Silke Scheuermann: Zu Elisabeth Borchers’ Gedicht „Zeit. Zeit“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Elisabeth Borchers’ Gedicht „Zeit. Zeit“ aus Elisabeth Borchers: Zeit, Zeit. –

 

 

 

 

ELISABETH BORCHERS

Zeit. Zeit 

Ich muß endlich begreifen
daß ich Zeit habe.
Zeit für den Vogel auf der Brüstung
der mit mir redet, im Auftrag.
Zeit für den Lampenfuß
in dem sich das Erdenlicht spiegelt.
Zeit für die Katze auf blauem Samt
in kleinstem Format an der Wand
von Almut gemalt, als beide noch lebten.
Auch für das Schaf mit den schwarzen Ohren
den schielenden Augen, dem schiefen Maul und dem
durstigen Mund. Indianisch, ganz einfach, instruktiv.
Vermissen werde ich’s im kommenden Jahrhundert.
Ich habe noch nicht ein stillschweigendes Wort
mit der getrockneten Rose gewechselt, woher und wohin denn.
Und das Kalenderbuch in schwarzem Leder
mit der goldenen Jahreszahl
klafft elegant auseinander, um mich ein- und auszulassen.
Lernen, Zeit zu haben.
Lernen, daß es zu spät ist.

 

Dichten gegen die Zeit

– Über Elisabeth Borchers. –

Elisabeth Borchers’ eigenwillige, unverwechselbar schöne und immer wieder irritierende Gedichte sind aus der deutschen Literaturlandschaft längst nicht mehr wegzudenken. Über Jahrzehnte hinweg ist die 1926 in Homberg am Niederrhein geborene Schriftstellerin ein fester Teil des Literaturbetriebs gewesen; lange Zeit war sie neben der eigenen lyrischen Arbeit als Suhrkamp-Lektorin zuständig für zahlreiche wichtige Autoren der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – wie etwa die Nobelpreisträgerin Nelly Sachs. Bis zu ihrem Tod am 25. September 2013 im Alter von 87 Jahren dichtete sie, schrieb Kinderbücher, Hörspiele und Texte für Funk und Fernsehen.
Eine ihrer letzten öffentlichen Lesungen hatte Elisabeth Borchers 2008 im Literaturhaus Frankfurt vor großem Publikum, als sie den Lyrikband Zeit. Zeit vorstellte. „Ich muß endlich begreifen / daß ich Zeit habe“, beginnt das Titelgedicht, und ironisch, leuchtend und weise wird darin aufgezählt, für was alles Zeit im Habenmodus vorhanden ist – nämlich für die sogenannten kleinen Dinge des Lebens. Es ist ein verknappter, klarer und auf trügerische Weise verständlich scheinender Sprachgestus, der hier gepflegt wird; die Mehrdeutigkeit vieler Aussagen erschließt sich erst auf den zweiten Blick.
Ein merkwürdiger erster Satz, in dem das Ich sich dazu ermahnen muss, etwas zu besitzen, das doch landläufig mit Glück und Entspannung gleichgesetzt wird: „Zeit haben“ – das gilt gemeinhin als etwas Positives. Was kommt dann? Wofür Zeit zu haben soll das Ich erinnert sein? Nur auf den ersten Blick sind es Belanglosigkeiten: „Zeit für den Vogel auf der Brüstung“, „Zeit für den Lampenfuß“, denn das Tier setzte sich „im Auftrag“ auf das Geländer, und der Lampenfuß ist einer, „auf dem sich das Erdenlicht spiegelt“.
Es will hier weder im „Auftrag“ noch im „Erdenlicht“ rechter Trost liegen, zu sehr im Unklaren bleibt die größere Ordnung der Dinge, auf die hingewiesen wird; sie bleibt so rätselhaft und zufällig wie die Aufzählung der die knappe Zeit des Ich würdigen Dinge, in der Alltagsgegenstände und kleine Tiere wie Katzen ihren besonderen Platz haben, allerdings ohne jede Niedlichkeit und Schnurrerei: Es gibt zwar die „Katze auf blauem Samt“, aber erstens ist sie gemalt und zweitens überlagert von der Erinnerung, dass sowohl die porträtierte Originalkatze gestorben ist als auch Almut, die Malerin. Das gesamte Gedicht setzt sich aus solchen gänzlich doppeldeutigen Bildern zusammen, die nie vergessen lassen, dass, „wo immer sie auftritt, mit kleinen oder großen Gesten“, die „Vergänglichkeit der nicht zu tilgende Makel“ ist, wie Elisabeth Borchers es 2003 in ihren Frankfurter Poetikvorlesungen1 formulierte.
Eine Kapitulation also? Wenn ja, ist es eine nach einem Kampf, der alle Beachtung wert ist. Das Gedicht ist bestürzend ehrlich in dem Sinn, dass es die Sinnlosigkeit nicht verleugnet. Es enthält das Wissen, dass Gedichte auch nichts weiter sind als Anordnungen, mit denen wir uns gegen die Nichtigkeit wehren. Gleichzeitig zeigt es – durch seine pure Existenz –, wie fundamental das Bedürfnis nach solch einem Kunstwerk ist. Der Augenblick lässt sich nicht festhalten; das ist die triviale Wahrheit. Aber das Gedicht kann der geglückte Versuch sein, anstelle des nicht festzuhaltenden Augenblicks einen künstlichen Augenblick zu setzen. Dadurch, dass das Gedicht Dinge, Personen, Namen, Tiere dem rasend schnellen Fluss der Zeit, dem Fluss des zufällig Erlebten, Gesehenen entreißt und miteinander kombiniert, gelingt es ihm, die Beleidigung, die das Zufällige des Zeitlichen beinhaltet, zu überwinden und etwas Bleibendes zu erschaffen. Eine Verbindung zwischen zwei vorbeifließenden Erfahrungen wird sichtbar – der Vogel und der Lampenfuß, Almut und die Katze existieren in diesem Zusammenhang neu und so, als könnten die Naturgesetze ihnen nichts mehr anhaben. Als könnten sie niemals vergessen werden.
Sieht man das Gedicht und den Augenblick auf diese Weise als Verbündete gegen die Zeit und das Dichten als eine gegen die Zeiterfahrung gerichtete Maßnahme, so erscheint es auch weiter gar nicht erstaunlich, dass Elisabeth Borchers an ihrem achtzigsten Geburtstag im Interview sagte, die Abende seien in ihrem Tagesablauf nach wie vor dem Schreiben gewidmet, denn das Schreiben müsse „forciert werden“: Kampfeslustig muss man sein, in diesem Beruf. Und es wird auch verständlich, weshalb Elisabeth Borchers, die in ihrer im Elsass verbrachten Kriegskindheit traumatische Erfahrungen mit dem Verschwinden und Vergessen gemacht hat, immerzu eine Vorliebe für den Kinderreim, das Kinderlied beibehielt. Denn Kinder kennen keine Zeit, wie wir sie kennen, kein „Kalenderbuch in schwarzem Leder“, nicht die „goldene Jahreszahl“, nicht unsere Maßeinheiten und Stundenpläne, die uns vorgaukeln, zumindest so etwas Ähnliches wie Kontrolle zu haben. Sie kennen die Gegenwart als düstere Bedrohung. Elisabeth Borchers schilderte das eindrücklich in „eia wasser regnet schlaf“, ihrem 1960 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienenen lyrischen Debüt, einem im assoziativen, einlullenden Ton scheinbarer Kindersprache gehaltenen Gedicht. Wegen seiner sprachlichen Radikalität wurde es damals aufgeregt diskutiert; heute liest es sich nicht weniger verstörend, ist aber inzwischen Kanon geworden.
In den Poetikvorlesungen in ihrer Heimatstadt Frankfurt berichtete sie übrigens auch von einem prägenden Gespräch mit ihrem Großvater: Die Uhr sei die Trägerin der Zeit, habe der Großvater ihr gesagt, und wenn die Uhr die Zeit nicht weiter trage, so bleibe die Welt stehen. Die Uhr „erzähle“ nicht nur die Stunden, sondern auch „die Wolken und Sterne über dem Haus, die Dächer der Stadt, die Knöpfe an Großmutters schwarzem langem Rock, die Federn der Vögel im Garten und das Brennen der Schmerzen im Bein“; sie sei eine große Rechnerin, nur eines verstehe sie nicht: die Ewigkeit auszurechnen, obwohl diese ihn ganz besonders interessiere. Die Ewigkeit sei schließlich „der Ort, an dem wir uns alle wiedersehen werden“. Dies habe sie als Kind zutiefst verstört:

Ob denn die Ferien schon vorbei seien, fragte ich erschrocken. Und die Uhr setzte zum Schlag an.

Die Welt war nicht stehengeblieben; es war nur Zeit verstrichen. Ferienzeit.

Silke Scheuermann, 2009, aus Silke Scheuermann: Und ich fragte den Vogel. Lyrische Momente, Schöffling & Co., 2015

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00