Rudolf Bussmann: Zu Marion Poschmanns Gedicht „Maria Schnee“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

− Zu Marion Poschmanns Gedicht „Maria Schnee“ aus dem Lyrikband Marion Poschmann: Geistersehen. −

 

 

 

 

MARION POSCHMANN

Maria Schnee

das war August: blassblaues Mehl,
das aus der Tüte rieselte, ein schlimmes Mehl,
das Puderflecken hinterliess, und meine sanfte
Angst, dass dies zuende ging

es war nur Mehl, was aus den Briefumschlägen fiel
in dieser Hitze – besonders Rechnungen zerfielen schnell
bei solchem Wetter – ich schwitzte leicht
mit diesem Mehl in meinem Schoss,

ich schminkte mich nicht mehr, Weissmehl 405
lag, Niemandsland, auf dem Balkon, du fegtest
nie bei diesem Licht, und ich, zerstiebend,
ich war Mehl in deiner Hand

 

Wochengedicht #70: Marion Poschmann

„das war August:“ – zieht da jemand Ende des Monats Bilanz? Meint „August“ die jüngste Vergangenheit? Es gibt Anhaltspunkte, die dagegen sprechen, etwa die distanzierte Sicht auf das Mehl, das „aus den Briefumschlägen fiel“, oder auch der Schluss. Viel eher scheint es sich um eine Erinnerung an eine Zeit zu handeln, die weiter zurückliegt, an die Kindheit, wie man zunächst denken könnte. Aber schon der Teilsatz „meine sanfte / Angst, dass dies zuende ging“ in der ersten Strophe stellt diese Annahme in Frage: Die „sanfte Angst“ passt nicht zu einem Kind. Und auch hier spricht der Schluss dagegen.

Die Liebe als Mehl
„ich war Mehl in deiner Hand“: von der letzten Zeile her gelesen erweist sich das Gedicht als Reminiszenz an ein Liebesdrama. Über die Beziehung zwischen den beiden Betroffenen steht hier nichts weiter als eben diese Metapher, die, was den Ausgang betrifft, keine Zweifel übrig lässt. Die Sprechende setzt zweimal zu der Metapher an, beginnt zweimal mit „ich“, wodurch der Satz einen nachdrücklichen Beiklang erhält. Fast beiläufig hebt er einen Vorgang hervor, der in einem einzigen Partizip zusammengefasst ist: „und ich, zerstiebend“. Nicht nur eine Beziehung war daran sich zu pulverisieren. Die Sprechende sieht sich im Rückblick selber als eine, die sich auflöste. In den Zerfallsprozess, für den sie das Bild vom Mehl gefunden hat, ist neben ihr vieles einbezogen. Was sie in die Hand nimmt, verliert seine Kontur, zerbröselt, überzieht sich mit dem weissen Zeug. Die Spuren eines persönlichen Desasters sind in das Gedicht eingeschrieben. In wenigen Stichworten hält dieses die Geschichte der Unglücklichen fest: „schlimmes Mehl“ – „meine sanfte Angst, dass dies zuende ging“ – „Mehl im Schoss“ – „ich schminkte mich nicht mehr“ – „Niemandsland“ – „ich, zerstiebend“.
Mit dem Titel wird die Geschichte dem Ablauf des Kirchenjahres angenähert, „Maria Schnee“ erinnert an Bezeichnungen wie Mariä Himmelfahrt. Warum „Schnee“, mitten im August? Mit Mehl hat der Schnee seine Farbe gemeinsam, das Pulverige seiner Beschaffenheit. Im Zusammenhang mit dem Namen Maria liegt auch die Assoziation „Unschuld“ nahe. War die Betroffene damals eine junge Frau, für die mit dem Scheitern der ersten Liebe die Welt zusammenbrach? Deren Persönlichkeit bei der ersten grossen Prüfung dahinschmolz wie Schnee? Durchaus auch möglich, dass die Zurückblickende mit dem Titel noch etwas ganz Anderes ins Spiel bringen will: eine gewisse Kühle, die sie später davor bewahrte, in der Hitze wieder in ein Nichts zu zerfliessen. Die Titelfrau als Schneemantelmadonna, unangreifbar als Person, dennoch fein und leicht wie Schnee.

Rudolf Bussmann, TagesWoche, 12.8.2013

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