Peter Rühmkorf: Zu Peter Rühmkorfs Gedicht „Haltbar bis Ende 1999“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Peter Rühmkorfs Gedicht „Haltbar bis Ende 1999“ aus Peter Rühmkorf: Gedichte. Werke Bd. 1. –

 

 

 

 

PETER RÜHMKORF

Haltbar bis Ende 1999
Für Michael Naura, den Krapotkin des Pianos

Relativ neu im Showgeschäft
ist Franz Draak.
Er ist bei andern Textmachern in die Lehre gegangen,
George Greflinger, Jaicee Gunther, old Danny Lohenstein,
überall mal’n bißchen gespickt,
den Kiebitz gemacht und die wichtigsten Griffe abgekloppt;
nun hat er aber mittlerweile ein eigenes
kleines Podest erklommen:
da muß jetzt nur noch ein paarmal der Regen drüberfallen
und ein bißchen Sonne draufscheinen –
Najanu, hier wird zwar keine Epoche gemacht,
aber doch ganz schöne Musik.

Ich bin so ’n Nonstopcharakter, wie soll ich sagen,
so ein eiliges Bleistiftgesicht.
Kaum daß ich ausgeschlafen hab,
rasen schon meine sämtlichen Nerven mit mir los,
eine Litfaßsäule törnt mich an,
selbst Erdgas wirbt schon mit Titten;
man muß den Menschen vermutlich öfter mal sagen, daß sie vorübergehn,
sonst bleiben sie stehen – – –
Nebenbei, seit einigen Jahren, drei oder vier,
laß ich nur noch das Glück an mich rankommen.

Mein Leben in Reinschrift?
Wen geht das schon was an.
Ich frage, wollen wir hier nun ein Papier erarbeiten oder
lieber nachsehen, wo noch ’n klein bißchen Leuchtstoff rumhängt?
N i h i l i s t i s c h e   N a c h t s p a n n e r,
nicht ins Bett zu kriegen;
B o u l e v a r d z i r p e n, richtigenoch,
mit’m handgezogenen Heiligenschein;
S e l b s t t r a g e n d e   C h a r a k t e r e  ohne groß Entfremdung und Blabla
(Woher kommt der Mensch, in der Art,
und welcher Partei soll er sich anschließen) – A b e r
Die Hand ganz locker an die Tube,
die eine Hälfte schon umgerollt, die andere stündlich auf Abruf,
s i c h   s e l b s t   a u s q u e t s c h e n   und
– im Ernstfall gegen auch die eigene Natur –
aus einer Meise einen Mythos machen.

Kommkomm, die Haare liegen doch, der Schal sitzt.
Irgendwann muß sich einer vermutlich entscheiden,
ob er Dichter oder Pressereferent werden will:
Andere in deinem Alter
bieten heut schon den Landesvater;
andere lungern noch immer herum, wo’s grad was zu glauben gibt –
Ich aber sage euch, dieses totenwurmhafte Geticke
darf doch nicht alles sein.
H i e r   i s t   e i n   r i c h t i g e s   H e r z,   d a s   s c h l ä g t!
N i c h t s   d r u m h e r u m.

H e r b s t   d e s   L e b e n s?  E r n t e?
Die Natur ist kein Beispiel.
Während die junge Welt schon wieder turnt
und sich das Rauchen abgewöhnt,
experimentier ich mit all meinen Öffnungen.
Sein, richtig wirklich sein muß nämlich nichts.
Nichtmal Kultur, Tevau,
die Hoffnung hinterm Auge, Zukunft vorm Gesicht,
von euern Butterfahrten und Initiativausschüssen
völlig zu schweigen;
aber diese ausgesuchten Versorgungsklappen zur Schöpfung
m a c h   i c h   n i c h t   z u!
Wenns hochkommt, ein paar letzte Dinge an sich selbst vornehmen.
Keinen Putz! das ist nun mal Seelenleben hier.

Und, wie gesagt oder nicht:
wer nicht lieber lebt als schreibt, kann das Dichten auch ganz aufgeben.
Sekunde, Lissy, leg noch schnell ’n neuen Dosendeckel auf
(es muß ja nicht gleich was für die ganze Ewigkeit sein;
bloß so mit diesem gewissen
metaphysischen Biß) :
H a l t b a r   b i s   E n d e   1 9 9 9

 

Selbstinterpretation

Das Gedicht „Haltbar bis Ende 1999“ ist im Jahre 1978 geschrieben worden, also mittlerweile über 20 Jahre alt. Der nicht ganz unverfängliche Titel schien mir damals sogar als Deckelprägung eines neuen Sammelbandes gut, was vielleicht die Versuchung erklärt, es Ihnen heute noch einmal vorzulesen. Interessanter als die zeitbedingten Verfallsdaten einiger der Tagespolitik oder der Werbesphäre entlehnten Anspielungen scheint mir freilich sein unübersehbarer Gestus als Rollengedicht. Die sich selbst annoncierende Ich- Person – aus einer Laune heraus Franz Draak genannt – schwingt sich in der Maske des Alleinunterhalters auf eine vorgestellte Kleinkunstbühne, wobei ich nicht unerwähnt lassen möchte, daß dem Gedicht bereits während seines Entstehensprozesses klar war, daß es einmal aus der Schreibstube raus und dann auch gleich in die Arena gehen würde. So etwas ist für die artenreiche Gattung nicht einmal ungewöhnlich. Ein Tanzlied möchte in die Beine fahren, ein Gesangbuchvers in der Kirche ertönen und ein Shantie in der Kneipe oder auf dem Schiffsdeck landen, also da bewegen wir uns durchaus im Rahmen alt vertrauter Resonanzvorstellungen. Nur das „Gedicht an niemanden gerichtet“ scheint hier ein bißchen aus der Rolle zu fallen. Eine Rolle ist es trotz alledem, denn wenn es im Anschluß einigermaßen überraschend heißt: ein Gedicht aus Worten, die Sie „faszinierend ansetzen“, verrät sich in der Wirkungsabsicht logisch auch die Hoffnung auf zirzensische Effekte.
Der Ton, der in unserem Fall die Musik macht, hat allerdings viel weniger mit Programmatik als mit jahrzehntelang experimentell betriebener Vortragspraxis zu tun. Der perspektivisch verlängerte Blick von der häuslichen Schreibtischplatte auf die öffentliche Probebühne hat sich folgerichtig und folgenreich aus dem gemeinsamen Musizieren mit Michael Naura (Klavier) und Wolfgang Schlüter (Vib) entwickelt, colloquialen Verkehrsformen, die den Duktus der Gedichte nicht unberührt gelassen haben. Ungeniert und scheinbar improvisiert von sich selbst in die Runde plaudern, unter uns, das kommt nicht von selbst, das muß immer wieder erprobt, trainiert und vor wechselnden Auditorien durchgespielt werden, denn wer kann schon im voraus wissen, mit welchen Erwartungen man in Hollbüllhuus oder Henstedt-Ulzburg 3 zu rechnen hat.
Einen Anlaß zum Rätselraten bieten immerhin noch die reichlich unvermutet in unseren Freundeskreis einbezogenen Herren ,George Greflinger‘, ,Jaicee Gunther‘ und ,Old Danny Lohenstein‘, eine etwas vermummte Truppe, die nicht jedem Leser oder Zuhörer vertraut sein dürfte. Um Sie nicht unnötig auf die Folter zu spannen, will ich lieber gleich verraten, daß es sich hier um namentlich nur geringfügig mystifizierte Dichterkollegen aus dem Barockzeitalter handelt, Georg Greflinger, Johann Christian Günther und Daniel Casper von Lohenstein, stilprägende Vorbilder meiner eigenen Lehr- und Wanderjahre und im Zusammenhang unserer Tempus-fugit-Suite nicht ganz absichtslos zitierte Stichwortlieferanten. Immerhin, „Der Hoffnungs-Bau ist Fall, die Blüte faulend Most“, das berührt die Eingangsfrage nach den Verfallsdaten unseres irdischen Wirkens und Werkelns doch schon einigermaßen einschneidend, um nicht zu sagen, ungemütlich. Und wo wir den von der Furie des Vergessens selbst schon kritisch benagten Namen Lohenstein gerade einmal auf der Platte haben, sollten wir es auf keinen Fall versäumen, wenigstens den Anfang seiner Millenniumsnummer „Umschrift eines Sarges“ kurz zu Gehör zu bringen:

Irdisches und sterblich Volk, lebend-tote Erdengäste,
Ihr Verwürflinge des Himmels, ihr Gespenste dieser Welt,
denen nichts als falsche Ware, nichts als Rauch und Wind gefällt,
Närrsche klettert und besteigt die bepalmten Ehrenäste…

Also einerseits dies, „Vanitas vanitatum, et omnia vanitas“ – „Es ist alles ganz eitel“, sagt der Prediger Salomo – aber dann auch gleich wieder „Carpe diem“ (Horaz) und in direktem Anschluß unser Georg Greflinger:

Was hilft euch der Palast, der euch erbauet ist?
Wenn ihr zu Nachts allein im Bette schlafen müßt.

Beziehungsweise Johann Christian Günthers „Studentenlied“:

Unsers Lebens schnelle Flucht
Leidet keinen Zügel,
Und des Schicksals Eifersucht
Macht ihr stetig Flügel.

Womit wir, eingedenk unserer eigenen schnellen Fahrt („Ich bin so’n Nonstopcharakter, wie soll ich sagen, so ein eiliges Bleistiftgesicht“) beinah unversehens bei uns selber angekommen wären: der, zugegeben, schwer verscheuchbaren Furcht vor dem Verwehen und den ihr dialektisch-folgerichtig abgetrotzten Wonnen der Zerstreuung:

Sekunde, Lissy, leg noch schnell ’n neuen Dosendeckel auf
(es muß ja nicht gleich was für die ganze Ewigkeit sein;
bloß so mit diesem gewissen
metaphysischen Biß):
H a l t b a r   b i s   E n d e   1 9 9 9

Peter Rühmkorf, aus Peter Rühmkorf: Schachtelhalme. Schriften zur Poetik und Literatur, Rowohlt Verlag, 2001
Die Selbstinterpretationen schrieb Rühmkorf für eine Sendereihe des Hessischen Rundfunks. Sie wurden gesendet vom 26.–29.10.1999 und für den Druck überarbeitet und erweitert.

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