Peter Härtling: Zu Max Herrmann-Neißes Gedicht „Dein Haar“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Max Herrmann-Neißes Gedicht „Dein Haar“ aus Max Hermann-Neiße: Gesammelte Werke. Gedichte I: Im Stern des Schmerzes. –

 

 

 

 

MAX HERRMANN-NEISSE

Dein Haar

Dein Haar hat Lieder, die ich liebe,
und sanfte Abende am Meer –
O glückte mir die Welt! O bliebe
mein Tag nicht stets unselig leer!

So kann ich nichts, als matt verlegen
vertrösten oder wehe tun,
und von den wundersamsten Wegen
bleibt mir der Staub nur auf den Schuhn.

Und meine Träume sind wie Diebe,
und meine Freuden frieren sehr –
dein Haar hat Lieder, die ich liebe,
und sanfte Abende am Meer.

 

Leni und Max

Es war ein Paar, das den Klatsch der Berliner Gesellschaft schürte: Sie – hochgewachsen, herausfordernd schön, ein Mannequin; er – klein, verwachsen, bucklig, mit einem allzu großen, allzu schweren Kopf, ein Dichter: Leni und Max Herrmann-Neiße. Sie waren aus ihrer Heimatstadt, Neiße, nach Berlin gezogen, voller Erwartungen und Ehrgeiz, stellten sich dar und aus und spielten Rollen.
Franz Pfemfert veröffentlichte in seiner Zeitschrift Aktion regelmäßig Gedichte Max Herrmann-Neißes, und Leni las, den Tag zur Nacht machend, die lyrischen Liebeserklärungen ihres Mannes. Selbst den Titel seines 1914 bei S. Fischer erscheinenden Gedichtbandes Sie und die Stadt schenkte er ihr. „Dein Haar hat Lieder, die ich liebe“, schrieb er später, nach dem Ersten Weltkrieg, im beginnenden unruhigen Frieden. In dem Gedicht, das ein Lied sein könnte, stellt die Erinnerung Gegenwart her, widersetzt sich die Melancholie der Resignation.
Liedhaft setzt der Dichter ein, Vokale ausspielend, mehrfach das A und das I.

Dein Haar hat Lieder, die ich liebe,
und sanfte Abende am Meer.

Da beugt sich einer über seine Liebste und atmet den Duft ihres Haars ein, gibt seiner Phantasie, seinen Wünschen nach. Merkwürdig, diese Verse erinnern mich an Geschöpfe Eduard Keyserlings, an „Wellen“: Es ist eine Liebe, die um ihre Haltbarkeit fürchtet, sich Ferienglück wünscht. So verwandelt sich die Metapher in eine Beschwörungsformel – gegen die Unwirtlichkeit und die Unsicherheit des Lebens und der Liebe. Der selige Augenblick vergeht, und in einem tiefen Seufzer versucht der Liebende ihn zu halten:

O glückte mir die Welt!

Das Unvereinbare, die Melancholien heben sich im Spiel auf.
Die beiden mischen sich mit Laune in die Hauptstadtszene: Leni brilliert auf dem Laufsteg; Max tritt in Kabaretts auf, eine bizarre, Witz und Wehmut bündelnde Figur, geliebt und geschätzt von den Kollegen Werner Finck, Alfred Polgar und Claire Waldoff. Couplets sind gleichwohl nicht seine Sache. Er zieht Lieder vor, in denen die Liebe ihre Verse findet und ebenso der Zweifel an ihrer Haltbarkeit. Er kennt das schmerzende Hin und Her:

So kann ich nichts, als matt verlegen
vertrösten oder wehe tun.

Alfred Kerr, den er verehrt, schreibt er, in einer kunstvollen Pirouette des Selbstzweifels, aus Breslau:

Und am liebsten (möchte) ich hier bleiben. Und Frau Leni ist ja leider ganz im ,mondänen‘ Berlin aufgegangen, dass sie da nicht mehr loszueisen ist. – Immerhin werde ich am 23. Mai 40 Jahre alt. Und ich bin noch der haltlose Nebbich, der ich schon anno 1906 war. Völlig unbekannt als Lyriker.

Er übertreibt. Seine Gedichte werden gerühmt von Else Lasker-Schüler und Oskar Loerke. Er bekommt den Eichendorff-Preis.
Das Gedicht ist ein Rondo: Sein Anfang kehrt am Ende wieder. Das Arioso fängt die trübe Dreinrede auf. Die Liebe kann beschworen werden. Sie wird dauern. 1933 beginnt er ein Gedicht:

Ich sah das Dunkel schon von Ferne kommen.

Mit Leni geht er, kurz nach dem Reichstagsbrand, ins Exil, zuerst in die Schweiz, dann nach London, wo das ganz und gar mittellose Paar einen Gönner findet, den Juwelier Alphonse Sondheimer. Max wird, rastlos seine Gedanken ausschickend, krank von Heimweh, der große Dichter des Exils.
Leni beginnt ein Verhältnis mit Sondheimer und heiratet ihn, nachdem Max 1941 an einem Herzinfarkt starb, der kleine geplagte Leib in „fremder Erde“ begraben wird. Im Dezember 1941 schreibt Heinrich Mann der „verehrten Frau Leni Herrmann“ aus seinem kalifornischen Exil:

Die Gedichte, die von Ihnen handeln, sind einzig in ihrer Innigkeit von unwandelbarem Glück, samt den schmerzlichen Zwischenklängen. Ich glaube, dass eine dermaßen beständige Verbundenheit niemals ausgedrückt und nur selten erlebt worden ist.

Leni gab die Gedichte, die er hinterließ, in zwei Bänden, 1941 und 1942, heraus. Manche waren, wie immer, Botschaften an sie:

Das Schwerste muß getreuer Liebe glücken;
denk an die Wirren, die sie überwand!
Wir wollen näher aneinanderrücken,
und laß mir bis zum Letzten deine Hand!

1960 nahm sie sich das Leben.

Peter Härtling, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Sechsunddreißigster Band, Insel Verlag, 2013

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