Rüdiger Görner: Zu Hermann Burgers Gedicht „Kranzdeponie“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Hermann Burgers Gedicht „Kranzdeponie“ aus Hermann Burger: Rauchsignale. –

 

 

 

 

HERMANN BURGER

Kranzdeponie

Rasch verdorrt ist der Schmuck, den die Hinterbliebenen stiften:
Kränze, gerömert, geschuppt, fleischig mit Blumen besteckt.
Zwygart schichtet zum Turm die Gebinde und fährt sie zur Mulde,
Stück um Stück wird zerpflückt, Spruchschleifen flattern im Wind.
Kinder sammeln begeistert die abgefallenen Lettern,
Lernen das Alphabet, legen Majuskeln in Gold.

 

Tödliche Idyllen

Daß große Prosaschriftsteller lyrischen Versuchungen erliegen können – und das nicht nur zu ihrem Nachteil –, weiß man von James Joyce („Chamber Music“) und Thomas Mann („Gesang vom Kindchen“), von Thomas Bernhard („Ave, Vergil“) und eben Hermann Burger. Zumeist ließen sie sich dabei nicht auf den freien Vers ein, sondern bevorzugten antikisierende poetische Formen. Offenbar wollten sie ihn noch spüren können, den epischen Atem, den großen Zusammenhang, und strukturierten deswegen ihre lyrische Sprache nach klassischen Mustern.
Als 1980 Hermann Burgers vierzig in Distichen geschriebene Kirchberger Idyllen erschienen, lösten sie eine gewisse Verwunderung aus. Kannte und schätzte man doch ihren Verfasser als furiosen Erzähler, der in Schilten (1976) und Diabelli (1979) seine Kunst der Prosa eindrucksvoll unter Beweis zu stellen verstand. Nur Kenner erinnerten sich daran, daß Burger seinerzeit mit Gedichten debütiert hatte (Rauchsignale), deren knappe Diktion freilich noch an Paul Celan und Ingeborg Bachmann orientiert gewesen war.
Die volle Bedeutung dieser „Rauchsignale“ erschloß sich erst durch Burgers letztes Buch Brunsleben: Im Rauch verflüchtigten sich die Konturen der Welt. Er läßt nur noch eine Art Unschärfebeziehung zur Mitwelt, aber auch zur Vergangenheit zu. Auch die Kirchberger Idyllen beginnen mit einem Rauch-Bild:

Rauchringe blasend studier ich…

Im Rückblick auf Burgers Werk wirken diese trügerischen Idyllen wie ein letztes tiefes Atemholen vor der Prosa Der Schuß auf die Kanzel und Brunsleben. Die meisten dieser Idyllen kosten das Morbide aus. Das „Friedhofsarsenal“ ist ihr Arkadien. Die Luft, die man hier atmet, zersetzt die Lungen.
Burger, gelehrter Poet, der er war, nahm in diesen Idyllen Maß an Schiller, Hölderlin und Mörike. Aber er imitierte sie nicht; keiner dieser Verse klingt epigonal; vielmehr parodieren sie ihre Vorbilder. Nicht mehr die Dichter stiften das, was bleibt, wie in Hölderlins „Andenken“; die „Hinterbliebenen stiften“, was „rasch verdorrt“. Das Klirren der Fahnen in der sprachlosen, kalten Welt von Hölderlins „Hälfte des Lebens“ hat sich bei Burger in das Flattern der Spruchschleifen verwandelt; ihre formelhaften Worte bedeuten nichts mehr. In seiner Abhandlung „Über naive und sentimentalische Dichtung“ hatte Schiller die Idylle als einen Gedichttypus vorgestellt, der „Natur und Ideal“ als Wirklichkeit und einen „Gegenstand der Freude“ feiere. Ausdrücklich zählte er sie zur elegischen Gattung, womit er andeuten wollte, daß in der Idylle stets auch ihr Gegenteil angelegt sei, die Klage über den „Verlust von Natur und Ideal“.
Burger nun setzte Idylle und Elegie gleich und versuchte damit dem Verlust auch eine idyllische Seite abzugewinnen. In den Kirchberger Idyllen ist es der Totengräber Zwygart, der vor allem im Gedicht „Kranzdeponie“ unwissentlich zu diesem Versuch, das vermeintlich Idyllische in der Klage zu orten, beiträgt. Er bestattet nämlich nicht nur die Toten; er entsorgt auch die Relikte der Trauer, schichtet „zum Turm die Gebinde“, den Kindern zur Freude, die anhand der „abgefallenen Lettern“ der Spruchschleifen buchstabieren lernen.
Die „Kranzdeponie“ verwandelt sich somit in einen Ort spielerischer Resteverwertung. Dort werden nicht nur Kränze „Stück um Stück zerpflückt“; dort zerfällt sogar das Trauern in seine formalen Bestandteile. Jedoch geben die „Kinder“ dem Gedicht eine ungeahnte Wendung. Sie greifen verspielt, aber wißbegierig auf, was der verläßliche, vom Dorf angestellte Trauerabarbeiter Zwygart ihnen an verblichenem Trauergut zuträgt.
Das dichterisch verbrämte pädagogische Ethos Burgers, das bereits sein erstes literarisches Bravourstück Schilten geprägt hatte, durchbricht nur am Ende dieses einen Gedichts das elegische Pathos der übrigen Kirchberger Idyllen. Das geschieht jedoch nicht mit schulmeisterlich erhobenem Zeigefinger, sondern rein poetisch, mittels eines eindringlich wirkenden Bildes: Kinder spielen mit Buchstaben und tragen mit ihrem Eifer dazu bei, den abgestorbenen (oder nur scheintoten?) Worten neues Leben einzuflößen. Eine größere Hoffnung als diese Art der, abermals mit Hölderlin gesprochen, „Pflege des Buchstabens“ kann es für Sprachkünstler (und wirkliche Leser) nicht geben.

Rüdiger Görner, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Achtzehnter Band, Insel Verlag, 1995

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