letzten vier Zeilen der letzten Strophe:

wie das Leichentuch
aus Rotation und Betrug
das du dir täglich kaufst
in das du dich täglich wickelst

machen, wenn auch noch einmal in leicht verschlüsselter Form, deutlich, daß der Autor den Problemhorizont, mit dem er sich beschäftigt, beileibe nicht aus den Augen verloren hat. Dem Autor ist es offensichtlich nicht darum zu tun, die Boulevardpresse als Symptom einer formierten Gesellschaft direkt im Stile eines Agit-Prop-Verfahrens anzugreifen. Er weiß nur zu genau, daß eine solche Attacke sich unter Umständen, und zwar selbst dann, wenn sie die gute Sache zu vertreten meint, der gleichen Mittel bedienen könnte, die sie verurteilt: des Klischees, der verallgemeinernden Formel, der sprachlichen Abbreviatur, um entsprechende emotionale Wirkungen zu erzielen. Sprache und Vers als Vehikel eines solchen Angriffes können nicht unreflektiert verwendet werden, sonst dekouvriert man diesen, macht ihn unglaubwürdig. Die Kritik bedarf, wenn sie nicht vom gleichen Affirmationsmechanismus absorbiert werden will, der die Bewußtseinsindustrie bestimmt, der literarischen Form, die distanziert, verfremdet und enthüllt. Und diesem Anspruch kommt das Gedicht durch eine virtuos realisierte Sprache nach.
Vorherrschend ist eine Vielfalt an Sprachmitteln und Sprachebenen, die vom Konstrukteur Enzensberger beziehungsreich und mit großem Raffinement miteinander vermittelt und verschränkt werden. Als grundlegendes Verfahren, auf dem das Gedicht basiert, läßt sich das Prinzip der Collage ausmachen. Einmontiert in den Text sind Zauberformeln des Märchens, idiomatische Wendungen und Slogans aus der Umgangssprache, Begriffe aus der industriellen Arbeitswelt und dem Sportjargon, Formeln aus der Sprache der Werbung und der Predigt. Ein Teil dieser Wendungen könnte als Schlagzeilen in der Boulevardpresse ausgebeutet werden. In ihrer Gesamtheit relativieren, entlarven und verfremden sie sich allerdings gegenseitig.
Akzeptiert man das Diktum Enzensbergers – und es spricht nichts dagegen –, daß es gerade die Sprache sei, die den gesellschaftlichen Charakter der Poesie ausmache, dann erscheint es zunächst sinnvoll, den Sprachduktus der einzelnen Strophen daraufhin zu befragen, wie sich in ihm gesellschaftliche Praxis und Bewußtsein niedergeschlagen haben. Auffallend ist zunächst die bis ins Detail gehende gleiche Komposition der drei ersten Strophen. In ihnen werden jeweils drei repräsentative Adressaten bzw. Adressatengruppen der Gesellschaft angesprochen: der Mann in seinem sozialen Status als Arbeiter oder Rentner; die Frau in den Abhängigkeitsverhältnissen des Berufslebens als Stenotypistin und Maniküre und Männer und Frauen gemeinsam im größeren anonymen Kollektiv, in der Menge als „Stimmenvieh“ und „Sozialpartner“. In diesen typischen Positionen kommen sie wohl auch, traut man der Rezipientenforschung der Publizistik, als Leser der Bildzeitung in Frage. Gemeinsam ist den ersten Strophen darüber hinaus das Versprechen, das den Adressaten gegeben wird: „du wirst reich sein“, das wird den Arbeitern, die täglich die Stechuhr bedienen und Marken für ihre Altersversorgung kleben müssen, „du wirst schön sein“ den Frauen, die von Schönheit, Schönheitswettbewerben und Karriere träumen, und „du wirst stark sein“ der großen Menge verkündet. Bezeichnenderweise handelt es sich dabei um die gleichen abstrakten und hohlen Glücksversprechungen, die Tag für Tag von der Boulevard- und Regenbogenpresse ihren Lesern, die solches Glück entbehren müssen, eingehämmert werden. Diesen wird allerdings immer vorenthalten, wie solche Glücksversprechungen in der Praxis überhaupt eingelöst werden können. Die bequemen Zauberformeln aus der Grimmschen Märchenwelt, das „Tischlein deck dich“, das „Eselin streck dich“ und das „Knüppel aus dem Sack“, die der Dichter bemüht, zeigen letztlich das Irreale solcher Glücksverheißungen an. Der schöne Schein der Märchenwelt gerät in einer Wirklichkeit, deren zeitlicher Rhythmus nach dem Takt der Stechuhr bestimmt wird, zur Lüge, zum Betrug am Leser. Die Glückserfüllung, die hier vorgegaukelt wird, wird zum Bumerang für diesen, wenn er in den Schmutz der Gesellschaft und Arbeitswelt – und für diesen bietet das Gedicht eine Fülle von Belegen („ein ganzes Heer beschmutzter Prinzen“, „Druckerschwärze“, „besudelt“, „Schweiß“, „atomarer Dreck“) – zurückgestoßen wird und fortwährend Frustrationen in Kauf nehmen muß. Ihm geht es genauso wie dem „Heer beschmutzter Prinzen“ im alten persischen Märchen „Turandot“, die für die Mitgift der Prinzessin Leib und Leben riskieren und die fast alle, da sie die von ihr gestellten Rätsel nicht lösen, geköpft werden. Um Reichtum geköpft – Enzensberger spielt in diesem Zusammenhang geschickt die im Montageverfahren liegenden assoziativen Möglichkeiten aus – wird allerdings auch noch in einem anderen Bereich: im Fußball. Die sog. unfehlbaren Tips, die Woche für Woche dem Leser im Fußballtoto gegeben werden und die sich doch immer wieder als Fehlinformationen herausstellen, besitzen ihr Korrelat in den Scheinlösungen der königlichen Bewerber, die ihr kühnes Unterfangen allerdings sofort – das ist der einzige Unterschied – mit ihrem Leben bezahlen müssen.
Das, was in unserer Deutung als eindeutige Stellungnahme des Verfassers erscheint, muß freilich, wenn man objektiv sein will, als eine subjektive, wenngleich durchaus mögliche Konkretisation der ersten Gedichtstrophe erscheinen. Das kunstvolle Arrangement der Collagen, das verfremdende Trennen und Umbauen des Wortmaterials („Markenstecher Uhrenkleber“ usw.), das Vor- und Rückweisen einzelner Syntagmen, die Durchdringung und Konfrontation von Arbeits- und Märchenwelt, die harmlose Freizeitbeschäftigung, das Totospiel, das sich im blutigen Ernst der Märchenwelt widerspiegelt, alle diese Verschränkungen und Vermittlungen inszenieren ein komplexes Bedeutungsspiel, das dem Leser Raum gibt, eine Vielfalt von Sinnbezügen im Gedicht zu entdecken: So schrumpft der in der ersten Strophe angesprochene Adressat nicht nur auf funktionale Tätigkeiten seiner Arbeitswelt und seines Rentnerdaseins zusammen, unterschwellig konnotiert die Vertauschung der jeweiligen Wortbestandteile im dritten Vers Aggression („Markenstecher“) und notdürftige Wiederherstellung nach Zerstörung („ Uhrenkleber“).
Mehrwertige Bedeutungsprozesse vermag auch die zweite Gedichtstrophe auszulösen: Ist es in der ersten Strophe der Mittelstürmer, der angeblich mit über die Realisierungsmöglichkeiten des Glücksversprechens entscheidet, so ist es in der zweiten Strophe der Produzent, der den Traum der Frauen, schön zu werden, erfüllen kann. Er zeichnet allerdings auch die sozio-ökonomischen Bedingungen vor, die solches Schönsein allererst ermöglichen: Promotion, Starkult, Vermarktung, Entpersonalisierung, Gefügigkeit. Schönheit ist für den, der sie produziert und ihre Trägerinnen hemmungslos ausbeutet, Tauschwert; sie wird zur abstrakten austauschbaren Warenform: Sie muß im wahrsten Sinn des Wortes von denen, die sie erlangen wollen, mit Hörigkeit und Dummheit bezahlt werden. Mit dem vom Produzenten in Gang gesetzten Initiationsritus der Massenpresse („wird dich Druckerschwärze salben“), deren Werbedienste nichts anderes als den Versuch darstellen, selbst noch an der Ware zu verdienen, beginnt der Dressurakt und endet mit dem depravierten Status der Frau als „mißgewählter Wechselbalg“. Dabei nutzt Enzensberger geschickt die Doppeldeutigkeit des Präfixes „miß“ aus. Vordergründig wird auf das Küren der Frau zur Ausnahmeperson, zur „Miß“ angespielt. Grundiert wird solcher inhaltlicher Bezug allerdings von den pejorativen Konnotationen der Vorsilbe „miß“, die eben das Mißverhältnis bezeichnet zwischen dem, was man der Frau verheißt, und dem, was man aus ihr macht: den aufs Kreatürliche, aufs Körperliche reduzierten „Balg“, der ausgestoßen und entmündigt als Ware fungibel geworden ist. Austauschbarkeit und Verwertbarkeit sind die Signaturen eines auch von der Massenpresse angekurbelten Prozesses, der den Frauen Glück in Form von Schönheit verspricht, aber mechanische Befriedigung von voyeuristischen Sexualbedürfnissen („zwischen Schenkel grober Raster“) durch willfährige Objekte („Eselin streck dich“) und die Durchsetzung von Profitinteressen meint.
Die dritte Strophe thematisiert die Rolle der Bildzeitung im Rahmen einer Law-and-order-Politik. Der „Boxhandschuh am Innenlenker“ macht in metaphorischer Weise die treibende Kraft der Boulevardpresse in diesem Zusammenhang deutlich. Sie verspricht den Massen Stärke und meint politischen Dirigismus („Innenlenker“) sowie pure körperliche Gewalt („Boxhandschuh“). Aggressivität und Rücksichtslosigkeit gegenüber den Mitmenschen sind die Schattenseiten jener Stärke, die sie dem einzelnen anbietet. Damit leistet sie der Brutalisierung der Gesellschaft Vorschub: Konflikte und Probleme, so animiert sie ihre Leser im sportlich-jugendlichen Jargon, sind allemal leichter lösbar, wenn man diese noch künstlich anheizt und dabei das entsprechende Durchsetzungsvermögen den anderen gegenüber zeigt („gib doch Zunder gib doch Gas“). Aktivität und Initiative, die den Adressaten hier fast insistierend zugebilligt werden, sind indes nur scheinbar. Das Angebot der Stärke an die Massen ist durchweg an den Willen des Präsidenten, mithin an die Immanenz des jeweiligen politischen Systems geknüpft. Gleichwohl preist die Boulevardpresse selbst das „lackierte gesicht der gewalt“, das gewinnende Lächeln des Henkers, dem einzelnen, dessen Sensationslust befriedigt werden muß, noch „als glück“ an. Der Kult der individuellen Stärke, den sie propagiert, enthüllt sich letztlich als fortwährende Demontage des Individuums. Das Knüppel-aus-dem-Sack aus dem Grimmschen Märchen wird zum Schlaginstrument von Herrschaft, das den auch in der Massenpresse vielzitierten mündigen Bürger fortwährend in Schach hält. Die anderen erhalten in ihren Artikeln nur deshalb ihre Prügel, damit die Leser sich an die eigenen gewöhnen. Diese werden nur noch – auch hierin wird die Handlangerfunktion der Boulevardpresse für eine repressive Politik deutlich – bei Wahlen als Partner akzeptiert („Stimmenpartner“); in sozialen Belangen sind sie nichts anderes als Vieh („Sozialvieh“).
Wie es um das persönliche Dasein dieser Leser, um ihre Umwelt, ihre Erwartungen, um die Anforderungen, die man an sie richtet, bestellt ist, das teilt sich in der vierten Strophe mit. Wird der Leser der ersten drei Strophen bei aufmerksamer Lektüre schon die Scheinhaftigkeit und Verlogenheit solcher Glücksversprechungen erkannt haben, so ist die Entlarvung in der vierten Strophe ganz offensichtlich.
Konfrontiert wird die illusionäre Welt der „Bildzeitung“, ihre seichten Glücksverheißungen, mit der Wirklichkeit, die ihre Leser Tag für Tag hautnah erfahren müssen. Dem verlogenen Soll wird das ungeschminkte Ist kontrastiert. Die Adressaten der drei voraufgegangenen Strophen werden nochmals allesamt persönlich, fast demonstrativ (Z. 26) angesprochen und auf den Plan gerufen: Der Sprachton, der von Enzensberger gewählt wird, mutet prophetisch an. Verheißen wird ihnen allen das langsame Sterben in ihrer Welt. Der Reichtum, der ihnen in ihrer Wirklichkeit beschert wird, ist die Fülle der Lohnstreifen und Lügen; sie werden stark erniedrigt durch Musterungen und schön besudelt mit Strafzetteln. Die Pervertierung der versprochenen Güter ist damit auch sprachlich durch Kontextverfremdung sinnfällig gemacht. In einer Wirklichkeit, die durch Bürokratisierung („Lohnstreifen“), durch die alltäglichen Scherereien mit amtlichen Verordnungen („Strafzetteln“), durch die täglichen kleinen Unwahrheiten, durch den billigen Genuß von Ersatzkaffee (Z. 30/31), durch amtliche Überprüfungen der Tauglichkeit zum Kriegsdienst, zum staatlich lizensierten Morden („Musterung“), durch den Schweiß der Arbeit und durch den atomaren Dreck der Industrieanlagen charakterisiert ist, enthüllen sich die von der „Bildzeitung“ angebotenen Surrogate als schamlose Betrügereien. Eine solche Wirklichkeit, die Tag für Tag Frustrationen, Entbehrungen, Verleumdungen und Repressionen bereithält, in der die psychische Verelendung durch die physische begleitet wird („deine Lungen ein gelbes Riff“), kann nicht so „leicht sein“ – die voluntative Geste der 11. Zeile trägt schon ihre eigene Negation in sich –, wie das die Glücksangebote der Massenpresse verheißen. Die Arbeit des einzelnen, deren Mühsal nur noch durch das ständige Rauchen von Zigaretten erträglich ist und die mit unübersichtlichen Lohnstreifen entgolten wird, zeugt wider die seichten Versprechungen der Bewußtseinsindustrie. Die zum Leben notwendige Luft ist verseucht: Was der Schmutz der Umwelt nicht schon physisch ruiniert hat, wird im psychischen Sinne von den Verleumdungen und Erniedrigungen besorgt, die der einzelne täglich in Kauf nehmen muß.
Hinter dieser Strophe stehen Warnung und Appell des Autors an die Leser, die Wirklichkeit, in der sie leben und unter der sie häufig genug leiden, zu erkennen und die schönen Verschleierungen und Bemäntelungen der „Bildzeitung“ zu durchstoßen. Dieses „Leichentuch / aus Rotation und Betrug“, in das das angesprochene Du sich täglich wickelt und von dem es sich täglich „einwickeln“ läßt, macht es nicht nur blind für die virulenten Probleme seiner Wirklichkeit, sondern verdeckt letztlich auch noch seine Bedürfnisse, eine lebenswerte Form des Daseins zu schaffen. Wird dieser verhängnisvolle, durch den täglichen Kauf der Zeitung verlängerte Zirkel („Rotation“) von diffuser Bedürfnisweckung und -hemmung nicht aufgebrochen, so ist dieses Du – das ist die unerbittliche Konsequenz Enzensbergers – schon zu Lebzeiten tot, „ansässig im gemütlichen Elend, / in der netten zufriedenen grube“.
Das Kontinuum an Reflexion, das in solcher Totalkritik an der Gesellschaft und an den in ihr industriell verfertigten Bewußtseinsformen im Leser erzeugt wird, vermag der Autor durch eine Reihe von poetischen Prozeduren immer wieder neu zu initiieren: überraschende Zeilenbrechungen und Zeilensprünge, direkte Verbindung von abstrakten und konkreten Wendungen („aus Nikotin und Verleumdung“; „an Lohnstreifen und Lügen“), kühne, fast visionäre Metaphorik („deine Lungen ein gelbes Riff“), überhaupt die paradoxe Zusammenstellung von Worten und Wendungen zu ungeläufigen Kombinationen fordern vom Leser ein hohes Maß an Konzentration und Flexibilität. Dieser ist immer wieder veranlaßt, neue Querverbindungen zu ziehen und damit neue Bedeutungshöfe zu erschließen. Die Stärke dieses Gedichtes besteht darin, daß es nicht platt bestimmte ideologische Denksysteme vermittelt; im Gegenteil, dessen ästhetische Form stellt für den Leser eine permanente Provokation dar. Hierin liegt die politische Wirkung dieses Gedichts begründet. Es vermag zwar nicht direkt in die gesellschaftliche Praxis einzugreifen – der frühe Enzensberger würde sich auch einem solchen Auftrag schlechterdings verweigern –, aber es vermag das Bewußtsein für Probleme und Widersprüche gesellschaftlicher Praxis zu schärfen. In dieser Hinsicht tradiert es immer schon, „und sei’s im Modus des Zweifels, der Absage, der Verneinung“, ein Stück Zukunft.

Aus Peter Bekes, Wilhelm Große, Georg Guntermann, Hans-Otto Hügel und Hajo Kurzenberger: Deutsche Gegenwartslyrik, Wilhelm Fink Verlag, 1982

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