Rudolf Bussmann: Zu Erwin Messmers Gedicht „Komplet“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

− Zu Erwins Messmers Gedicht „Komplet“ aus dem Lyrikband Erwin Messmer: Im schwarzen Lack des Klaviers. −

 

 

 

 

ERWIN MESSMER

Komplet

De profundis bei Tempo 140
Auf der Überholspur psalmodieren
die Stereoboxen Mönchsgesang
clamavi ad te Domine Hinter
meinem Abgas das Blech eines
noch schnelleren Zeitgenossen
exaudi vocem meam einer
Zukunft entgegen die nicht
schnell genug vorbeigehn kann
in dieses Tages Dämmerstunde
Das Signet der Nachrichten
weist die Mönche jäh zurück
in ihr historisches Verlies
indes ein Wortschwall
jüngere Vergangenheit entlädt
Jetzt aber rechts einordnen
Ausrollen auf dem Pannenstreifen
Bei der nächsten Notrufsäule
warten auf weitere Direktiven der
Mönche auf die dargebotene
Hand aus dem Äther

 

Wochengedicht #71: Erwin Messmer

Gleich in der ersten Zeile tun sich zwei Parallelwelten auf. Im Autoradio singen Mönche den Psalm 130, während auf der Autobahn ein Spiel von Überholen und Überholtwerden im Gang ist. Zu den beiden Parallelwelten kommt eine dritte dazu, als mit der Stimme des Nachrichtensprechers ein Stück Aussenwelt in den Wagen einbricht. Die Welten bleiben unter sich, spulen selbständig ab. Ein menschliches Ich, das am Rand auftaucht („hinter meinem Abgas“), macht sich vor allem in seinen indirekten Kommentaren bemerkbar. Der Wagen bewegt sich von der Überholspur zur rechten Fahrbahn und von da auf den Pannenstreifen. Offenbar stimmt mit ihm etwas nicht. Der Fahrer steuert die Notrufsäule an und wartet darauf, dass sich am Telefon jemand meldet.

Hilfe oder Rettung?
Hilfe ist ihm gewiss, ähnlich wie der Gläubige, der den Psalm 130 betet, mit Hilfe rechnen kann: „Denn bey dem HERRN ist die Gnade / vnd viel Erlösung bey jm“, übersetzte Luther einige Zeilen weiter. Von dem inbrünstigen Flehen zum Herrn aus der Tiefe der Sünde ist auf dem Pannenstreifen nicht viel übrig geblieben. In der modernen Parallelwelt steht für die Not eine Rufnummer zur Verfügung, anstelle des Flehens fliegt eine nüchterne Positionsangabe durch den Äther.
Allerdings fehlt in ihr die Erlösung. Wo der Psalm Vergebung in Aussicht stellt, erwartet den Fahrer eine Zukunft „die nicht / schnell genug vorbeigehn kann“ – eine Leere, die mit keiner Hoffnung zu füllen ist. So gewiss in der Welt des Überholens die Hilfe ist: von dieser ist keine Rettung zu erwarten. Vielleicht spricht der Titel „Komplet“ auf diesem Umstand an. Die Komplet ist das letzte der täglichen Gebete im mönchischen Alltag, das Gebet zur Nacht. Im Gedicht geht der Tag seinem Ende zu, und es liegt nahe, dies metaphorisch auf unsere Kultur, unsere Lebensweise zu beziehen. Die Parallelwelt, die der Mönchsgesang aufklingen lässt, vermag am Niedergang nichts zu ändern, aber er kann immerhin daran erinnern.

Rudolf Bussmann, TagesWoche, 19.8.2013

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