Rudolf Bussmann: Zu Leta Semadenis Gedicht „In meinem Leben als Fuchs“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

− Zu Leta Semadenis Gedicht „In meinem Leben als Fuchs“ aus Leta Semadeni: In meinem Leben als Fuchs. 

 

 

 

 

LETA SEMADENI

In meinem Leben als Fuchs

In meinem Leben als Fuchs
war ich alles und alles
war ich auch das Licht
war zum Beissen
die Sonne mein Antlitz:
makellos

Ich wusste nicht
meinen Namen
war nur immerfort da
wo die Pfote die Erde berührt

In meinem Leben als Fuchs
war ich Hunger und Kälte
war Spiel und Locke
im Fluss und der letzte Geruch
ein Wegweiser
auf meinem Weg
durch den Wald

Ich leckte das Fell
der Hügel
und fiel ohne Angst
durch den Raum
in den Farn

 

Wochengedicht #6: Leta Semadeni

„Immer wieder schleicht ein Tier / durch meine Texte“, schreibt Leta Semadeni in einem Gedicht. Ein grosser Teil ihres lyrischen Werks ist in ländlicher Umgebung angesiedelt, nicht nur die Tiere sind nahe, sondern die Dorfwelt und die Landschaft ihrer Engadiner Heimat überhaupt. Das Besondere an diesem Gedicht ist freilich, dass sich nicht ein Fuchs durch den Text schleicht, sondern ein menschliches Ich im Fuchspelz. Dieses benutzt die Metapher des Tiers, um über sich zu sprechen. Man braucht „Fuchs“ nur durch „Kind“ zu ersetzen, und man hat ein Gedicht über die verlorene Jugend vor sich: Als ich noch frei war wie ein Fuchs! Als ich noch ganz im Jetzt lebte, spielend, selbstvergessen, noch kein Weg meine Schritte bestimmte! Eine Erwachsene blickt wehmütig in eine nostalgisch verklärte Zeit zurück.

Das verlorene Paradies…
So einleuchtend diese Lesart sein mag: der Text gibt keinen Hinweis darauf, dass hier von der Jugend die Rede ist. Der Satz „Ich leckte das Fell der Hügel“ in der letzten Strophe weist eher auf ein Muttertier als auf ein Junges hin. Und warum schreibt die Autorin nicht von einer Füchsin, sondern setzt die Gattungsbezeichnung Fuchs? Sie meint offenbar nicht nur sich, und nicht nur einen vergangenen Lebensabschnitt. Ihre Bilder zielen von Anfang an ins Grosse. „In meinem Leben als Fuchs war ich alles“, so hebt sie an. – Alles was? – „und alles war ich“. Sie meint alles schlechthin. Das Leben als Fuchs ist eines, das die Bedingtheit der Einzelexistenz sprengt und in der Natur aufgeht, namenlos, als Teil eines übergreifenden Ganzen. Hier gibt es keine Grenze, die verteidigt, keine Ziele, die verfolgt werden müssten, es ist ein Sein „ohne Angst“. Das Ich beschwört einen Zustand herauf, in dem der Mensch einmal lebte, und in dem er – wie die streng im Präteritum bleibenden Verben durchblicken lassen – nie mehr leben wird. In der Fuchshaut gelingt dem Menschen der Grenzübertritt in das verlorene Paradies, von dem er einst Teil war.
An einigen Stellen macht das Gedicht das Ineinanderfliessen sichtbar. Gleich am Anfang steht sinngemäss: Ich war alles und alles, ich war „auch das Licht“. Im Fortgang des Lesens fügen sich die Wörter zwar anders zusammen („auch das Licht / war zum Beissen“), aber das Gelesene bleibt als Subtext erhalten. Ich war „Spiel und Locke“: das lässt an Liebesspiel, wallendes Haar, Verlockung denken, bevor das Wort Locke sich zum Ausdruck „Locke im Fluss“ fügt und schattenwärts wandert, in den Assoziationsbereich Abschied / Trennung / Wegtreiben. Der Sinn überlagert sich, die Zuordnungen sind fliessend.

… endet im Farn
In der Schlussstrophe ist vom Fallen die Rede, wiederum in einem gross angelegten Bild: ich „fiel ohne Angst / durch den Raum“. Das schwerelose Fallen dauert genau eine Zeile, dann wird es brüsk gebremst und endet im Farnkraut. Es ist nicht der Mensch, der am Boden landet, sondern eindeutig der springende Fuchs. Die Symbiose Mensch – Tier – Natur ist geplatzt, der Traum vom Goldenen Zeitalter ist zurückgekehrt an den Ort, der von jeher als Ort des Schattens gilt. Hier, im Farnstrauch (nach der Überlieferung auch Symbol des Verborgenen, Geheimnisvollen), mag sie weiterleben.
„Eines zu sein mit allem, was lebt, in seliger Selbstvergessenheit wiederzukehren ins All der Natur, das ist der Gipfel der Gedanken und Freuden“, schrieb Hölderlin im Hyperion. In Leta Semadenis Gedicht wird der Gipfel der Freude neu in Erinnerung gerufen, für einen Moment ist er uns nahe und steht in schlichter Sinnlichkeit vor uns.

Rudolf Bussmann, TagesWoche, 14.5.2012

Fakten und Vermutungen zum Autor 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00