Peter Gosse: Zu Manfred Jendryschiks Gedicht „Ein Anfang. Für Pjotr“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Manfred Jendryschiks Gedicht „Ein Anfang. Für Pjotr“. –

 

 

 

 

MANFRED JENDRYSCHIK

Ein Anfang. Für Pjotr

Das ist die Hoffnung: ich
Freund, aus Holz
wär ich, ein Baum

schlägt nicht, schrägt ihn
der Wind, den nächsten weg; sie
stürzen ineinander, krachendes Knäuel
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaasich stützend

Erdes Haut die chlorophyllne Stimme
einer des andern Wurzel des andern Blatt
oder ein Drittes, ja
aaaaaaaaaaaaaaaaawächst unter ihnen, grünt?
Sie mit den schlaffen Armästen
den welken verworrnen, ein Dach

 

Zu Verenden / Anzufangen

I
Gedichte müssen dicht sein, verdichtet – das allein hebt sie ja ab von den Sprachgebilden anderer Genres. In Dichtung, triftiger als sonst in Literatur, kommt es – simpel gesagt – auf jeden Buchstaben an. Tatsächlich: Welch betörender Sog, den der Wegfall eines winzigen „n“ stiftet. Unmittelbar zu Beginn des alttestamentlichen Hohelieds lesen wir die bewundernde Anrede des Mädchens Sulamith an seinen Geliebten: „Es riechen deine Salben köstlich“. Wir denken, rechtens, an wohlriechende Cremes. Doch die Übersetzung Goethes! Er gibt, anders als Luther, den Singular, „Salbe“:

Trefflicher ist deine Liebe denn Wein. Welch ein süßer Geruch deine Salbe, ausgegoßne Salb ist dein Name, drum lieben dich die Mädchen. Zeuch mich!

Nichts ist geändert, und alles. Die Salbe scheint nun von besonderer Natur, auch durch ihre Dünnflüssigkeit, denn sie ist „ausgegossen“ – im Unterschied zum undeutlichen „ausgeschüttet“ Luthers – und darin dem Rauschgetränk Wein nahe, dem wiederum die „Liebe“ anverglichen wird. Selbst wenn man die akustische Nachbarschaft „Salbe“ – „Same“ überhört, spürt man, daß sie, die Liebe, aus allgemeiner Apotheose gelöst und in Feier sehr fleischlichen Eins-sein-Wollens hineingesteigert ist.
Nicht nur, daß Jendryschiks Gedicht „Ein Anfang. Für Pjotr“ solche Feier nicht bereithält – es verwahrt sich gegen Buchstabenuntersuchungen. Es hebt zu inständig an, als daß sich nicht etwas wie Scham einstellte, fühlte analytischer Spürsinn sich angesprochen:

Das ist die Hoffnung: ich
Freund, aus Holz

Ein desolater Satz, geflüstert, beinahe nur gedacht. (Novalis: „Die Steine und die Stoffe sind das Höchste, der Mensch ist das eigentliche Chaos.“) Die nahe Anrede ist Absage der Nähe: Die Freundschaft, erfüllte sich die Hoffnung, hölzern zu werden, wäre ja aufgekündigt; Hoffnung ist gerichtet auf Hoffnungsloses. Welches Unmaß von Verstörung, da Nicht-Leben herbeigesehnt wird!

Doch der folgende Vers mildert „Holz“ in „Baum“:

Das ist die Hoffnung: ich
Freund, aus Holz
wär ich, ein Baum

Von Bäumen heißt es dann: sie schlagen einander nicht, wenn sie der Sturm schrägt; stürzen sie, so verknäueln sie sich gegen den Sturz und stützen einander. Baum zu sein wäre also eine Hoffnung, Verzweiflung ist angezweifelt.
Wie wird das weitergehn?

II
Auf Zwiespältiges darf man gefaßt sein in Jendryschiks dichteren Texten. Diesem etwa:

Der SANFTE MITTAG. Zunehmende Sprachhemmungen. Die Worthülsen auf dem Exerzierplatz verstreut. Während ich die eingeschrumpften Leichen, meine Bilder sammle, halten die Vögel, denk ich, im Flug inne, stehn über meinem Kopf. Sanft ist der Mittag.

Auf dem Exerzier-, dem Exerzitien-Platz, als den man sich ein Blatt Papier vorstellen kann (oder Literatur überhaupt), findet sich nicht Leben ein, sondern dessen Abklatsch: tote vereinzelte „Bilder“. Dagegen oben die wirklichen „Vögel“ in der mittäglichen Sanftheit, die erhaben ist über den eifernden Einfangversuch mittels patronenhafter Wörter. Die sind verschossen, „Hülsen“ nur liegen verstreut umher: während sie, die Sanftheit des Tatsächlichen, unanfechtbar herrscht, eben „ist: Sanft ist der Mittag“. Also: Es lebe die „zunehmende Sprachhemmung“, die den Lebens-Ersatz Literatur zurücknimmt! Es lebe das Leben in seinem durchsättigten Glanz!
Oder aber sind die Sprachhemmungen zu betrauern? Nachdem ich übungshaft auf Bilder Jagd gemacht habe, „denke ich“ unversehens (und so, daß ich mein Gesicht nicht zu heben wage) an die wirklichen Vögel, in die hinein ich hätte halten müssen (und sei es vermittels – engagierterer – Sprache)! Denn die Vögel sind diejenigen des Hitchcock-Films, und nur durch angestrengtes Herbeiträumen eines Wunders (indem ich sie im Sturzflug „innehalten“ und über mir „stehen“ mache) bewahre ich mich vor ihnen. In Wahrheit aber fallen sie mich bereits an. Will sagen: Kunst, nestelt sie sich ein Wolkenkuckucksheim, erweist sich als kümmerliche Zuflucht.
Oder sind die Vögel doch von der Art, wie Aristophanes sie in der gleichnamigen aristokratenfreundlichen Komödie vorführt! Noch durch den Spott hindurch blinkt die untilgbare Utopie vom Reich der Freiheit, das beim großen Griechen der Vogelstaat vorstellt. Wie eine Versuchung schwebten dann, in Jendryschiks Gebilde, die Geflügelten über uns?
Was also „sagt“ die Miniatur? Uneinhelliges. Ja, sie handelt geradezu von Uneinhelligkeit. Das „Sanfte“ muß, zunächst, von lähmendster Art sein: es hat Sprachhemmungen im Gefolge, die man dem Sätzestaccato des Textbeginns anhört. Doch mit einemmal findet Sprache sich enthemmt. Ein langwieriger Satz stockt sich auf, stauungsreich und geschmeidig; in ihm ist den Vögeln Sanftheit so angedichtet, daß sie ihnen tatsächlich abgehen muß. (Ich stelle mir Harpyen vor.) Gänzlich verklärend dann der Schlußsatz. Gerade die Striktheit der Behauptung (deren Vater ja immer der Wunsch ist) weist auf Illusionäres: In Wahrheit ist der Mittag unsanft.
Sanftmut, die, als Friedhofsstille, eingangs bedauert war, wird nun, als eine Gnade, herbeigesehnt. Daß man sich gelegentlich Wind und bald darauf Windstille wünscht, scheint mir keine zureichende Erklärung. Womöglich sieht sich da einer in allzu betuliche und (daher?) malmende Gegebenheiten gestellt?

III
Zurück aber zum „… Anfang…“, zur Preisung des „Baums“: der

schlägt nicht, schrägt ihn
der Wind, den nächsten Weg; sie
stürzen ineinander, krachendes Knäuel sich stützend
Erdes Haut die chlorophyllne Stimme
einer des andern Wurzel des andern Blatt

Diese Bäume halten uns Menschlichkeit vor, das Eigentliche, man hört es: Die Alliterationen („schlägt-schrägt“, „krachendes Knäuel“, „stürzen-stützend“) peitschen auf „stützend“ zu, auf Solidarität. Und sind so, Jendryschiks Bäume, aus dem Holz der „Eichbäume“ Hölderlins: „Und ihr drängt euch (…) / Untereinander herauf und ergreift, wie der Adler die Beute, / Mit gewaltigem Arme den Raum, und gegen die Wolken / Ist euch heiter und groß die sonnige Krone gerichtet“. Und weiter, nach jenen Singularen (der „Arm“, die „Krone“), die das Ähnliche, ja Assoziierte der „heiteren, sonnigen“ Gewächse schon anzeigen – weiter also: „Eine Welt ist jeder von euch, wie die Sterne des Himmels / Lebt ihr, jeder ein Gott, in freiem Bunde zusammen“.
Diese und jene Bäume aus selbem Stoff? Ja. Nur hier wachsend aus wuchshindernder friedhöflicher Ruhe hinaus, dort widerstehend bestürzender Unruhe. (Zwar fallen sie, doch fallen nicht voneinander ab.) Hier ein Nicht-Bleiben, da umher alles bleibt, wie es ist, dort ein Bleiben, da nichts, wie es ist, bleibt. (Kein Stein auf dem andern.) Nicht die Bäume unterscheiden sich, sondern der Grund, in dem sie wachsen: hier starr, dort in Verwerfung. Die Äste der einander Stützenden wie der Hinaufdrängenden weisen in dieselbe, verhinderte, Mitte, die wohlige Bewegung heißt (und um die auch der „Sanfte Mittag“ vibriert).

IV
Tatsächlich ist im diskantischen Beschwören der „chlorophyllnen Stimme“ Montaigne vernehmbar:

Die Freundschaft (ist) die eigentliche Erfüllung des Ideals der Gesellschaft: alle anderen Beweggründe für menschliche Bindungen, sexuelle Anziehung, Vorteil, Notwendigkeit (…) sind weniger schön und uneigennützig. Von ihr geht eine dauernde stille, ganz süße und ganz feine Wärme, die nicht sengt und nicht verletzt.

Freundschaft als menschliche Gipfelbeziehung, deren allgemeines Fehlen Herder, in „Kritische Wälder“, I. Wäldchen, 4, bitter beklagt: „so fremde ist für sie“ (Herders und, seines Erachtens, alle folgende Zeit) „der um seinen Patroklus weinende und bis zum Unsinn betrübte und rasende Achill!“ Der enorme Enzyklopädiker nennt Ursachen:

die Art des Lebens mache nicht mehr zween solch Begleiter im Leben und Tode nötig: der Beruf des Menschen zu arbeiten (…) werde verschiedner und gleichsam unsteter: der Zustand der Bürger und Mitbürger ruhiger: jeder sich selbst sein Gott in der Welt.

Herder, wie gesagt, vermerkt dies stöhnend. Und „jeder sein Gott“ unterscheidet sich in der Tat heftig von Hölderlins bewundernder Anrufung in den „Eichbäumen“: „jeder ein Gott“. Dennoch komme ich nicht umhin, die Umstände auch zu mögen, die „zween Begleiter“ überflüssig macht. Wohl denen, deren Freundschaft schwindet: mit dem Stachel, den zu umschmiegen sie da ist. Deren Schutzbündnis fallen kann aus Mangel an Bedrohung.
Sichtlich sind zwei Ränder, an denen Freundschaft sich auflöst: Wo (Un-)Leben sie verhindert (Hofmannsthal, im Chandos-Brief, sind die eignen Gliedmaßen fremd, geschweige die Anderer) sowie wo Leben, weil ganz gelingend, sie nicht hervornötigt. Mit anderen Worten: Freundschaft kann sowohl Gesellschaftsentwurf sein als auch dessen Verhinderung: werkelnd an „der Auflösung des Sozialbaus zu Akten gegenseitiger Hilfe, zu kleinen, sich selbst verwaltenden Gemeinden, wo jedes Glied sich kennt und der feine Liquorgeschmack alter Freundschaft gewaltlos hindurchzieht“. (Bloch)
Von dieser Ambivalenz muß das Gedicht wissen. Es übersingt, einen Atemzug lang, den Windbruch. Sozusagen mit geschlossenen Augen schwelgt es in einer sich selbst genügenden Vereinung, der jene Montaignesche „ganz süße und ganz feine Wärme“ derart eignet, daß draußen die Welt als belangarm wegsackt:

einer des andern Wurzel des andern Blatt.

Ein Vers, der sich von keinem (ja immer trennenden) Satzzeichen beeinträchtigen lassen will.
Und ist dann doch zu erwachsen, sich am „feinen Liquorgeschmack“ ganz zu betäuben. Kann, selbst „wenn die allgemeine Sonne untergegangen ist“, mit dem „Lampenlicht des Privaten“ (Marx) nicht vorlieb nehmen. Die Augen öffnen sich, und bang steht da die Frage, mit unsicherem linkischem „ja“:

oder ein Drittes, ja
aaaaaaaaaaaaaaawächst unter ihnen, grünt?

Wenn schon wir nicht, dann doch wenigstens andere? Nach uns doch, hoffentlich, nicht die Sintflut?

V
Grünt Nach-Wuchs? Die Frage erscheint mir als der Angelpunkt des Gedichts.
Wäre sie zu bejahen, verginge wohl das eigene Leben, nicht aber das Leben schlechthin. Dieser Trost.
Die offenbare Antwort jedoch lautet: Nein. Zwar bilden die gebrochenen Freunde/Bäume „ein Dach“, aber mit „schlaffen verworrnen Armästen“ liegen sie ineinander; nicht mehr welkend, bereits „welk“:

Sie mit den schlaffen Armästen
den welken verworrnen

Nahegehende Worte. Arm und Ast sind nun Eines; das Spiel mit der Metapher endigt, und letztendlicher Ernst zieht ein. Sozusagen selber die Arme baumelnd lassend, versagt die Elegie sich das Tätigkeitswort. Aus fahrigen Zeilensprüngen – von Hybris und Hoffen getrieben – ist sie zur Ruhe gekommen. Qualvoll ist dieser Schlußsatz-Torso hergebabelt.
Kein „Drittes“ grünt.
Oder doch?
„Erdes Haut“ war von außen gesehen, in kosmischer Draufsicht. Nun hat sich, kaum merklich, der Sichtpunkt an die Erde heranverlagert. Das Grünende ist es, das schließlich die Gefällten oben sieht (oder wir sehen sie aus dem Grünenden heraus): als Dach. Durchs unscheinbare Mittel der Perspektiveänderung kommt Perspektive ein, Zukunft. Die „chlorophyllne Stimme“ währt. Kein Grund, darob in Nietzsches Freude zu verfallen, doch immerhin: ins Verenden schwingt Anfang. Die vergehenden Alten, indem sie sich hinhalten übers Wachsende – so ganz können sie nicht vergehen. Diese innige Ermutigung. So ganz wird man, hoffentlich, ob seines Welkens in Unordnung nicht geraten.

Peter Gosse, in Peter Gosse: Mundwerk. Essays. Mitteldeutscher Verlag, 1983

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00