Reinhold Grimm: Zu Franz Werfels Gedicht „Das Bleibende“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Franz Werfels Gedicht „Das Bleibende“ aus Franz Werfel: Das lyrische Werk. –

 

 

 

 

FRANZ WERFEL

Das Bleibende

Solang noch der Tatrawind leicht
Slovakische Blumen bestreicht,
Solang wirken Mädchen sie ein
In trauliche Buntstickerein.

Solang noch im bayrischen Wald
Die Axt im Morgengraun hallt,
Solang auch der Einsame sitzt,
Der Gott und die Heiligen schnitzt.

Solang auf ligurischer Fahrt
Das Meer seine Fischer gewahrt,
Solang wird am Strande es schaun
Die spitzenklöppelnden Fraun.

Ihr Völker der Erde, mich rührt
Das Bleibende, das ihr vollführt.
Ich selbst, ohne Volk ohne Land,
Stütz nun meine Stirn in die Hand.

 

Ohne Volk, ohne Land

Wie dem jungen Rilke, so ging ihm alles rasch, allzu rasch und mühelos von der Hand. Die Bilder und Reime, die Verse und Strophen: sie ergaben sich förmlich von selber, wenn er zur Feder griff, quollen und flossen und strömten ihm über die Seiten, ganz wie er es wünschte und wollte. Ja, im Rückblick wirkt diese sprachliche Fertigkeit und Behendigkeit, diese Fülle an Worten, dieser poetisch-rhetorische Überschwang, den zu zügeln er weder die Kraft noch die Absicht hatte, manchmal schon beinahe unbewußt oder doch unbedacht, jedenfalls unkontrolliert und im tieferen Sinne unreflektiert…
Oder müßten wir eher folgern, Franz Werfels Schaffen sei lediglich überbeflissene, allzu flotte Betriebsamkeit gewesen? Zumindest Karl Kraus mokierte sich bereits darüber, indem er, boshaft wie eh und je, seinen fruchtbaren (und so erfolgreichen) jungen Schriftstellerkollegen mit gleichsam katzbuckelndem Diensteifer, reimweis obendrein, werben und fragen ließ:

Ich bin der Dichter Werfel, ham sie ein Bederfel?

Denn kam dieser Dichter nicht in der Tat, Gott und die Welt verreimend, jedwedem Bedürfnis nach, ja entgegen? Die Masse seines poetischen Angebots war schier erdrückend, die Promptheit seiner lyrischen Lieferungen schlechthin überwältigend. Vieles davon – namentlich aus Werfels expressionistischer Produktion mit ihren Tränenwonnen und steilen Gefühlsekstasen, wohlfeilen Bruderküssen und menschheitlichen Umarmungen – ist mittlerweile nur noch schwer genießbar. Von dem, was sich damals in solch unerschöpflichem Fluß und Überfluß ergossen hat, scheint sich heute wenig als bleibend erweisen zu wollen.
Und dennoch hat gerade Werfel ein Gedicht geschrieben, das sich, inmitten der beängstigenden Red- und Empfindungsseligkeiten, der wortreich-geschäftigen, nicht selten ans Kitschige streifenden Entrückungen und Verzückungen wie ein Kalenderspruch oder ein Volkslied anhört. Seine plötzliche Schlichtheit und Kargheit, seine auf einmal fast schamhafte Scheu vor der Deklamation, die sich, erschüttert, in die reine Gebärde zurücknimmt: sie sind derart, daß diese paar stillen Strophen für mich zum Ergreifendsten zählen, was ich aus neuerer deutscher Lyrik kenne. Wo auch spräche das Wort vernehmlicher als am Rande des Schweigens? Und wer wäre beredter als der Allzuberedte, dem es die Zunge zu lähmen droht?
Aber Werfels Gedicht ist nicht etwa Ausdruck seiner konkreten Exilerfahrung. Die Elegie des in Prag Geborenen, der dann in Wien lebte, ist lang vor dem „Anschluß“ Österreichs entstanden, sie weist sogar aufs einstige Österreich-Ungarn zurück. Deutlich umkreisen ihre ersten drei Strophen dessen Grenzen; nacheinander ruft sie das slawisch-magyarische, das deutsche und das romanische Element des Vielvölkerstaates ins Gedächtnis. Und doch dient ihr die Donaumonarchie bloß als Zeichen für alle „Völker der Erde“.
Der hier so schmerzlich die „Stirn in die Hand“ stützt, war überall „ohne Volk ohne Land“. Er war Dichter und Jude und mithin – wie er zuletzt, nun wirklich verbannt und vertrieben, sagte – „Emigrant auf dem ganzen Planeten“.
Werfels Erfahrung war älter als Hitler. Aber trotzdem und ebendarum ist auch dieses Gedicht schon ein Exilgedicht. In ihm bebt das uralte Leid des jüdischen Schicksals und zugleich die Verlorenheit und bange Fremdheit des geistigen Menschen, den das „trauliche“ Leben „rührt“, weil ihn darin „das Bleibende“ anrührt.
Ach, dieses Bleibende ist so bleibend nicht. Statt auf die Tatra braucht man nur aufs Riesengebirge, statt auf Ligurien auf die Levante zu schauen; von anderem zu schweigen. Vertreibung und schließlich Vernichtung, wohin man sich kehrt. Wahrhaft bleiben wird einzig das Leid, über dem selbst die Dichter verstummen.

Reinhold Grimm, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Sechster Band, Insel Verlag, 1982

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