Reinhard Lauer: Zu Alexander Nitzbergs Gedicht „Wer hat Angst vor Alexander Nitzberg?“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Alexander Nitzbergs Gedicht „Wer hat Angst vor Alexander Nitzberg?“ aus Alexander Nitzberg: Im Anfang war mein Wort. 

 

 

 

 

ALEXANDER NITZBERG

Wer hat Angst vor Alexander Nitzberg?

Ich fasse nach dem Puls der Uhr:
aaaaaaaaEr ist zu schnell.
Dem Teppich im entsetzten Flur
aaaaaaaasträubt sich das Fell.

Die Türen haben Angst vor mir:
aaaaaaaaDer Griff – gelähmt.
Erschrocken knirscht es im Scharnier.
aaaaaaaaLicht scheint verschämt.

Laternen glotzen fassungslos
aaaaaaaain Dunkelheit.
Die Pflastersteine liegen bloß:
aaaaaaaaals Nervenkleid.

Da hält der Wind den Atem an.
aaaaaaaaUnd feig zerfurcht
hat alle Welt vor Alexan-
aaaaaaaader Nitzberg Furcht.

Er weiß zuviel: und könnte wohl
aaaaaaaain ihrem Sein
ein Löchlein finden, klein und hohl…
aaaaaaaaDann bricht es ein!

 

Der Dichter als Buhmann

Die Uhr, der Teppich, Türen, Laternen, Pflastersteine, Wind – alle hat die Furcht gepackt. Der Puls geht schneller, das Fell sträubt sich, es knirscht und glotzt, die Nerven liegen bloß, sogar der Wind hält den Atem an. Wer hat diese unerhörten Angstschübe ausgelöst? Kein anderer als der, der diese Verse geschrieben hat: Alexander Nitzberg. Der scheint über die verängstigten Dinge so viel und so Fatales zu wissen, daß er ihre Existenz zum Einsturz bringen kann. Und deshalb hat, wie könnte es anders sein, alle Welt vor ihm Angst. Die rhetorische Frage, die die Überschrift stellt, wird also aufs entschiedenste beantwortet. Und da die animierten Dinge ausnahmslos höchst menschlich reagieren, springt die Panik auf den Leser über, dessen Sein, findet Alexander Nitzberg nur das subversive Löchlein, dem Untergang ausgeliefert ist wie das der bedrohten Dinge.
Was der Dichter über seine Opfer weiß, gibt er nicht preis, aber uns dämmert allmählich, daß es etwas ganz anderes ist, als wir zunächst befürchten mußten. Er weiß nämlich ausnehmend viel darüber, wie man Gedichte macht. Er hat sein Handwerk bei Heinrich Heine, bei Peter Rühmkorf und nicht zuletzt bei den russischen Futuristen und Formalisten gelernt. Denn er schreibt, 1969 in Moskau geboren und heute in Düsseldorf lebend, deutsche und russische Gedichte; und er hat russische Dichter wie Igor Sewerjanin, Wladislaw Chodassewitsch, David Burliuk und Maximilian Woloschin ins Deutsche übertragen – Dichter, die manch einer für unübersetzbar hielt. Nitzberg verkörpert jenen Dichtertypus, der seine bikulturellen Erfahrungen fruchtbar zusammenführt.
Von Wladimir Majakowskij, den er ebenfalls kongenial übersetzt hat, kommt zweifellos das gigantische, respektheischende Dichter-Ich, das sich selbst beim Namen nennt. Auch Sergej Jessenin, Bert Brecht und andere schreckten vor solcher Selbstentblößung nicht zurück. Zum beängstigenden Buhmann haben sie sich allerdings selbst nicht stilisiert, geschweige denn ihren Namen geteilt, wie es Nitzberg, um die Drohgebärde noch zu verstärken, an Reimes Stelle tut.
Die Kombination von vier- und zweifüßigen Jamben mit stets stumpfem Versschluß schafft eine Folge von drängenden Fragen und Antworten, die sich in der Vertikale des Gedichts (drei zu zwei Strophen) wiederholt. Die Klimax aber bildet der gespaltene Name des Dichters. Wer in der russischen Verskunst beschlagen ist, wird in Lautentsprechungen wie Flur – Fell, erschrocken – knirschtScharnier, scheint – verschämt oder den gehäuften Reimen auf -ein in der letzten Strophe charakteristische Kunstmittel der russischen Poesie wiedererkennen. Auch semantische Umdeutungen wie in dem reichen Reim zerfurcht–Furcht oder den doppelsinnigen fassungslosen Laternen kommen dem nahe. So findet sich in Nitzbergs Gedichten manches, was an die Technologie der russischen Dichtung erinnert: Bereicherung nicht nur der poetischen Ausdrucksmöglichkeiten des Deutschen, sondern, wie Peter Rühmkorf schrieb, auch als „Repertorium eine ganz zauberhafte Mischung“.
Vielleicht brauchen die Dichter Überheblichkeit und Drohgebärden nur, um die eigene Angst zu überspielen.
Oder sollten sie wirklich alle Welt durch ihr exklusives Wissen in Angst und Schrecken versetzen wollen und können? Ein wenig klingt solches im Titel des Bandes an, dem das Gedicht entnommen wurde:

Im Anfang war mein Wort.

Reinhard Laueraus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Neunundzwanzigster Band, Insel Verlag, 2006

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00