Rudolf Augstein: Zu Kurt Schwitters’ Gedicht „An Anna Blume“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Kurt Schwitters’ Gedicht „An Anna Blume“ aus Kurt Schwitters: Anna Blume und ich. –

 

 

 

 

KURT SCHWITTERS

An Anna Blume

Merzgedicht I

O du, Geliebte meiner siebenundzwanzig Sinne, ich
liebe dir! – Du deiner dich dir, ich dir, du mir.
– Wir?
Das gehört (beiläufig) nicht hierher.
Wer bist du, ungezähltes Frauenzimmer? Du bist
– bist du? – Die Leute sagen, du wärest – laß
sie sagen, sie wissen nicht, wie der Kirchturm steht.
Du trägst den Hut auf deinen Füßen und wanderst
auf die Hände, auf den Händen wanderst du.
Hallo, deine roten Kleider, in weiße Falten zersägt.
Rot liebe ich Anna Blume, rot liebe ich dir! – Du
deiner dich dir, ich dir, du mir. – Wir?
Das gehört (beiläufig) in die kalte Glut.
Rote Blume, rote Anna Blume, wie sagen die Leute?
Preisfrage: 1.) Anna Blume hat ein Vogel.
aaaaaaaaaa2.) Anna Blume ist rot.
aaaaaaaaaa3.) Welche Farbe hat der Vogel?
Blau ist die Farbe deines gelben Haares.
Rot ist das Girren deines grünen Vogels.
Du schlichtes Mädchen im Alltagskleid, du liebes
grünes Tier, ich liebe dir! – Du deiner dich dir, ich
dir, du mir. – Wir?
Das gehört (beiläufig) in die Glutenkiste.
Anna Blume! Anna, a-n-n-a, ich träufle deinen Namen.
Dein Name tropft wie weiches Rindertalg.
Weißt du es, Anna, weißt du es schon?
Man kann dich auch von hinten lesen, und du, du
Herrlichste von allen, du bist von hinten wie von
vorne: „a-n-n-a“.
Rindertalg träufelt streicheln über meinen Rücken.
Anna Blume, du tropfes Tier, ich liebe dir!

 

 

 

Das Manuskript von Kurt Schwitters’ „An Anna Blume“

 

Fümms, Beeee

Mit „Anna Blume“ verbindet mich ein früher Pennälertriumph, denn ich habe dieses Gedicht des von den elenden Nazis verfemten Kurt Schwitters kurz vor Hitlers Überfall auf Polen öffentlich zu Gehör gebracht, und zwar in Hannover, woher der Dichter stammt (und wo auch ich geboren wurde).
Mein Kunsterzieher am Ratsgymnasium, der Oberstudienrat Bernhard Haake, jetzt sechsundachtzig Jahre alt und Ehrenbürger von Rotenburg an der Wümme, hatte stets geistige Konterbande für die ihm befreundeten Schüler parat.
Nie ohne Parteiabzeichen, servierte er uns wenigen Freunden neben Schwitters so manches, was gut und verboten war. Als Mitglied einer Marionetten-Spielschar der Hitlerjugend und also berufen, auch die bunten Abende auszurichten, war es mir ein leichtes, meinen Vortrag der „Anna Blume“ mit dem erschrockenen Ausruf zu rechtfertigen:

Und der Mann soll aus Hannover stammen!

Schwitters (geboren 1887, gestorben 1948 in England, und zwar in Ambleside/Westmoreland) gehörte zu den Mitbegründern der Dada-Bewegung und war einer der vielseitigsten und bizarrsten Künstler jener Zeit. Es gibt kaum eine Kunstform, in der er sich nicht hervorgetan hätte. Sogar eine „Sonate in Urlauten“ hat er verfaßt, aus der übrigens die Überschrift stammt.
Auch mit seiner Heimatstadt Hannover trieb er seinen vorwärtsweisenden Unfug. Er las den Namen von hinten nach vorn, was „re von nah“ ergibt, und übersetzte die Silbe „re“ mit „rückwarts“. Die umgekehrte und also in der richtigen Silbenfolge gelesene Bedeutung des Namens wäre demnach „Vorwärts nach weit“, also, um Schwitters zu folgen:

Hannover strebt vorwärts, und zwar ins Unermeßliche.

1935 war er klug genug, Deutschland zu verlassen. Am schwersten fiel ihm der Abschied von seinem MERZBAU in Hannover in der Waldhausenstraße 5, einer das ganze Haus durchwuchernden Collage-Plastik, an der er zwölf Jahre lang unablässig gearbeitet hatte. Als das Haus 1943 ein Opfer der Bomben wurde, hoffte Kurt Schwitters bis zu seinem Tode im englischen Exil, es würden unter den Trümmern noch MERZ-Stücke zu finden sein, obwohl „aus Gips und leicht zu zerstören“.
„Anna Blume“ gibt es in mehreren Versionen. Zweifelt jemand daran, daß es sich um ein glühendes Liebesgedicht handelt, das einen Unbefangenen in die haarsträubendste Verwirrung zu versetzen vermag? Warum sind Annas rote Kleider in weiße Falten zersägt? Warum ist die Farbe ihres gelben Haares blau und das Girren ihres grünen Vogels rot? Woher nimmt sich der Autor seine siebenundzwanzig Sinne? Wir wissen es nicht und alles andere auch nicht. Doch spüren wir, Kunst ist es, wenn auch eine bodenlose. Um mit Schwitters zu reden:

Ein restloses Verstehen ist ja auch bei so ganz außergewöhnlichen Dingen nicht erforderlich.

Rudolf Augsteinaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Vierzehnter Band, Insel Verlag, 1991

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