Peter Rühmkorf: Zu Adolf Endlers Gedicht „Des Freundes Wettlauf mit dem Schneemann“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

− Zu Adolf Endlers Gedicht „Des Freundes Wettlauf mit dem Schneemann“. −

 

 

 

 

ADOLF ENDLER

Des Freundes Wettlauf mit dem Schneemann

1
Den Schneemann dort im Hof, den lückenhaften Stumpf,
Du sahst ihn kurz vorm Sterben – ich trank immer weiter −,
Die rote Möhrennase und den schmutziggrauen Rumpf:
„Der überlebt mich…“ Und du sagtest es fast heiter.

2
Obwohl du selten pünktlich warst und niemals streng
Mit Zeigern, weshalb wolltest du die Uhrzeit wissen?
Ich Dritter Stock, du Meter unterm Souterrain,
Ich überlegs und trink, vor mir das leere Kissen.

3
Du unterm grün gestriemten Schnee im Totendreß,
Der Schneemann hat dich überlebt. Ich bin betrunken,
Da ich verwirrt die Strecke eures Wettlaufs meß.
Ich seh den Schneemann zu drei Vierteln abgesunken.

4
Der Schneemann schmilzt in meinen Augen, eh er schmilzt,
Der graue Sieger schmilzt – kein Grund zum Trinken? Bitte!
Ich hab, als keiner da war, deine Uhr gefilzt.
Ihr Zifferblatt zerfließt. Laut ticken deine Schritte.

 

 

Eine Ballade vom Schnee und vom Schnaps

Was steht auf der Stelle und läuft? fragt der Volks- und Kindermund, und die allgemein bekannte Lösung des Scherzrätsels lautet: Ein Schneemann in der Sonne. Andererseits, was ist der Mensch, das Leben, „die Welt und ihr berühmtes gläntzen“? Und es antworten uns mit dem gesammelten allegorischen Ernst der Barockepoche die Dichter Andreas Gryphius, Georg Rudolf Weckherlin und Georg Philipp Harsdörffer: „Ein bald verschmeltzter Schnee und abgebrante Kertzen „ein schnee der frühlings zeit abgehet“, „Ein Schnee der in dem Nu vergehet“.
So zwischen Sub- und Hochliteratur verwegen interpolierend und eigenwillig vom Gewöhnlichen aufs Erhabene und Serene zusteuernd, beziehungsweise vom erlesen Allgemeinen aufs trivial Faßliche, bewegt sich ein Gedicht des DDR-Lyrikers Adolf Endler (Jahrgang 1930): ein Vanitaspoem im Gewand einer Trinkerballade. Das Sinnbild vom zerrinnenden Schnee (mit dem die Alten gern das verrinnende Leben malen) konkretisiert sich in der Jammergestalt des hinfälligen Schneemanns, wobei – und das ist neu hier – haltloses Zerlaufen zu einer Art von paradoxem Wettlauf wird, in dem der Schnellere den kürzeren zieht.
Obwohl es mir schwerfällt, angesichts eines mich ergreifenden Gedichtes von Technik und Fertigungsweise zu reden, möchte ich doch gleich anfügen, daß die Ballade hier genau den richtigen Ton herleiht, um ein Geschehen wiederzugeben. Mit der heiter-gefaßten und gleichermaßen sterbenstraurigen Sentenz „Der überlebt mich…“ kommt außerdem so etwas wie eine dramatische Disposition ins anstehende Trauerspiel.
Haltlos um den Preis der geringeren Vergänglichkeit kämpfen ein Mensch und ein Schneemann, eine Wettbewerbsgroteske, die dadurch gewiß nicht weniger grotesk wird, daß in der zweiten Strophe dann eine Uhr als Zeit-, ein Haus als Höhen- oder Längenmesser eingeführt werden. Freilich – und das scheint mir wichtig – besitzt der Autor genügend Takt und Sensibilität, uns den Todeskampf nicht am lebenden Modell vorzuführen. Als das Gedicht einsetzt, sind die Würfel bereits gefallen, ist der Streit entschieden, und was geblieben ist, ein weißer Schreckensfleck, ist einzig „das leere Kissen“.
Damit verlagert sich die Tragödie gleichzeitig auf eine uns bislang verborgen gebliebene Bühne, auf die Anschauungs- und Empfindungsebene des sentimentalischen Berichterstatters. War uns bereits in der ersten Strophe mitgeteilt worden, daß er weitertrinkt, so mochte vielleicht der Eindruck naheliegen, daß er unverdrossen weitermacht, weiterlebt.
Allein, wo ohnmächtiges Zerfließen mehr und mehr zum eigentlichen Leitmotiv der Ballade wird, sehen wir den Reporter plötzlich sympathetisch mit in die laufende Zerlösung einbezogen. Mit der Zeile „Der Schneemann schmilzt in meinen Augen, eh er schmilzt“, gibt eine scheinbare Säuferballade dann ihr wirkliches geheimes Wesen preis und der unaufhörlich rinnende Schnaps seine übertragene Bedeutung zu erkennen.
Wie der Schnee für die Vergänglichkeit des Lebens steht, so der Schnaps für das triefende Elend des Beobachters und Unparteiischen, der eben alles andere ist als gerade dies: ein Aufgelöster nämlich er selbst und, in einem makabren Zweikampf, der heulende Dritte.

Peter Rühmkorf, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7.2.1976

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