Peter von Matt: Zu Hermann Hesses Gedicht „Im Nebel“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Hermann Hesses Gedicht „Im Nebel“ aus dem Band: Hermann Hesse: Die Gedichte. –

 

 

 

 

HERMANN HESSE

Im Nebel

Seltsam, im Nebel zu wandern!
Einsam ist jeder Busch und Stein,
Kein Baum sieht den andern,
Jeder ist allein.

Voll von Freunden war mir die Welt,
Als noch mein Leben licht war;
Nun, da der Nebel fällt,
Ist keiner mehr sichtbar.

Wahrlich, keiner ist weise,
Der nicht das Dunkel kennt,
Das unentrinnbar und leise
Von allen ihn trennt.

Seltsam, im Nebel zu wandern!
Leben ist Einsamsein.
Kein Mensch kennt den andern,
Jeder ist allein.

 

 

Zweideutige Melancholie

Es muß an der ersten Zeile liegen! Der Rest besteht aus Gemeinplätzen, ist wehleidig und auch etwas eitel. Es muß diese erste Zeile sein, die alle Banalitäten magisch verwandelt und das Ganze zu einer Verlautbarung werden läßt, in der Hunderttausende ihr tiefstes Gefühl ausgesprochen hören durften. Gibt es ein Gedicht, das innigere Zustimmung gefunden hätte in diesem Jahrhundert?
Als Jacob Burckhardt einmal Überlegungen anstellte darüber, was die Literatur eigentlich leiste, meinte er:

Die Poesie hat ihre Höhepunkte, wenn sie dem Menschen Geheimnisse offenbart, die in ihm liegen und von welchen er ohne sie nur ein dumpfes Gefühl hätte.

Genau das muß sich angesichts von Hesses Gedicht in ungezählten Leserinnen und Lesern ereignet haben. Der Erfolg dieser vier Strophen ist undenkbar ohne den schockartigen Offenbarungsmoment:

Ja, so ist es! Endlich sagt es einer…

Das dumpfe Gefühl der Verlassenheit, des Alleinseins und Nichtverstandenwerdens, hier wird es plötzlich zum klaren Wort. Hier gab ein Gott einem Dichter zu sagen, was alle, alle leiden. Ein Allerweltsgedicht. Tatsächlich und in des Wortes imponierendster Bedeutung.
Und doch kann da etwas nicht stimmen. Burckhardt spricht von „Geheimnissen“. Läßt sich dieses Wort wirklich auf Sätze anwenden wie: „Leben ist Einsamsein“ und: „Jeder ist allein“? Sollen das Offenbarungen sein? Dann ist alles Offenbarung, auch: „Das Leben ist kurz“ und „Aller Anfang ist schwer“. Dann gibt es überhaupt keine Plattitüde, die nicht Offenbarung sein könnte.
So ist es in der Tat. Der Gesamtbestand an Grundwahrheiten ist weit kleiner als die Zahl der lebenden Philosophen. Und diese Grundwahrheiten sind alle längst bekannt. Nur ist, was bekannt ist, damit nicht auch schon erfahren. Man kann mit einer einfachen Wahrheit jahrzehntelang vertraut sein und sie hundertmal selbst ausgesprochen haben, bevor sie einem zum ersten Mal in die Knochen fährt. Nichts anderes leistet Hesses Gedicht. Es verwandelt einen Gemeinplatz in eine akute Erfahrung. Daß es gelingt, liegt an der ersten Zeile. Sie ist ein lyrisches Ereignis, das einzige in allen sechzehn Versen. Das Sprachspiel Nebel/Leben, das uns in der Schlußstrophe etwas zu aufdringlich vorgerückt wird, steckt hier noch latent im Satz. Wir hören es mit, ohne uns seiner bewußt zu sein. Der alte Gedanke, daß das Leben eine Wanderschaft sei, taucht durch die Verbindung des Wortes „wandern“ mit dem Wort „Nebel“, dem Spiegelwort zu „Leben“, im Hallraum der Zeile auf. Ja, dieser Hallraum entsteht dadurch überhaupt erst. Er verzaubert die fünf Wörter und bewirkt, daß man den Vers nicht mehr vergißt.
Die Zustände der Verlassenheit, des Alleinseins, des Nichtverstandenwerdens gehören zu unsern frühesten Erinnerungen. Sie sind ein wesentliches Element jeder Kindheit. Als Vater oder Mutter versucht man eifrig, sie seinen Kindern zu ersparen. Denn die Psychologen sagen, daß die Kinder dadurch Schaden nehmen, unglückliche Erwachsene werden und ihrer Eltern nur noch mit Bitterkeit gedenken. Das ist Unsinn. Nichts wäre schrecklicher, als immerzu restlos verstanden zu werden. Es gibt keine Selbstfindung, keine Gewißheit eines eigenen Ichs, ohne das schmerzlich durchgekostete Gefühl des Einsamseins. In diesen Momenten wird man seiner Mitte gewahr, jener seltsamen Gegebenheit, für die sich nie ein rechtes Wort findet. Goethe nannte sie „mein Herz“. Daher führen alle kritischen Lebensphasen zu einer Steigerung und Häufung solcher Zustände. Denn alle kritischen Lebensphasen müssen auch mit einer neuen Selbstfindung enden. Das tut weh und ist beflügelnd zugleich.
Es gehört zur naiven Raffinesse von Hesses Gedicht, daß es das triumphale Gefühl erlangter Einzigartigkeit hinter der vordergründigen Melancholie kräftig hervorscheinen lässt. „Wahrlich, keiner ist weise…“, das heißt doch wohl: „Ich bin es, und wie!“ Und da es sich um ein Allerweltsgedicht in des Wortes imponierendster Bedeutung handelt, schenkt es auch jedem Leser die Gewißheit, ein Weiser zu sein. Gar kein so schlechtes Geschenk.

Peter von Matt, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Hundert Gedichte des Jahrhunderts, Insel Verlag, 2000

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