Sylvia Bräsel: Zu Kim Kwang-Kyus Gedicht „Eine Fahrt nach Weimar“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Kim Kwang-Kyus Gedicht „Eine Fahrt nach Weimar“ aus Fest in der Landschaft. Gedichte für Wulf Kirsten. 

 

 

 

 

KIM KWANG-KYU

Eine Fahrt nach Weimar
Zum 80. Geburtstag von Wulf Kirsten

Auf einer Landstraße in Thüringen
hin und wieder ein paar Autos in Sicht
Ich fahre über sanfte Hügel
Roggenfelder soweit das Auge reicht
üppige Obstgärten dehnen sich am Hang
Angenehm kurvig auf und ab
führt der Weg nach Weimar
Ruhig schweben die Wellen der Hügelkette
vor- und rück- und seitwärts
ertönen Bachs Fugen
Meißner Bauern bei der Feldarbeit
sehen dir in meinen Gedanken täuschend ähnlich
Beflügelt von der Vorfreude
noch vor der Dämmerung dich zu treffen
beschleunige ich das Tempo gen Westen
Leise rufe ich dir zu: mein Bruder
Wortsammler der deutschen Sprache
Du Weimarer Lyriker

 

Experiment einer kulturmittelnden Poesie

Im Juni 2009, wenige Tage vor dem 75. Geburtstag von Wulf Kirsten, trafen sich der südkoreanische Lyriker KIM Kwang-Kyu (*1941) und der Weimarer Dichter Wulf Kirsten (*1934) zu einem gemeinsamen Leseabend in der Eckermann-Buchhandlung der Goethestadt. Die Fahrt von Erfurt nach Weimar an einem Sommertag inspirierte Kim zu dem nun vorliegenden Gedicht, das auch als eine Hommage auf den geschätzten deutschen Dichterkollegen zu lesen ist. Minutiös wird der Weg ausgeleuchtet, der in Natur- und Kulturimpressionen Grenzen und Begrenzungen in Zeit und Raum verblassen lässt. Das Experiment einer kulturmittelnden Poesie scheint über eine geistige Bruderschaft zu gedeihen, die in Naturbildern sich unaufdringlich findet. Zwei leidenschaftliche „Wortsammler“ kommen im Sinne des Wortes mit jedem Kilometer einander näher. Die Vorfreude beflügelt und beschleunigt das Tempo (im Kopf). Kim und Kirsten – beide renommierte Autoren und studierte Germanisten – haben in ihrem jeweiligen Heimatland Welt-Krieg, Teilung, Industrialisierungswahn und neue Herausforderungen nach Beendigung des „Kalten Krieges“ erlebt. In Miniatur wird die „Legierung von Mensch, Landschaft und Geschichte“ unaufdringlich angefragt und auf ergänzende „Lebensspuren“ abgetastet. Beiden Lyrikern kommt zudem das Verdienst zu, der Naturdichtung in der jeweiligen Muttersprache eine neue Stimme gegeben zu haben. Kirsten wie Kirn bevorzugen dabei auf ihre Art unpathetische Töne. „Die erde bei Meißen“, eine der ersten Gedichtübersetzungen von Wulf Kirsten ins Koreanische, gewinnt in diesem Kontext eine leitmotivische Bedeutung, die im Widmungsgedicht mitschwingt. „Ost und West“ begegnen sich auf den ersten Blick in alltäglichen Beobachtungen, die in einer unverbrauchten Sprache Fragen nach dem Sinn des Seins und der Kostbarkeit von Leben in den Raum stellen. Ein Dialog auf Augenhöhe wird so möglich, der eine Reise in die (eigene) Fremde anregen könnte.

Sylvia Bräselaus Jens Kirsten und Christoph Schmitz-Scholemann (Hrsg.): Thüringer Anthologie. Weimarer Verlagsgesellschaft, 2018

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