Rudolf Bussmann: Zu Ulrike Draesners Gedicht „s-bahn“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

− Zu Ulrike Draesners Gedicht „s-bahn“ aus dem Lyrikband Ulrike Draesner: für die nacht geheuerte zellen. −

 

 

 

 

ULRIKE DRAESNER

s-bahn

zweifarbenpolster, tarife a und b
die ost-west trasse nicht verschweisst
ein vergessenes geräusch wie die türen
schlagen lichtausfall: diese verschalung
vor 30 jahren küchentisch resopal weiss
wiederholt sich unruhig stadt voller wind,
ein blonder kopf, geknoteter zopf,
in der küche über linien zu namen
gebeugt, diesen vergänglichen griffen
halt a, b, die nicht gelöteten
spuren der bilder, mühelos öffnen
sich die türen während der fahrt
schräge traversen, brache bekannte,
kehrt rot blinkend wieder, was ich nie
sah: verdunkelung, sirenen, granaten,
unter den sitzen, s-bahn berlin, rundum
über die polster schwarze buchstaben
(hunde?) von einer unsichtbaren
hand
/: die uns streut

 

Wochengedicht #10: Ulrike Draesner

Man denkt beim ersten Lesen weniger an eine S-Bahn als an eine Achterbahn, die tüchtig schüttelt und ohne erkennbare Richtung dahin rattert. Das Gedicht zerfällt in eine Reihe einzelner Eindrücke und Gedanken ohne erkennbaren Zusammenhang, ungefähr in der Art, wie sie sich während einer Fahrt spontan einstellen.
Während es auf der Fahrt nicht schwer ist, die Eindrücke fortlaufend einzuordnen, bleibt beim Lesen an gewissen Stellen offen, in welchen Kontext ein Bild gehört. So kann „ein blonder kopf, geknoteter zopf“ eine Mitreisende meinen oder aber von einem Plakat herstammen, auf dem eine Person sich zu den Schriftzügen der Produkte hinbeugt, für die geworben wird – jenen „vergänglichen griffen“, die sich den Konsumenten kurzfristig anbieten. Oder sitzt der Blondschopf in der elterlichen Küche, über die Hausaufgaben gebeugt, und schreibt Namen, „vergängliche griffe“ ins Wissen?  Das Gedicht nimmt hier keine Zuordnungen vor. Aus manch anderer Stelle lässt sich aber herauslesen, worauf es anspielt, und zumindest die Grundkoordinaten der Fahrt schälen sich heraus:

Eckdaten
Wo unterwegs? In Berlin, „stadt voller wind“, wo S-Bahnlinien vom Westteil in den Ostteil führen und wo für Fahrten innerhalb des Stadtgebiets die Tarife A und B gelten.
Wann unterwegs? In den Jahren nach der Wende, und nicht allzu lange danach; die einheitliche Trassierung der grenzüberschreitenden Linien ist noch nicht abgeschlossen.
Wie unterwegs? In einem der Züge, wie sie in Berlin DDR verkehrten und die sowohl im Design als auch im Fahrkomfort hinter den Westzügen zurückblieben.  Die Ich-Reisende ist mit solchen Zügen offenbar schon früher gefahren, das Zuschlagen der Türen, die Lichtpannen, das unzuverlässige Schliesssystem kommen ihr bekannt vor. Die kratzfesten Kunststoffplatten aus Resopal erinnern sie an die Küchentische aus den sechziger Jahren.
Wer? Eine Reisende, der die Schrecken des Zweiten Weltkriegs erspart blieben. Sie wurde nach Kriegsende geboren, in die Zeit der Resopaltische (wie Ulrike Draesner, Jahrgang 1962) und ist zu Beginn der 90er Jahre rund 30 Jahre alt.
Von sich spricht die Ich-Person kaum. Sie gibt sich der Flut der visuellen und akustischen Reize und der Erinnerungen hin. Die Bilderspuren bezeichnet sie als „nicht gelötet“, sie ist sich bewusst, dass diese unter sich kaum eine Verbindung haben.

Die Hand des Zufalls
Der Eindruck des Zufälligen verstärkt sich dadurch, dass Zweck und Ziel der Fahrt unbekannt bleiben. Eine Dreissigjährige ist irgendwo zwischen West- und Ostberlin unterwegs. Ähnlich wie die Impressionen, die sie notiert, ist auch sie selber herausgerissen aus jedem Kontext. Dies jedenfalls suggeriert das Schlussbild: Über die Polster gleiten an Schriftzüge oder Tiere erinnernde Schatten (Lichter), hingesetzt „von einer unsichtbaren hand“, und diese Hand ist es zugleich, „die uns streut“. Es ist die Hand des Zufalls, welche den Reisenden in diesem S-Bahnzug die Sitze angewiesen hat.

Die schreibende Hand
Die Konstellation Unterwegssein – unbekanntes Ziel – Zufall spielt unverkennbar auf die Gegebenheiten des menschlichen Schicksals an. Die Fahrt durch die Stadt gleicht der Fahrt durchs Leben, der ursprüngliche Lese-Eindruck von der Achterbahn lag gar nicht so sehr daneben. Erst mit den Schlusszeilen wird klar, dass das Zufällige das eigentliche Thema des Gedichts ist. Die Beliebigkeit der Aufzählungen dient dazu, es gestalterisch sichtbar zu machen. Die Dichterin verknappt und rhythmisiert, sie bringt den Zufall in eine ästhetische Form. Dadurch überlistet sie ihn und setzt ihn, der mit seiner Unberechenbarkeit das Feld zu beherrschen scheint, mit leichter Hand ausser Kraft.

Rudolf Bussmann, TagesWoche, 11.6.2012

Fakten und Vermutungen zum Autor 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00