Rolf Schneider: Zu Else Lasker-Schülers Gedicht „In meinem Schoße“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Else Lasker-Schülers Gedicht „In meinem Schoße“ aus dem Band Else Lasker-Schüler: Gesammelte Werk in 3 Bänden. Band I: Gedichte 1902–1943. –

 

 

 

 

ELSE LASKER-SCHÜLER

In meinem Schoße

In meinem Schoße
Schlafen die dunkelen Wolken –
Darum bin ich so traurig, du Holdester.

Ich muß deinen Namen rufen
Mit der Stimme des Paradiesvogels
Wenn sich meine Lippen bunt färben.

Es schlafen schon alle Bäume im Garten –
Auch der nimmermüde
Vor meinem Fenster –

Es rauscht der Flügel des Geiers
Und trägt mich durch die Lüfte
Bis über dein Haus.

Meine Arme legen sich um deine Hüften,
Mich zu spiegeln
In deines Leibes Verklärtheit.

Lösche mein Herz nicht aus –
Du den Weg findest –
Immerdar.

 

Paradies- und Todesvogel

Ein Liebesgedicht. Ein Gedicht von Trennung, von Sehnsüchten, von Träumen und Beschwörungen. Die Strophen sind dreizeilig; sehr entfernt erinnern sie an Terzinen, die Strophen des Dante Alighieri, der in glühender Verehrung der viel zu jungen Tochter des Folco Portinari anhing, die er Beatrice nannte.
Sehr viel jünger als die Dichterin ist wohl auch jener gewesen, der hier angeredet wird als „du Holdester“. Die im Kontext unmittelbar vorausgehenden oder fehlenden Verse sind überschrieben „Dem Holden“ („Ich suche ewig dich – es bluten meine Füße“), sie heißen „Ich liebe dich“ und „Ihm eine Hymne“; hier wird vage angedeutet, um wen es sich handelt:

Im ewigen Jerusalem-Eden,
Tröstet sein Wort Jedweden.

Die Gedichte stammen aus dem Band Mein blaues Klavier, der 1943 erschien. Die Verfasserin war damals eine vierundsiebzigjährige und kranke Frau, ein „Bündel – gelegentlich begeisterten – Elends“, wie einer geschrieben hat, der sie persönlich kannte, Heinz Politzer. Muß man, wenn man dies weiß, noch das Eingangsbild dechiffrieren? Die „dunkelen Wolken“ sind Symbol für Unfruchtbarkeit und Alter; ein mildes Symbol, wenn die Intensität der Sehnsüchte bedacht wird und die biologische Unabänderlichkeit des dargetanen Zustands. Ein mildes Bild? Sie muß, seinen Namen zu rufen, die Stimme des Paradiesvogels haben, jenes Rabentieres aus der Inselwelt Neuguineas, das zu Zeiten der Balz sein Gefieder in einen bizarren Schmuck verwandelt.
Aber es sind immer nur die männlichen Tiere, die dies vermögen, die ihre Luftröhren zu riesigen Kehlsäcken blähen, um daraus ihre Hochzeitsrufe zu entlassen. Die Weibchen bleiben unscheinbar wie zuvor. Die Transmutation, die in dieser Strophe verheißen wird, findet in Wahrheit nicht statt.
Allenfalls, daß sich „meine Lippen bunt färben“. Man will sofort nach der Färbung fragen. Rot kann wohl nicht gemeint sein, Farbe von Jugend und Jugendlichkeit; wäre sie zu nennen, würde sie genannt. Weiß, Gelb, Blau, Schwarz: jede andere Farbe bedeutete Hinfälligkeit und Siechtum; im Garten schläft alles, selbst das Nimmermüde ist nun doch ermattet, solche Müdigkeit klingt nach tiefer Erschöpfung, dieser Schlaf ist nahe am Tod, und der Traumvogel, der die Liebenden zusammenführt, ist der Todesvogel, der Leichenfledderer, der sich von Aas ernährt.
Unter seinem Eindruck wird die versuchte Umarmung zur Ohnmacht. Der Traum von ihr gerät zu bloßer Beschwörung eines jugendlichen Bildes: Der Leib des Geliebten ist nicht wie der eigene von dunklen Wolken verhüllt, er ist klar wie ein Spiegel.
Darauf die letzte Strophe. Jeder Vers wird zum Ausruf, jeder Ausruf wird kürzer, die Syntax zerbröckelt. Nicht „Der du den Weg findest“ heißt, wie es grammatisch korrekt wäre, der mittlere Vers; das fehlende Pronomen macht ihn zu rührendem Gestammel, aus dem schließlich, als letztes Wort, als letzter Ruf, als Behauptung gegen Vergänglichkeit, gegen Verlust und Tod das utopischste Wort unserer Sprache herausfällt: „Immerdar“.
Else Lasker-Schüler war 1933 in die Schweiz geflohen, eine bettelarme Frau, die sie zuletzt auch in Berlin gewesen war. Hitler-Anhänger hatten sie mit einer Metallstange verprügelt. Sie war 64 Jahre alt. Dreimal reiste sie aus der Schweiz nach Palästina; beim dritten Male, 1939, blieb sie in Jerusalem. Sie war immer eine Ekstatikerin gewesen: in der Liebe, in ihren privaten Phantasmagorien, denen sie alle ihre vielen Freunde und Liebhaber in Märchenverkleidungen eingegliedert hat und deren Hintergrund – je älter sie wurde, desto mehr erwies es sich – immer das biblische Zion gewesen war. In Jerusalem stellte sie Mein blaues Klavier zusammen. Die Farbe der deutschen Romantik war ihre bevorzugte Farbe seit ihrer Begegnung mit Franz Marc und dem Blauen Reiter; ihr blaues Klavier bedeutete Sehnsucht, Heimat, Erinnerung.
Nicht viel mehr als ein Jahr nach Erscheinen des letzten Lyrik-Bandes starb sie. Man hat sie am Ölberg begraben.

Rolf Schneider, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Über die Liebe, Insel Verlag, 1985

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00