Rudolf Bussmann: Zu Kurt Drawerts Gedicht „Quiz“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

− Zu Kurt Drawerts Gedicht „Quiz“ aus dem Lyrikband Kurt Drawert: Idylle, rückwärts. −

 

 

 

 

KURT DRAWERT

Quiz

Wer hat schwanger von a), b) oder
eine andere Frage, Geschichte: wie
viele Juden, vier oder drei, es geht
um eine halbe Million, Sie können
auch das Publikum fragen und ich
gebe jetzt ab an „diese Sendung
wurde Ihnen präsentiert von“ x), y)
oder die Werbung, die Nachrichten,
die Wetterbericht.

 

Wochengedicht #54: Kurt Drawert

Kurt Drawert hinterlässt uns das Kurzprotokoll einer Fernsehsendung, zusammengezogen auf einzelne Sätze und Satzfragmente, die beliebig aneinandergereiht sind. Scheinbar beliebig. Die Beliebigkeit ist nicht nur das Aufbauprinzip des Gedichts, sie ist auch dessen Thema. Weit davon entfernt, sich für den Inhalt der Quizfragen, die erwarteten Antworten, die Namen der gesuchten Promis zu interessieren oder das Verhalten des Quizmasters zu schildern, führt der Neunzeiler vor, wie die Sendung als solche angelegt ist. Eine Frage folgt hier wahllos der andern und entwertet diese. Eine Antwort löst die andere ab und neutralisiert sie. Nichts ist von Bestand in der Abfragerei von Schablonenwissen. Auch ernsthafte Fragen geraten in den Sog der Beiläufigkeit und werden auf das Niveau einer Klatschspalte hinunter gequasselt.

Abstimmung über den Holocaust

Beispielhaft ist dies durchgespielt am Thema Holocaust, das mit dem Stichwort „Geschichte“ angesteuert wird. Die geschichtliche Bedeutung des europäischen Dramas wird gleich von drei Seiten her kleingehackt. Zum einen dadurch, dass die Anzahl Toter überhaupt als Quizfrage auftaucht. Dann durch die Zahl „Million“, die nicht, wie beim Lesen erwartet, als Mass für die Vernichtungswut der Nazis eingesetzt ist, sondern die Höhe der Summe bezeichnet, um die gespielt wird. Und schliesslich indem der nachfolgende Satz „Sie können / auch das Publikum fragen“ die historische Wahrheit von der Willkür einer Zufallsmehrheit unter dem Vergnügungspublikum abhängig macht. Und eigentlich noch ein viertes Mal. Mit der Überleitung zum Abspann und einer Folgesendung ist das gesamte Quizprogramm, Holocaustfrage inklusive, schon beiseite geschoben und aus dem Gedächtnis weggekippt.
So rasch wie die ganze Sendung an den Zuschauern vorbeiflimmert, rasselt auch das Gedicht herunter. Kaum hat man die Stirn in Falten gelegt um zu begreifen, was da genau vor sich geht, ist es zu Ende. Gut, kann man mit Lesen in Ruhe von vorne beginnen und die Kunstfertigkeit geniessen, mit der Kurt Drawert von Dingen spricht, die er nie direkt benennt.

Rudolf Bussmann, TagesWoche, 15.4.2013

Fakten und Vermutungen zum Autor

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