Peter-Huchel-Preis 1984: Manfred Peter Hein

Mashup von Juliane Duda zum Peter-Huchel-Preis 1984: Manfred Peter Hein

Peter-Huchel-Preis 1984: Manfred Peter Hein

DENKMAL

Dies ist ein einfaches Verfahren              Und nicht der
aaaaaRede wert
Wenn ich höre wie die Möwen schrein
bewege ich mich auf den Frühling zu

aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaUnd dies ist mein Denkmal

Auf einen sanften Regen verlasse ich mich
mit der hohlen Hand auf den ersten fallenden Tropfen
der den Schnee verkommen läßt im Mai
den weißen heulenden Hund auf dem Dach
des verlassenen Autos an einer Vorortstraße
mit Zahlen Farben
schwarz von rot bis violett
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaEin Regenbogen
den ich ans Licht bringen will
und seine Skala seine Geschwindigkeit
ans Ende ans Ende ans Ende
wo wie es heißt         sich die Zeit überschlägt
wo mein Denkmal stürzt
in die hohle
Hand

Zu lange
vier Milliarden Jahre warte ich
auf die Kontraktion des Weltalls
in einem Punkt
der ich selber bin
der heillose Gegenstand
meiner Träume

 

 

 

Laudatio auf Manfred Peter Hein

Eine Laudatio zu halten als Mitglied einer Jury, ist wirklich kein Kunststück; denn es sind ja nun wirklich die Worte nur allzu wohlfeil, wenn es darum geht, jemanden als „hervorragend, ausgezeichnet, besonders“ oder wie immer zu preisen. Denn wir, also vor allem auch als Juroren, meinen in solchen Hervorhebungen immer auch uns selbst, die Preisenden nämlich, die ja wohl in etwa den gleichen Rang mit dem Gepriesenen einnehmen müssen, wenn sie doch in der Lage sind, gerade die besondere Herausgehobenheit des zu Preisenden zu beurteilen. Jemanden als „bedeutend“ zu preisen, bedeutet in diesem Sinne wirklich wenig. Sich aber preisen zu lassen, bedeutet alles. In einer anderen Hinsicht ist das uns vielleicht klarer: Zu schenken ist wirklich nicht einmal eine kleine Schwierigkeit, wo man in jeder Ecke der Welt alles zuhänden hat, und wenn nicht, um ein weniges Geld bekommt. Sich aber beschenken lassen zu können, ist eine Kunst, die heute kaum noch jemand beherrscht. Zu feiern, irgendwelchen Anlässen entsprechend, ist schon reine soziale Routine; aber gefeiert zu werden, selbst der Anlaß, der Auslöser zu sein, das verlangt eine Würde, eine Autorität der Gefühle, Offenheit und Freiheit der Selbstdistanzierung, die alle anderen ja gerade im Feiern, im Fröhliche-Feste-Feiern, vergessen wollen. Zu dienen, ist ein leichtes und sogar ein fröhliches, wenn es jemanden gibt, der sich als würdig, ernsthaft, oder auch menschlich genug erweist, sich dienen zu lassen.
Ich soll eine Laudatio auf den ersten Träger des Peter-Huchel-Preises halten, und im Sinne dieser Andeutungen eben kann es dabei auf mich nicht ankommen. Vom zu preisenden Dichter, von Hein, hängt es ab, ob wir hier tatsächlich über die Routine des Lobens hinauskommen, oder ob wir uns mit einem Lob der Routine beschränken müssen. In der Tat suchen ja Jurys unter kaum einem anderen Gesichtspunkt ihre Preisträger, als der Frage, ob der Gewählte sich auch preisen läßt. Zahlreich sind gerade aus den jüngsten zehn Jahren die Beispiele von Juryreinfällen, wo ein Gewählter lautstark oder auch maliziös auf seiner Fähigkeit zu beständigem, schöpferischem Wandel bestand, als ihn die Jury wegen seiner Unbeirrbarkeit und seines Festhaltens an einmal übernommenen Problemstellungen lobte. Lobe seine blauen Augen – und er wird sich entstellt fühlen, weil du seine Nase nicht auch attributiert hast! Rezitiere mit dem Pathos der Überzeugung einige seiner Texte – und er wird beleidigt fragen, warum dir denn alle anderen nicht gefielen! Sprich von Petrarca, als dem Namenspatron eines Preises, um so zu umschreiben, welchen Anspruch du dir vorgegeben hast – und der Gewählte wird dir den zerrissenen Preisscheck vor die Füße werfen mit dem wutschnaubenden Vorwurf, er habe schließlich geglaubt, hier im Mittelpunkt zu stehen und nicht diese Bildungsleiche Petrarca! Mit Manfred Peter Hein glauben wir, ja wissen wir, einen gewählt zu haben, der ein Dichter ist aus der Kraft seiner Arbeit und aus seiner Entschiedenheit für eine Problemstellung, die ich etwas ausführlicher darstellen will.
Wer ist ein Dichter? Nun eben jemand, der sich mit Würde preisen lassen kann, sich ohne Bedenklichkeit, ohne Einschränkung, unter Verweis auf die Resultate seiner Arbeit preisen lassen darf. Wer ein Dichter ist? Die Jury scheint es ja gewußt zu haben, wenn sie einen solchen auszeichnet. Sie wußte doch, auch wenn es zunächst ein bißchen bläßlich klingt, zu definieren, daß Dichter, oder allgemeiner: Künstler, Menschen sind, die sich für ihre Aussagen, auch für ihre Ansprüche auf keine andere Autorität berufen, berufen wollen und berufen können, als auf sich selbst und das bloße Vorhandensein ihrer Arbeitsresultate und natürlich auf die entscheidende faktische Gegebenheit: die Tatsache ihrer eigenen Existenz. Das ist leider in ganz oberflächlicher Weise, vor allem in den letzten zehn Jahren, als eine bloße Subjektivität von Aussagen, von Ansprüchen diskriminiert worden, als Unverbindlichkeit, ja als irrationales Sprechen, als willkürlich, weil man nämlich hierzulande im Zeitalter der positiven Wissenschaften glaubt, Aussagen, Ansprüche würden erst dann objektiv, verbindlich und wahr, wenn hinter dieser Aussage kein historisches Subjekt, kein konkretes Individuum mehr erkennbar sei. Die Wahrheit ist· mythisch, diese Wahrheit ist mythisch, denn auch der Mythos ist ja nichts anderes als urheberlos gewordene Aussage. In den Wissenschaften wird, ganz wie im Mythos, erst dann ein Aussagenanspruch ernst genommen, wenn sein Urheber anonym geworden ist, wenn sich im Experiment beispielsweise jedermann, der den Aussagenanspruch überhaupt versteht, an die Stelle des Urhebers setzen kann. Mythos ist Erzählung, die urheberlos geworden ist und deshalb bereits einen allgemeinen Geltungsanspruch der Erzählung zu rechtfertigen scheint: Urheberunabhängigkeit, durchaus so verstanden, wie es zumindest in meiner Jugend der berühmte kleine Wissenschaftsmann einer Zeitschrift für „Jugend forscht“ verkündete, und wie es uns die Funktionäre der Wissenschaft in den Hörsälen auch heute noch aufoktroyieren wollen, nämlich Wissenschaftler sei nur, wer als Person und Subjekt zurücktrete hinter den Anspruch der Wahrheit, und Wahrheit sei das, was bei einem hieb- und stichfest angelegten Experiment mit verbundenen Augen herauskomme.
Welche Tröstungen uns doch, und darauf macht Manfred Peter Hein im besonderen Maße in seinen Gedichten aufmerksam, die ich Sie bitte, auch in diesem Sinne einmal zu verstehen oder zu assoziieren – welche Tröstungen uns doch der Wandel der Zeiten beschert: Jene, die einst auszogen, endlich den haltlosen Mythen durch positive Wissenschaft den Garaus zu machen, sind selbst die Mythenerzähler geworden, die Einzigen, denen Richter und Politiker heute im Namen der Experten eine noch akzeptierte Macht der Wahrheit einräumen. Selbstverständlich halten sich alle Betroffenen in dieser Frage für außerordentlich aufgeklärt, so daß sie sich schier ausschütten, wenn etwa von „Deutscher Physik“ die Rede ist, wie weiland in den Bannflüchen Professor Lenards gegen Einstein. Da weiß dann eigentlich jedes Hänschen, daß eine „Deutsche Physik“ nichts anderes als ein Mythologem sei, so wie in Gedichten vorkommend, oder in parteiprotegierten Wissenschaften, die ihre fehlende wissenschaftliche Qualifikation durch Ideologiezauber wettzumachen versucht hätten. Doch so einfach kann man sich den Mythos nicht vom Halse halten. Philipp Eduard Anton Lenard war ja kein Trottel, sondern Nobelpreisträger für Experimentalphysik. Weil positive Wissenschaft eben Mythos ist, der einzig heute noch verbindliche Mythos, brauchte Lenard sein wissenschaftliches Selbstverständnis überhaupt nicht zu strapazieren, wenn er „deutsche“ und „verjudete“ Physik gegeneinander abgrenzte. Es ging ja um nichts anderes, als um die Scharlatanerie, wie es hieß – ein Begriff, den man ja gerade Lyrikern häufig entgegenhält −: Scharlatanerie eines Einstein, der es gewagt hatte, sein bloßes spekulatives Nachdenken am Schreibtisch für Wissenschaft zu halten, und der dabei bereit war, sich als Wissenschaftler in alle Bereiche des Lebens einzumischen, die sich partout nicht von der Wissenschaft kritisieren lassen wollten, wenn auch nur als Einsteins Eingriff in die tagespolitische Erörterung. Dieser Einstein beharrte darauf, schamlos „Ich“ zu sagen, wie ein Lyriker, anstatt die Wissenschaft auftreten zu lassen. Das Postulat „Deutscher Physik“ oder das einer „marxistisch-leninistischen Genetik“ verdankt sich eben nicht hirnrissigen Neidlingen niedersten Wissenschaftsranges, sondern ist die Konsequenz jeder Positivität von Wissenschaft, die behauptet, Wissenschaft sei mehr als einer der vielen Versuche, das menschliche Leben zu bestehen. Die Wahrheit derartiger Wissenschaft ist eine ungeheuer schmutzige Menschenfalle. Vor ihr bewahrt nur der Einspruch von Künstlern, im engeren Sinne von Dichtern, wobei man als Künstler alle diejenigen zu verstehen hätte, die auf gar keinen Fall bereit sind, als Aussagenurheber hinter ihren Aussagen zu verschwinden. Derartige Künstler gibt es auch und vor allem noch in den höchsten Rängen des Wissenschaftsbereiches, aber Dr. Heini Schulze und seine Duplikate auf den langen Fluren der Wissenschaft in Beton, in Spannbeton, werden es schon noch schaffen, die Aberkennung des Wissenschaftlerstatus und die Herabdrückung auf den Status eines irrationalen Lyrikers für alle diejenigen durchzusetzen, die einen Brief an die Gremien der akademischen Selbstverwaltung mit „Ich“ beginnen.
Anfang der 70er Jahre fanden sich viele Dichter und Künstler dazu bereit, unter dem von Szeemann kreierten Problemnamen „Individuelle Mythologien“ zu firmieren. Wenn aber Mythos urheberunabhängige Erzählung ist, dann wären „Individuelle Mythologien“ eine Unsinnigkeit, wie etwa die subjektive Wahrheit. Mir scheint es so gewesen zu sein, daß „Individuelle Mythologien“ die Aneignung von Mythos und Mythologisierung durch einzelne Künstler bezeichnen sollte. Solange nicht die Computer des weiland BKA-Präsidenten Herold uns mit logischer Zwangsläufigkeit das Verständnis der göttlichen Offenbarung aus dem Munde technischer Medien aufzwingen können, bleibt ja das Faktum zu beachten, daß jeder Mythos, der wissenschaftliche wie der volksweisheitliche, auch verstanden und wirksam gemacht werden will. Und soweit wir noch nicht die Wissenschaft und die Partei, die Kirche und die Menschheit aus uns sprechen lassen können, denn da sind ja immer schon Andere, die behaupten, aus ihrem Munde spräche die Partei, die Wissenschaft, und die Kirche, bleibt es ja die Aufgabe der einzelnen Personen als Subjekte, Dichter, Künstler, sich die Mythen anzueignen. Das scheinen die Vertreter der „Individuellen Mythologien“ in der Kunstpraxis geleistet zu haben. Denn es ist schwerlich zu leugnen, daß durch ihre Arbeit zumindest unsere Bereitschaft gefördert wurde, nicht nur nach den historischen Urhebern, sondern auch nach den historischen Benutzern der Mythen zu fragen.
An dieser Stelle ein Kompliment an Bayreuth: Es ist ja in der Tat ein Akt der Aufklärung, wenn der jetzige Chef des Hauses Wagner darauf hinweist, daß sein Großvater mit dem „Ring des Nibelungen“ dem deutschen Volk das größte Drama nach Faust I und Faust II geschenkt habe. Er sagt eben, Wagner war es und nicht der Geist des Germanentums. Darum wäre eigentlich demokratischer Abwehrzauber, Abwehrgymnastik, Spielastik gegen Wagners Dichtungen gerade von denjenigen notwendig, die doch von sich behaupten, daß sie nicht dazu verführt werden könnten, Wagner mit dem Weltgeist zu verwechseln.
Das schöne deutsche Volkslied „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten“ soll ein gewisser Heinrich Heine einfach so geschrieben haben; Goethe und Schiller, immerhin große Deutsche, werden von einem Herrn Büchmann bezichtigt, ihre Dramen unter Verwendung hunderter von geflügelter Worte alter deutscher Volksweisheit geschrieben zu haben. Wenn das stimmt, und schließlich kennt man seine Pappenheimer, dann trüge ja doch das Volk die Dichter. Und jeder Bildzeitungsredakteur wäre ein Schreiber von lutherischer Größe, wenn er seine Artikel damit rechtfertigt, Volkes Stimme zu sein. Einige ganz unverschämte Theologieprofessoren sollen ihren Beamtenstatus gelegentlich sogar dazu mißbrauchen, penetrant darauf zu bestehen, daß die Texte der Heiligen Schrift bestimmten historischen Dichtern und Denkern zugeschrieben werden müssen, was um so abwegiger ist, als jene Herrn Professoren nicht einmal angeben können, wer denn diese Urheber der Heiligen Schrift gewesen sein sollen. Schließlich leben wir doch in einem Zeitalter, das den Aberglauben endlich überwunden hat! Unsere Geschichtsschreibung könnte uns nunmehr sagen, wie es wirklich gewesen sei: Mythen und Märchen seien nur primitive Vorformen unserer Geschichtswissenschaft. Es sei ja nachgerade peinlich, so las man neulich in einem führenden Blatt, in der UNO dunkelhäutige Männer mit Doktortiteln sitzen zu sehen, die noch merkwürdige Gebilde aus Eberzahn und Büffelhaar um den Hals tragen. Woran die glauben – unglaublich!
Wir hingegen glauben an die Wissenschaft, und an nichts sonst! An einen Gott natürlich auch, soweit die Theologie als Wissenschaft sich mit ihm beschäftigt. Freilich gäbe es hier und da auch bei uns noch bedauernswerte Menschen, die mit Unterstützung guter Geister Teufel austreiben wollten. Dabei hätten sie sich auch lyrischer Formeln bedient, obwohl die Wissenschaft längst bewiesen, daß es weder Engel noch Teufel gebe; Gott sei Dank garantiere unsere Ärzteschaft eine lückenlose medizinische Versorgung, so daß es sich auch diese bedauerlichen Wesen leisten könnten, in eine psychotherapeutische Behandlung zu gehen, wo sie unter wissenschaftlicher Kontrolle den Urschrei ausstoßen lernten, und damit geheilt seien.
Künstler sind also Feinde der urheberunabhängigen, mythischen Erzählung; die positiven Wissenschaftler sind wiederum Feinde des Subjekts. Subjektivität ist das vernichtendste Diktum der Wissenschaft für einen Aussagenanspruch. Welch eine Verkehrung der Fronten, an denen sich doch einstmals die mythologisierenden Poeten und andererseits die eigenem Verstande vertrauenden Wissenschaftler gegenüber gestanden haben! Gibt es eine Erklärung für diesen Bühnenzauber? Vielleicht darin, daß man das Durchexerzieren wissenschaftlicher Methoden mit dem Betreiben von Wissenschaft verwechselt. Wissenschaftliche Methoden aber sind nichts als Handwerkszeug, eines unter den zahllosen, die vor allem von Künstlern ausgebildet wurden. Der gesamte Methodenapparat der modernen Wissenschaft ist aus analogen künstlerischen Vorgehensweisen vor allem im 16. Jahrhundert entwickelt worden. Vom Linsenschneiden über die Perspektivlehre bis zur Entwicklung des Modellbegriffs, der für die Wissenschaftler ja konstitutiv geworden ist, stammt alles aus der Kunst. Der Verwechslung des Exerzitiums wissenschaftlicher Methoden mit dem Wissenschafttreiben entspricht die Verwechslung des Exerzitiums (auch des absonderlichsten) künstlerischer Verfahrensweisen mit den künstlerischen Arbeiten. In der Auseinandersetzung um Mythos, Mythologisierung, Irrationalität des Sprechens, bloße Subjektivität, ist diese Verwechslung immer schon gesehen worden. Zum Beispiel von Smith und Hugh und der Mehrzahl ihrer Kollegen, die uns nahelegten, zwischen Mythos und Ritus, auch und vor allen Dingen in der Dichtung, in der Kunst, zu unterscheiden. Weder sei der Ritus bloß eine inszenierende Dramatisierung des Mythos, noch ist der Mythos bloß eine rechtfertigende Begründung des Ritus. Weder ist das Exerzieren wissenschaftlicher Methoden eine Inszenierung der Wissenschaft, noch ist die Wissenschaft bloß eine Rechtfertigung für die Verwendung bestimmter Methoden. Weder ist die künstlerische Verfahrensweise zur Erstellung einer Aussage nur eine inszenierte Umsetzung eines Begriffs von Kunst, noch sind Kunstbegriffe bloß als Rechtfertigungen für das ohnehin stattfindende Durchexerzieren beliebiger Verfahrensweisen zu benutzen. Daher rührt nach meinem Empfinden eine Unzahl von Mißverständnissen, denen zumeist, und als erstes, die Lyriker zum Opfer fallen. Etwa derart, daß sich das Publikum weigert, irgendwelche noch so gut begründete Verfahrensweisen der Bild- und Spracherzeugung schon für Kunst zu halten, und entsprechend irgendeinen Kunstbegriff allein deswegen schon zu akzeptieren, weil er zur Begründung irgendwelcher Bild- und Spracherzeugung vom Künstler herangezogen wird. In der Tat muß man zu akzeptieren bereit sein, daß sehr viele Künstler sich heute darauf beschränken, von ihnen erfundene Verfahren der Bild- und Spracherzeugung vorzustellen, ohne daß sie damit auch nur daran dächten, daraus irgendeinen Kunstbegriff abzuleiten, etwas das für den heutigen Preisträger ganz entscheidend ist.
Ich werde dies jetzt in einer anderen Hinsicht, auf die es mir entscheidend ankommt (gerade bei Hein) zu umreißen versuchen, warum man akzeptieren muß, daß viele Künstler einen Kunstbegriff vertreten, den sie nicht mehr im Exerzitium entsprechender Verfahren der Bild- und Spracherzeugung zu rechtfertigen oder zu begründen bereit sind. Das Publikum empfindet bei der grassierenden Wissenschaftsgläubigkeit solche selbstbeschränkenden Auffassungen der Künstler und Dichter als ein Versagen oder als eine Unfähigkeit. Zahlreiche Kritiken basieren auf diesem Mißverständnis. Das Gegenteil jedoch scheint mir viel bedeutsamer. Und was die Künstler damit demonstrieren, hat weit über den Kunst- und den Wissenschafts-, den Literaturbereich hinaus, vor allem für die Politik und für den Aufbau von Handlungsnormen im Alltag eine entscheidende Bedeutung. Wahrscheinlich haben die Dichter in dieser Hinsicht für uns noch nie eine so große Bedeutung gehabt wie jetzt – auch dazu gleich eine Präzisierung. Mythos und Ritus, wissenschaftliche Methoden und Wissenschaft als Bewältigung der Lebensanstrengung, künstlerische Vorgehensweisen und das Schaffen von Kunstwerken, dürfen eben nicht kongruent sein, wie das der Alltagsverstand fordert. Plan und Realisierung, Entwurf und Verwirklichung dürfen nicht restlos ineinander überführbar sein – eine Form von Arbeitsresultaten, die auch für die von Hans Mayer eben angeführten Autoren ganz entscheidend gewesen ist, und in denen meiner Ansicht nach mehr Substanz steckt, als in dem nur auf den äußerlichen Lebensablauf bezogenen Begriff des Doppellebens.
Tatsächlich menschenwürdiges Verständnis von Wissenschaft und Kunst, Literatur, Religion, Alltagsleben muß auf dem bloß ruinösen Charakter oder auf der Fragmentqualität aller Realisierung bestehen, gegen systematische Konzepte, gegen systematisch konstruierte Ordnungen, Utopien und ihre sachimmanenten Zwänge. Aber die Systeme, die Ordnungen, die Utopien sind keine Rechtfertigung für die bloß fragmentarische oder bloß ruinöse Realisierung, sondern begründen die Kritik an ihnen, an diesen Entwürfen. Sie rechtfertigen sich selbst dann nicht, wenn der Urheber der Systeme, Ordnungen, Utopien, tatsächlich der liebe Gott oder sonst ein Heiliger gewesen wäre, geschweige denn, irgendein historisches Subjekt, das man aus naheliegenden Interessen zum entpersönlichten Agenten, zum Medium der Wahrheit und der Offenbarung hat werden lassen. Der liebe Gott ist aus ganz guten Gründen kein positiver Wissenschaftler geworden, sondern Lyriker geblieben. Er hat sich aus der Schöpfung zurückgezogen, weil er sich selbst eliminiert hätte, wenn seine Schöpfung mit seinen Plänen deckungsgleich geworden wäre. Noch so emphatische Auffassung von Wissenschaft und Kunst in ihrem Wahrheitsanspruch kann nichts anderes sein, als die Begründung einer notwendigen Kritik an den Resultaten jedweden, auch des begründetsten Exerzitiums wissenschaftlicher oder künstlerischer Methoden.
Und jetzt auf den entscheidenden Punkt hin, auf den ich die ganze Diskussion abstellen möchte und der Ihnen vielleicht, mit Bezug auf Hein, zunächst befremdlich erscheint; aber wenn Sie seine Gedichte auf diesen Verweis hin lesen, mag Ihnen das Ganze nicht mehr so absonderlich vorkommen. Gestern nachmittag hatten wir ein Gespräch mit ihm, in dem wir überraschenderweise in einer direkten Bemerkung von Hein feststellten, daß er demnächst in einem solchen Sinne über das bisher geschriebene lyrische Werk hinaus etwas vorlegen wird in Prosa, wovon ich meine, daß es auf das Problem abzielt, das ich jetzt skizzieren will.
Man muß sich immer wieder ins Gedächtnis zurückrufen, gerade im Hinblick auf den Namensgeber dieses Preises, daß die kulturelle Diskussion in Deutschland unter ganz einmaligen Bedingungen stattfindet. Damit ist nicht nur gemeint, daß in Deutschland ein Weltexperiment stattfindet, das sich in der parallelen Existenz der sozialistischen Deutschen Demokratischen Republik und der kapitalistischen Bundesrepublik Deutschland manifestiert. Bei annähernd gleichen kulturgeschichtlichen Voraussetzungen, bei gleicher Sprache und gleich intensiver Verinnerlichung der bloßen Fiktion eines deutschen Nationalcharakters läßt sich das Verhältnis von politökonomischen Systemen und kulturellem Leben in einer Weise überprüfen, wie das in der Weltgeschichte noch nie der Fall war. Um das abkürzend zu sagen, nur ein Beispiel für diese Art von Überprüfung: Wenn man etwa behauptete, daß unsere inhumane Betonarchitektur in den Neubaustädten ein Resultat der Bodenspekulation sei, dann beweist die weitgehende Übereinstimmung von Bauten in der DDR, wo es keine Bodenspekulationen gibt und der Bauten in der Bundesrepublik, daß offensichtlich dies Argument nicht länger in die Debatte geführt werden kann, jene inhumane Form der Gestaltung sei die Konsequenz der Bodenspekulation.
Das Weltexperiment Deutschland ist vor allem deshalb für die kulturellen Auseinandersetzungen der Gegenwart so unvergleichlich, weil die Erfahrung des Faschismus und des Nationalsozialismus in Deutschland einzigartig sind, und ich möchte darauf hinaus – das kann ich im einzelnen begründen −, warum gerade ein Dichter wie Hein für diese Debatte Gesichtspunkte entwickelt, die aus keiner Wissenschaft bisher geliefert worden sind, und die sich auch aus dem Politjournalismus und sonstigen Überlegungen so nicht ableiten lassen. Kollegen in anderen Bereichen, Künstler wie Syberberg beispielsweise oder Kiefer kommen dem sehr viel näher. Eine wissenschaftlich, kulturell und auch wirtschaftlich seit mehr als hundert Jahren führende Nation – das sind direkte Themen aus Gedichten von Hein – demonstrierte Akte der Selbstzerstörung, die allem zu widersprechen scheinen, was die großen Leistungen in Wissenschaft, Kunst, Musik, Literatur und Wirtschaft seit hundert Jahren zumindest postulieren. Der deutsche, der preußische Geist, dem ja in den jüngsten Jahren in Ost- und West-Berlin, in der Bundesrepublik gigantische Ausstellungen und Untersuchungen gewidmet waren, ist eben ganz gegen die landläufige Weltmeinung nicht der Geist des fleißigen, aufopferungsvollen, produktiven, zuchtvollen, rationalen, objektiven, verbindlichen Schaffens, sondern nichts anderes, als der Geist der Radikalität, dessen Konsequenz immer die Selbstzerstörung sein muß. Viele Leute außerhalb der Wissenschaft, sagen wir beispielsweise Rudolf Augstein, haben mehrfach einleuchtend dargestellt, daß die deutsche Geschichte, soweit sie in den vergangenen 240 Jahren in erster Linie von Preußen, von eben diesem Geist, der angeblich das konträre Gegenbild jeder Art von Lyrismus oder Haltung in der Existenzform des Schriftstellers gewesen sei – daß die deutsche Geschichte eben soweit sie in den 240 Jahren in erster Linie von Preußen bestimmt wurde, eine einzige Kette von völlig aberwitzigen Vabanque-Spielen, -Haltungen und -Auffassungen gewesen sei, wie sie nicht mal in der willkürlichsten, automatischen Schreibweise irgendeines surrealistischen Dichters anzutreffen gewesen sind. In dieser Hinsicht zeigen nämlich die Verhaltensweisen von Friedrich dem Großen, von Bismarck, Wilhelm Zwo und Hitler eine schauerliche, keineswegs zufällige Übereinstimmung. Die einzigen, die das heute noch wissen, sind die Dichter. Die Verhaltensweisen dieser Führer und ihrer tausender Unterführer lassen sich mit der Argumentation kennzeichnen, die ja Hitler zuletzt in aller Eindeutigkeit für das von ihm angerichtete Desaster vorbrachte, nämlich: Wenn unsere politische Weltanschauung und unser militärisches Handeln in einer Katastrophe enden, dann hat das deutsche Volk eben nichts anderes verdient – ein Argument, das sie nur ganz leicht ändern müssen, dann haben sie die Parade-Aussage, die gewisse Autoren gegenüber ihren Lesern immer gern vorbringen.
Was ist das Faschistische an diesem deutschen Verhalten, das schon lange, bevor der Faschismus, der Nationalsozialismus auch als politisches Thema etabliert waren, in Deutschland grassierte? Heinrich Heine war der erste, der das bündig und vollständig und eindeutig beschrieben hat, wenn er eben sarkastisch schilderte, wie die Deutschen im Reich der Lüfte ihre Gesellschaft, ihren Staat bauen, nachdem bereits seit Jahrhunderten den Franzosen und Engländern die Verwirklichung ihrer Staaten auf Erden in handfester Form gelungen sei. Die Deutschen hielten (und da beginnt der große, richtige und unverzichtbare Einspruch der Dichter), die Deutschen hielten und halten wissenschaftliche, literarische, künstlerische, kurz alle intellektuellen Weltentwürfe für reale Gegebenheiten. Sie lesen Philosophien und Gedichte und Kunstwerke als Handlungsanleitung für die Verwirklichung von Ideen und Vorstellungen, anstatt sie als Begründung von Kritik an jedwedem absolutem Anspruch auf Aussagenautorität und Wahrheit zu nutzen. Das ist in der Tat die deutsche Krankheit, die sich auch gegenwärtig noch überall auf der Welt ausbreitet, wo man zum Beispiel marxistische philosophische Systementwürfe als Anleitung für konkretes politisches und soziales Handeln versteht.
Antisemitismus hat es in allen Ländern gegeben. In manchen viel radikaler als in Deutschland. Aber nur in Deutschland konnte man Antisemitismus als Handlungsanleitung für die tatsächliche systematische Ausrottung der Juden vertreten, und diese Tat dann auch noch als selbstüberwindende, aufopferungsvolle Pflichterfüllung sich zugute halten, wie das ja häufig, zuletzt auch von Heinrich Himmler in einer Rede vor SS-Offizieren dargestellt wurde. Zensur wissenschaftlicher und künstlerischer Arbeiten hat es in allen Ländern gegeben, und es gibt sie ja auch heute noch mit dem Argument, daß durch die Zensur machtpolitische Entscheidungen durchgesetzt werden müßten. Aber nur in Deutschland ist das Berufsverbot, ja das Verbot privater Arbeit von Intellektuellen und Künstlern, ist Verbrennung und öffentliche Verhöhnung ihrer Werke, ihre Einlieferung ins KZ, und wenn alles den günstigsten Fall annahm, ihre Ausbürgerung, von der Mehrzahl der Bevölkerung als selbstverständlich akzeptiert worden – gerade um der Wirksamkeit und Bedeutsamkeit abstrakter Begriffe und Systemkonstruktionen willen, und um der Reinheit dieses ideellen Anspruchs willen akzeptiert worden. Lachhafte Kampagnen gegen wissenschaftliche und künstlerische Konkurrenten gibt es und gab es in allen Ländern, aber in Deutschland konnte tatsächlich ein befähigter und mit dem Nobelpreis für Experimentalphysik ausgezeichneter Professor Lenard einen Einstein und seine Kollegen mit der Feststellung verfolgen, Einstein vertrete eine undeutsche Physik, und er konnte das auch wissenschaftstheoretisch im Sinne der Argumentation seiner Zeit völlig einwandfrei begründen. Immer schon fiel es den Deutschen nämlich schwer, den Pragmatismus der Engländer und die Konstruktion des schöpferischen Scheins der Franzosen zu verstehen, obwohl einer der bedeutendsten deutschen Kulturtheoretiker, Schiller, lange Zeit zum Pflichtpensum aller deutschen Schüler gehörte. Und Schiller versuchte ja als erster, den Deutschen klar zu machen, daß die Konstruktionen der Kunst, der Dichtung, der Philosophie nur als schöner Schein und nur als Schein wirklich sind. Das zu akzeptieren, war den Deutschen unmöglich, weil sie glaubten, mit der Anerkennung des ästhetischen Scheins die Wirklichkeit und die Wahrheit verleugnen zu müssen. Die sprichwörtliche deutsche Tiefe, vor allem die des Gedichts und der Philosophie und der Musik, sind das Resultat der Unfähigkeit, den schönen Schein, also bildliche Vorstellung oder mythische Erzählung oder wissenschaftliche Systemgedanken eben als bloßen Schein wirklich und wirksam zu sehen. Für die Deutschen stellte sich das Verhältnis von Oberfläche und Tiefe, von Schein und Wesen, von Vorstellung und materieller Verwirklichung immer nur als ein Verhältnis von Plan und Realisierung, von Entwurf und Ausführung dar. Eine autonome Sphäre des ästhetischen Scheins konnten sie nicht gelten lassen. Jede künstlerische Aussage wurde danach beurteilt, wie man sie in die Wirklichkeit planmäßig umsetzen könne, was sie denn für das Alltagsleben bringe, in welcher Weise sie Verbindlichkeit von Ideen, von Idealen, von Begriffskonstruktionen befördere. Der angelsächsische Pragmatismus wählte künstlerische oder wissenschaftliche Konstruktionen danach aus, ob sie in die Realität des Alltagslebens paßten, rein instrumentell. Die deutschen Idealisten zwangen das Alltagsleben unter die wissenschaftlichen und künstlerischen Systemkonstruktionen. Deswegen war es für die deutschen Führer so selbstverständlich, daß sie darüber zu entscheiden hatten, welche wissenschaftlichen, künstlerischen Gedanken zugelassen werden dürften und welche nicht. Ein englischer König oder ein amerikanischer Präsident, der sich angemaßt hätte, in aller Ernsthaftigkeit und mit allen radikalen Folgen, wie Wilhelm Zwo zu behaupten: „Was Kunst und Wissenschaft sind, bestimme ich“, würden bei ihrer Bevölkerung schallendes Gelächter hervorgerufen haben.
Welche Folgen das hat, ist der Welt immer wieder demonstriert worden, obwohl die Welt kaum verstand, was auf diese Weise in Deutschland angerichtet wurde, und was jetzt inzwischen ja einige Länder, allen voran etwa Israel, zu spüren bekommen. Noch heute neigt man dazu, die unsinnigen Ideologien in Kunst und Wissenschaft, zum Beispiel während des Dritten Reiches, für die bloße Ausgeburt der Dummheit politischer Funktionäre zu halten. Aber nicht nur die Ideologie der „undeutschen Physik“ wurde von einem befähigten Wissenschaftler entwickelt, auch die Rassenlehre, sogar als empirisch ausgewiesene, völlig einwandfreie Wissenschaft, die Lehre vom Primat der deutschen Kultur, die Behauptung, die Gotik des Mittelalters sei eine deutsche Erfindung, die rechtswirksame Auffassung von der germanischen Tugend – das alles sind Resultate ganz normaler Wissenschaft in Deutschland gewesen. Sie wurden nicht von den Parteibonzen erfunden, sondern von Professoren. Hitler selbst hat das klar ausgesprochen und sich darüber lustig gemacht. Hitler konnte so erfolgreich nur sein, weil er den Deutschen nicht seine eigene Erfindung aufzwingen wollte, sondern weil er die Angst vor ihm in Deutschland für selbstverständlich gehaltene Relation von Gedanken und Tat, von Entwurf und Ausführung, von Kunst und Wirklichkeit ernst nahm. Und das deswegen, weil ein Deutscher, nämlich Heinrich Schliemann, dieses Problem mit großer öffentlicher Resonanz und Überzeugungskraft dargestellt hatte, die faktische Wirksamkeit der Ideen ja demonstriert hatte: Schliemann nahm den bloßen ästhetischen Schein, also die mythische Fiktion der homerischen Dichtung wörtlich, nämlich als Handlungsanleitung; indem er diese Dichtung wörtlich als Handlungsanleitung nahm, entdeckte er tatsächlich das historische Troja und Mykene. Genauso wie Schliemann und die Mehrzahl seiner Kollegen in Wissenschaft und Kunst, gingen die Parteipolitiker vor. Aber anstatt sich auf die Konstruktion einer neuen Geschichte unserer Kultur zu beschränken, wendeten sie den wörtlich genommenen ästhetischen Schein, die wörtlich genommenen künstlerischen und wissenschaftlichen Mythologien auf die unmittelbare Gegenwart an. Das Resultat ist bekannt, wenn man es auch selten versteht.
Ich erwähne das alles aus folgendem Grunde: Es gab in Deutschland eine Bevölkerungsschicht, die sich auf diese Differenz zwischen Plan und Realisierung, zwischen Begrifflichkeit, Ideenwelt und der faktischen Realität, erzwungenermaßen durch ihr soziales Schicksal wie keine andere verstand – und das waren die Juden. Sie hatten nicht nur in ihrer Theologie die Begründung der Differenz aufrechtzuhalten, das heißt das Verbot einer Verwirklichung der Heilsgeschichte, der Utopien, sondern dies auch in ihrer faktischen sozialen Existenz durchleben müssen. Ihnen war verboten – nicht nur als Bilderverbot, sondern auch als Handlungsverbot −, sich jemals darauf auszurichten, daß diese Fiktionen, diese Utopien, diese Systemkonstruktionen wirklich werden auf Erden, vielmehr daß sie in ihrer Differenz von Gedachtheit und sozialer Realität erhalten bleiben müssen; heute, das wissen wir ja, fehlt für die gegenwärtige Situation der Einspruch der jüdischen Theologie und der Einspruch der tatsächlichen Lebensrealität der jüdischen Bevölkerung. Meine Behauptung ist, daß an die Stelle eben dieser kritisch einsprechenden Intellektualität (Wissenschaftlichkeit im Sinne einer judaistischen Theologie in mythischer Erzählung und Dichtung der Juden) Dichter treten, wie sie etwa durch Manfred Peter Hein für mich repräsentiert sind. Wir haben keine andere Instanz mehr, als diese Dichter, die gegen Systemansprüche als bloße Handlungsanleitungen, als bloße Pläne für ihre identische 1:1−Realisierung in die Wirklichkeit auftreten. Wir haben keine Möglichkeit mehr, zu begründen, warum wir uns einem eigentlich logisch sinnvoll demonstrierten Zusammenhang eines Weltentwurfes entziehen können, warum wir uns ihm nicht unterwerfen müssen, als den Einspruch der Dichter, die eben auf der Differenz zwischen dem Gedachten und dem Wirklichen bestehen.
Der Fragmentarismus, die Verweigerung einer logisch durchgehenden Begründung eines Aussagenzusammenhangs, sind gerade ihre Stärken. Bei Hein tritt nun in spezifischer Weise dafür eine Begründung auf, die er demnächst wohl in seiner neuen Arbeit vorlegen wird, daß er nämlich gerade in diesem Sinn so ein eminent politischer Dichter ist, aber eben nicht einer, der Programmatiken vorgibt und andere sie nachbeten oder in ihrem Zwang einer Begründung aufsaugen läßt, sondern im Gegenteil, der auf der Ambivalenz von großartig, gleissnerisch Gedachtem, den Vorstellungen von bildhaften, mythologischen, lyrischen Bildern einerseits, und der Verführung zu einer Unterwerfung unter diese Handlungsanleitung andererseits besteht. Das sogenannte Hermetische, das sich Entziehende, das schwer Verständliche, das Dunkle, das solchen Dichtern vorgehalten wird, oder die Weigerung, auszuweisen, daß sie logisch gebaut ist, sind die tatsächlichen Stärken einer solchen Dichtung. Sie sind ja gerade nicht eine Vorgabe im Sinne dessen, was der Dichter kann, sondern gerade eine Begründung dafür, daß er nichts anderes können darf, selbst wenn er es könnte, nichts anderes verantworten kann, als einen solchen Einspruch gegen den Sog dessen, was angeblich evident, logisch, im Zusammenhang begründet und uns alle zwingend, formuliert wird. Einen Einspruch innerhalb der Wissenschaft gibt es nicht mehr. Einen Einspruch innerhalb der Politik auch nicht, es sei denn, es treten Gruppen auf, die ihrerseits, wie bisher nur die Dichter, der Irrationalität, der Willkür bezichtigt werden, also Randgruppen der Gesellschaft, denen man alles das jetzt vorhält, was man bis dahin nur den Dichtern als den Ausbünden der verweigerten, durchgängigen Logik, als Irrationalität, Subjektivität, vorgeworfen hat. Ansonsten, wenn wir nicht gerade sehr gläubige Menschen sind, oder der Anleitung von solchen im Alltagsleben ausgeliefert sind, oder von ihnen stützend getragen werden – ansonsten bleibt nach meinem Empfinden nichts anderes, als der Einspruch der Dichter, der Künstler, wobei eben nicht nur die willkürliche Verweigerung, nicht nur das Sich-Entziehen demonstriert wird, sondern auch die Verlockung, das Überzeugende, das Überredende der einen Begriffswelt, der System-Konstruktion, durchaus empfunden wird, so wie Hein das im Hinblick auf seine Jugend ja in der neuen Arbeit schildern wird; deshalb besteht der Dichter auf der Einsicht, solch einer Verlockungsschicht des Systemgedankens, der logisch durchgängigen Begründung, der schönen Phantasien, Utopien, sich nicht unterwerfen zu dürfen, oder vor ihnen wenigstens in die Diaspora zu gehen, weil nur in der Diaspora oder (bei Hein) im Exil (in Finnland), im anderen Land, ein solcher Gedanke überhaupt noch zugelassen sein kann, da er dort im Fremden per se niemals auf eine Verwirklichung 1 : 1, wie wir sie in der Geschichte zwischen 1933 und 1945 erlebt haben, angelegt sein kann.
Die Begründung dafür, daß Hein 1958 den definitiven Entschluß gefaßt hat, nach Finnland zu gehen, aus Deutschland wegzugehen, scheint eben diese Einsicht in die Macht der Ideen gewesen zu sein, in die Macht der auch vorher schon, nämlich nicht nur als Funktionärsdummheit, sondern als Wissenschaft vorgetragenen Konstruktionen, die wir heute leichthin so als Unsinn abtun – die faszinierende Wirkung der Macht, der er sich eben entziehen wollte durch Auswandern, weil er unter anderem auch aus eigener und familiengeschichtlicher Begründung erfahren hatte, was es bedeutet, sich einer solchen Idee, sich einem solchen philosophischen Gedankengebäude oder auch einer solchen durchgängigen Darstellung der Welt als Mythos zu unterwerfen. Daß er ins Exil ging nach Finnland, wo er in der Lage war, eben diesen Sog und Anspruch der Ideen auszuhalten (ohne in die Versuchung zu kommen, ihn auf diese Weise verwirklichen zu wollen, wie uns das Philosophen, Wissenschaftler und Politiker nahelegen, ihn nämlich als Handlungsanleitung in die Wirklichkeit zu übertragen), das macht seine Gedichte so außerordentlich wirksam. Und ich möchte Sie deswegen auffordern, den gesamten Band Gegenzeichnung daraufhin durchzulesen. Ich will nicht sagen, daß man sich dabei Zeile für Zeile den soeben skizzierten Kontext erschließen kann; aber man gewinnt doch in groben Umrissen eine Dimension dieser Dichtung, die weit über das hinausgeht, was sich ansonsten öffentlich als Engagement der Lyrik in unserer Gegenwart ausgibt oder auch auszeichnet.

Bazon Brock, Laudatio auf Manfred Peter Hein, 1984

Dank an Peter Huchel

Vor neun Jahren war ich hier, um Peter Huchel zu besuchen im Haus mit dem Blick auf die schöne, fremde Landschaft. Er war krank, aber er hatte einen Nachmittag Zeit für Gespräche über Wilhelmshorst, über Rom, über seine Reisen mit Lesungen im Umkreis des neuen Domizils. Der Blick in die ihn umgebende Landschaft verlor sich in deren bloßer Gegenwart, und so wohl bis zu seinem Ende. Er urteilte, ohne zu verurteilen, in allem was er dachte und sagte. Er sprach mit der Gewißheit, der eigenen, schwierigen Gewißheit einer Anwesenheit von Vergangenheit und Zukunft, seinem Maß für Poesie, seinem Maß für die Arbeit. Und so nur war seine, die eigene Landschaft zu sehen.
Ich hatte ihm Gedichte des Finnen Paavo Haavikko mitgebracht. Er blätterte darin, stieß auf schon früher gelesene Verse, erinnerte sich an das Buch und gab es mir zurück: „Das kenn’ ich genau, schenken Sie es jemand, der es noch nicht hat.“ Seine Landschaft – dies Gedicht von Haavikko:

Die Kiefern treiben ihr Spiel, regnen Zapfen
schlaflos −,
Tochter des Holzhackers,
häßlich, rissig wie die Berge
und üppig, o höre,
wenn an der Liebe nichts war, wenn von der Liebe
ich nichts gewußt, (dein bitterstes Wort
mir zum Abschied), o höre,
Zapfen regnen die Kiefern auf dich,
schlaflos, reichlich,
heftig.

Von finnischer Dichtung war weiterhin die Rede: Alexis Kivi, ja -, ein großer Roman, seine Sieben Brüder. Auch das Huchels Landschaft. Er erinnerte sich an Oskar Loerkes Aufsatz von 1936 über „Die Bezwinger der Teufel“. Es hat mich nicht überrascht. Dafür sorgte auch die Selbstverständlichkeit, mit der es sich sprechen ließ über so scheinbar Entlegenes. Er war frei vom Provinzialismus, dem man, wie mir scheinen will, die zählebige Unterscheidung zwischen großen und kleinen Literaturen zu verdanken hat.
Konkret greifbar, was zur Sprache kam: Politik, Literatur, die Zeitlandschaft. Was nicht einfloß, war das Wort Exil. Wenn ich an Huchels „Exil“-Gedicht denke, verwundert das nicht. Es endet mit den Versen:

Sei getreu, sagt der Stein.
Die dämmernde Frühe
hebt an, wo Licht und Laub
ineinander wohnen
und das Gesicht
in einer Flamme vergeht.

Der Gedanke an Huchels Existenz bindet sich für mich an das Gefühl und die Erfahrung eines Paradoxons, das sich nicht einkleiden läßt. Exil, wenn nicht ins Gedicht gebunden, wäre das falsche Wort. Was genau, was konkret gemeint ist, darüber gibt seine Poesie Auskunft. Eine Poesie, die sich ans von lange her Gegebene hält, es einbringt in die Imagination des Heute und Morgen. Hölderlins „Hälfte des Lebens“ fiel mir ein, als ich vor Tagen noch einmal Huchels „Unter der Wurzel der Distel“ las. Leben wir in härteren Zeiten? Huchel antwortet auf Hölderlins Klage:

Unter der Wurzel der Distel
Wohnt nun die Sprache,
Nicht abgewandt,
Im steinigen Grund.
Ein Riegel fürs Feuer
War sie immer.

Leg deine Hand
Auf diesen Felsen.
Es zittert das starre
Geäst der Metalle.
Ausgeräumt ist aber
Der Sommer,
Verstrichen die Frist.

Es stellen
Die Schatten im Unterholz
Ihr Fangnetz auf.

Es gibt literarische Preise über Preise in der Bundesrepublik, die vor allem, wie es sich gehört, an Namen aus der Literatur gebunden sind. Jetzt hat die Flut den Namen Peter Huchel ereilt. Wo könnte sein Denkmal stehen, falls man sich darauf besinnt, wieder Dichtern Denkmäler zu setzen wie in Weimar? Es sollte nirgendwo stehen. Die Stiftung des Peter-Huchel-Preises war für mich eine Überraschung wohl nicht zuletzt deshalb, weil der Gedanke, sie könne auf ein Ost-West-Politikum zielen, mir im Augenblick der Mitteilung ganz und gar fernlag. Sie wird hoffentlich nie dazu.
Wir sprachen über Hitlers Krieg und die Auswirkungen auf den Kontinent. Der eigene Beitrag im Vers war Huchel nicht genug. Das Thema Chausseen Chausseen weiter in inneren Auftrag geben. Wir wissen immer noch zu wenig darüber. Mehr Erinnerungsarbeit ist nötig, noch härtere als die bisher geleistete. Er war in diesem Punkt nicht zufrieden mit der Literatur seiner, unserer Zeit. Aber wenn jemand, so stand ihm der moralische Anspruch zu. Seine Poesie nahm keinen Schaden daran. Und er hat keine Jünger um sich geschart, hat auch sonst nicht Schule gemacht. Wo andere verführten, wies er ab: „Jeder, der schreibt, weiß, daß die Dichtung ihre eigene Dimension hat. Aber jeder, der schreibt, weiß auch, wie schwer es ist, dem Schweigen ein Wort abzuringen.“ Lapidarer läßt sich die Verpflichtung nicht überliefern.
Mein Dank hier gilt vor allem ihm, Peter Huchel. Dank in der Hoffnung, daß in seinem Sinne die Gegenwirkung der Sprache, die Poesie in ihrem erneuernden Impuls, weiter Wort wird. In dem Bewußtsein zugleich, daß allen, die schreiben, mit der Poesie am Werk sind, die Strophe des von Huchel geliebten tschechischen Generationsgenossen František Halas gilt:

Aber die Verse auch neid ich
Wissende die nicht sind
sich drum zu wurmen lohnt meinen
Neid genau den
Armvoll Wasser.

Manfred Peter Hein, Danksagung, 1984

 

Mitschnitt der Preisverleihung vom 3.4.1984

 

 

Zum 50. Geburtstag des Autors:

Andreas F. Kelletat/ Bernd Rüther (Hg.): Jubelzwerg. Zwiebelzwergin erikoisnumero. Manfred Peter Hein zum 50. Geburtstag
Zwiebelzwerg Company, 1981

Zum 60. Geburtstag des Autors:

Andreas F. Kelletat: Ein Deutscher Dichter aus Finnland
Ausblick (Lübeck), 1991, Heft 1/2

Gudrun  Partyka u.a.: Trifft man sich, in welchem Zustand, an welcher Stelle der Welt. Manfred Peter Hein zum 60.
Stuttgart, Warmbronn (Privatdruck), 1991

Zum 70. Geburtstag des Autors:

Martin Ebel: Ich will zurück zur dunklen Seite des Monats
Neue Zürcher Zeitung, 25.5.2001

Hermann Wallmann: Fluchtfährten
Süddeutsche Zeitung, 25.5.2001

Fakten und Vermutungen zum Autor + KLG + UeLEX + Archiv +
Kalliope
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum + Keystone-SDA
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Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Manfred Peter Hein

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