Peter Härtling: Zu Bernd Jentzschs Gedicht „Gedächtnis“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Bernd Jentzschs Gedicht „Gedächtnis“ aus Bernd Jentzsch: Quartiermachen.

 

 

 

 

BERND JENTZSCH

Gedächtnis

Im Fremden ungewollt zuhaus.
Wer schrieb das?
Ich, oder du,
Als du gingst durch Zürichs Hügelgassen.
Du hast es aufgeschrieben,
Wo ich jetzt gehe,
Im Fremden ungewollt zuhaus.

 

Der wiederholte Satz

Bernd Jentzschs Gedicht gibt sich bescheiden: Es scheint einfach und hat doch einen doppelten Boden. Es spricht leise und möchte doch schreien. Es erzählt einen Sachverhalt und doch zwei Geschichten. Es wirkt wie aus einem Guß und hat doch zwei „Gießer“ gehabt.
Auch der Titel entpuppt sich als List. Anstelle von „Gedächtnis“ könnte ebenso gut „Gedenken“ stehen. Beides ist gemeint und beides meint eines: Exil. Und wiederum, im Namen Zahlloser, das Exil von zweien: von Bernd Jentzsch und Max Herrmann-Neiße. Um dies zu erklären, sei in aller Kürze eine Geschichte erzählt.
Jentzsch, 1940 in Plauen im Vogtland geboren, lebte und arbeitete bis zum Herbst 1976 in der DDR. Er veröffentlichte Gedichte, Erzählungen, Kinderbücher und machte sich einen Namen als kundiger Herausgeber. Als Wolf Biermann ausgewiesen wurde, hielt sich Jentzsch in der Schweiz auf, und in einem offenen Brief an Erich Honecker nahm er fürs erste Abschied von seinem Land. Unversehens, „ungewollt“ fand er sich in Zürich, im Exil, wieder. Und ihm, dem Belesenen, fiel ein anderer ein, für den, dreiunddreißig Jahre zuvor, Zürich die erste Station auf der Flucht vor Hitler war: Max Herrmann-Neiße, einer der großen unerkannten Lyriker unseres Jahrhunderts. Er hat viele Zeilen über das Exil geschrieben; bittere wie „Ein deutscher Dichter bin ich einst gewesen“ und verwundet-verwunderte wie „Im Fremden ungewollt zuhaus“.
Der Schatten wird brüderlich. Die Zeile des Vorgängers (welche Bedeutung bekommt plötzlich dieses Wort) wird erfahren und zur eigenen. Die ungewollte Wirklichkeit bestätigt die paradoxe Einsicht: Im Fremden zu Hause zu sein. „Im Fremden ungewollt zuhaus.“ Nun läßt sich gegen den Schmerz weiterreden, weiterfragen:

Wer schrieb das?

Die Geschichte wiederholt sich wohl nie ganz, aber die von der Geschichte Getriebenen können Sätze wie Losungen tauschen. „Als du gingst durch Zürichs Hügelgassen.“ Voller Zärtlichkeit gibt der Jüngere dem Vergessenen seinen Schatten und seinen Satz zurück. „Du hast es aufgeschrieben.“ Es ist ein Bündnis, in dem jeder seine Stimme gegen die Zeit haben soll. Der eine erlitt, was der andere zu erleiden beginnt:

Wo ich jetzt gehe,
Im Fremden ungewollt zuhaus.

So schlicht kann Schwieriges gesagt werden. Unauflösbar schwierig aber wird es wieder, wenn der Redende an den Angeredeten denkt. Bernd Jentzsch, inzwischen Lektor in Olten, und immerhin in seinem Sprachraum, weiß, daß Max Herrmann-Neiße 1941 in London vereinsamt, ausgestoßen aus der geliebten Sprache, starb. Darum bleibt das Gedicht, das sich als Rondo schließt, dennoch offen.

Peter Härtlingaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Fünfter Band, Insel Verlag, 1980

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