Rudolf Bussmann: Zu Ingeborg Kaisers Gedicht „draussen…“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

− Zu Ingeborg Kaisers Gedicht „draussen…“ aus dem Lyrikband Ingeborg Kaiser: heimliches laster. −

 

 

 

 

INGEBORG KAISER

draussen
flügelschläge du
faun wer
wärmt dich
heute draussen
dunkelndes
grün wer
spiegelt deine
blindheit
draussen faun
die flüchtende
zeit

 

Wochengedicht #73: Ingeborg Kaiser

Ist das ein Liebesgedicht? Ein Faun kommt darin vor und ein Ich, das den Faun anspricht. Dreimal taucht das Wort „draussen“ auf. Das Gedicht bewegt sich in diesem Dreieck: Faun – draussen – Ich. Innerhalb des Dreiecks eröffnet sich ein Feld von Beziehungen, und je nachdem, wie man die Linien zieht, verschiebt sich die Geometrie des Textes. Man könnte je nach der Lesart von einem Dreieck der Liebe, einem Dreieck der Einsamkeit und einem Dreieck der Verzweiflung sprechen.
Den Anfang des Gedichts ist man geneigt so zu lesen: Draussen Flügelschläge. Du Faun, wer wärmt dich heute draussen? Das Ich spricht aus der schützenden Sphäre eines Innenraums zu dem göttlichen Halbwesen, das es draussen weiss. Es ist besorgt, fühlt sich dem Gott irgendwie verpflichtet, ist vielleicht in ihn verliebt, macht aber keine Anstalten, ihn bei sich aufzunehmen. Das ist nicht weiter verwunderlich. Denn am Schluss entpuppt sich der Gott als etwas, das der Mensch nicht bei sich zu halten vermag: Faun, die flüchtende Zeit. Das Ich und der Faun sind von verschiedener Wesensart, sie werden nicht zueinander finden, das Ende bestätigt die schmerzliche Trennung, die der Anfang setzte: Das Ich drinnen, das Du draussen, zwischen ihnen gibt es keine vermittelnde Instanz.
Oder ist das Ich vom angesprochene Du gar nicht verschieden, sondern mit ihm identisch? Redet es von sich selber, wenn es sagt: Du Faun, wer wärmt dich heute? Und sagt es weiter zu sich selber: Wer spiegelt deine Blindheit? Das Ich, mit sich allein, beklagt den Umstand, dass es kein Gegenüber hat, bei dem es Wärme findet und in dem es sich wie in einem Spiegel erkennen kann. In sich selber findet es keinen Halt, es erfährt sich als unstabil, ja zerfallend, sein Zustand erinnert es an die „flüchtende zeit“.

Ausweglos
Die Einsamkeitsklage erfährt in der dritten Lesart eine dramatische Zuspitzung. Je nachdem wie man in Gedanken die fehlenden Satzzeichen einsetzt, verändert sich der Beginn zu einem Bild des Ausgesetztseins: Draussen. Flügelschläge. Du Faun. Das Faun-Ich ist nun draussen, ungeschützt, der einbrechenden Nacht und unbekannten Wesen (Flügelschläge) preisgegeben. Und der Vergänglichkeit: Die Schlusszeilen steigern, was der Beginn andeutet, ins Ausweglose: Draussen. Faun. Die flüchtende Zeit. Das Wort Faun wird flankiert von Ausdrücken, die es auf der einen Seite mit Unbehaustheit, auf der andern mit Vergänglichkeit konfrontieren. Schroff und ohne tröstlichen Unterton endet das Gedicht in der Verzweiflung.
Keines der drei Szenarien braucht in der Absolutheit gelesen zu werden, wie sie hier dargestellt wurde. Sie sind dem Gedicht alle gleichermassen eingeschrieben, jedes von ihnen bleibt als Nuance erhalten. So wie die Kompromisslosigkeit der dritten Variante für dunkle Farben sorgt, fällt vom Liebesgedicht der Variante eins ein helleres Licht auf das Szenario der Verzweiflung und macht diese erträglich.

Rudolf Bussmann, TagesWoche, 2.9.2013

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