Rudolf Bussmann: Zu Roman Grafs Gedicht „Der Anfang eines Tages“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

− Zu Roman Grafs Gedicht „Der Anfang eines Tages“ aus Roman Graf: Zur Irrfahrt verführt. −

 

 

 

 

ROMAN GRAF

Der Anfang eines Tages

Augen auf, der Tag da. Dein Herz
Nicht eingeschlafen in der Nacht.
Und du – wieder kein Zar.
Wie immer (zwanzig Jahre) „Gepuffte Weizenkost“,
Während draussen das Gold der Sonne.
Du stehst im März eines Jahres.
Die Pflanzen fangen an zu blühen
Und Blätter. Welt noch nicht untergegangen.
Hält im Gleichgewicht. Zuhause die Arbeit,
Ein Gedicht verficht irgendetwas.
Was wolltest du denken?
Tee beruhigt die Gedanken.
Trinken.

 

Wochengedicht #5: Roman Graf

Der Tag beginnt gut. „Augen auf, der Tag da“, das könnte ein smarter Geschäftsmann sagen oder ein Liebender, dessen Herz die ganze Nacht nicht zur Ruhe kam. Es spricht aber doch eher ein enttäuschter Träumer, der sich beim Erwachen in seiner alten Rolle wiederfindet. Gerade zwei Zeilen dauert die Euphorie über den beginnenden Morgen, die Freude darüber, noch immer am Leben zu sein. Dann kehrt das Bewusstsein zurück und die Ernüchterung („wieder kein Zar“) nimmt ihren Lauf.
Dabei stehen die Zeichen eigentlich allesamt gut. Die Sonne scheint, der Frühling beginnt und der Liegende selber scheint im Lenz seines Lebens zu stehen. Es winkt ein Frühstück mit nahrhaften Flocken, es wartet ein Gedicht auf die Fertigstellung, trotzdem will keine Stimmung in ihm aufkommen. Es denkt in ihm, aber er kann noch keinen klaren Gedanken fassen. Alles wirbelt im Kopf durcheinander.

Eins und eins
Irgendwie sind auch seine Sätze nicht ganz wach. Sie stottern mehr als dass sie sprechen. Hier fehlt ihnen ein Verb oder ein Artikel, dort ein ganzer Hauptsatz. Wir sehen ihnen gleichsam dabei zu, wie sie ins Licht blinzeln und alles auf die Reihe zu bringen suchen. Das will ihnen vorerst nicht so recht gelingen, sie stehen nebeneinander wie Passanten auf der Haltestelle, die nichts weiter miteinander zu tun haben. Es gibt kein zu- oder unterordnendes Wort, das sie miteinander logisch verknüpfte, ausser den beiden Konjunktionen „und“ und „während“, die jedoch bloss die Gleichzeitigkeit angeben und das Nebeneinander umso mehr betonen.
Halb verschlafen beginnt der Erwachende sich der Welt zu vergewissern, indem er eins und eins zusammenzählt. Seine erste kognitive Leistung besteht darin, die Aufzählung in eine einigermassen nachvollziehbare Folge zu bringen: Frühstück – Wetter – Frühling – Blumen – Welt noch da – Arbeit. Einzig wohin die Bemerkung „hält im Gleichgewicht“ gehört, ist nicht evident, vermutlich ist damit die Welt gemeint, die weiterhin ihre Bahn zieht.
Abrupt macht dann die Frage „was wolltest du denken?“ der Assoziationsreihe ein Ende, das Denken bremst den freien Lauf ab und richtet sich auf sich selber. Die drei Schlusszeilen setzen einen Prozess logischer Verkettung in Gang: Du bist wirr – brauchst deshalb Tee – denn dieser beruhigt – demzufolge trink! Aus dem blossen Addieren wird ein Verknüpfen, das passive Registrieren schlägt um in Selbstreflexion. Der Erwachte kommt zu sich im philosophischen Sinn, er erhebt sein Denken selber zum Gegenstand. Das setzt ihn vom Morgenmuffel ab, der er gerade noch war. Er wird, als Herr seiner selbst, nun doch zum Zaren.
Es fügt sich gut, dass das Getränk, das er sich verordnet, ein erlesenes ist, das gerade auch am Zarenhof gerne getrunken wurde, er wird sich einen Tee machen – vielleicht einen russischen.

Rudolf Bussmann, TagesWoche, 7.5.2012

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