Theo Buck: Zu Paul Celans Gedicht „Todesfuge“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Paul Celans Gedicht „Todesfuge“ aus dem Band Paul Celan: Gesammelte Werke in sieben Bänden. –

 

 

 

 

PAUL CELAN

Todesfuge

Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends
wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts
wir trinken und trinken
wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng
Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der schreibt
der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland dein goldenes Haar Margarete
er schreibt es und tritt vor das Haus und es blitzen die Sterne er pfeift seine Rüden herbei
er pfeift seine Juden hervor läßt schaufeln ein Grab in der Erde
er befiehlt uns spielt auf nun zum Tanz

Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts
wir trinken dich morgens und mittags wir trinken dich abends
wir trinken und trinken
Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der schreibt
der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland dein goldenes Haar Margarete
Dein aschenes Haar Sulamith wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng

Er ruft stecht tiefer ins Erdenreich ihr einen ihr andern singet und spielt
er greift nach dem Eisen im Gurt er schwingts seine Augen sind blau
stecht tiefer die Spaten ihr einen ihr andern spielt weiter zum Tanz auf

Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts
wir trinken dich mittags und morgens wir trinken dich abends
wir trinken und trinken
ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete
dein aschenes Haar Sulamith er spielt mit den Schlangen

Er ruft spielt süßer den Tod der Tod ist ein Meister aus Deutschland
er ruft streicht dunkler die Geigen dann steigt ihr als Rauch in die Luft
dann habt ihr ein Grab in den Wolken da liegt man nicht eng

Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts
wir trinken dich mittags der Tod ist ein Meister aus Deutschland
wir trinken dich abends und morgens wir trinken und trinken
der Tod ist ein Meister aus Deutschland sein Auge ist blau
er trifft dich mit bleierner Kugel er trifft dich genau
ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete
er hetzt seine Rüden auf uns er schenkt uns ein Grab in der Luft
er spielt mit den Schlangen und träumet der Tod ist ein Meister aus Deutschland
dein goldenes Haar Margarete
dein aschenes Haar Sulamith

 

 

Exkurs: „Todesfuge“ – Ein großes Gedicht der Weltliteratur

Paul Celan wäre wohl nach diversen unguten Erfahrungen nicht unbedingt damit einverstanden, ausgerechnet die „Todesfuge“ gesondert herausgehoben zu sehen. Seit den sechziger Jahren strich er diesen großen Text seiner dichterischen Anfänge aus dem Programm der von ihm abgehaltenen Lesungen. Zeitweise untersagte er sogar den Wiederabdruck. Es gab etliche Gründe dafür. Da waren die traumatischen Erinnerungen an die banausisch-böswilligen Reaktionen auf die Art seines Vortrags bei der Tagung der Gruppe 47 in Niendorf 1952 ( darauf wird noch einzugehen sein!), ferner der Mißbrauch des Textes im Rahmen gutwilliger christlich-jüdischer Versöhnungs- und Bewältigungsrituale sowie die gutgemeint-pflichtschuldige Aufnahme in Anthologien und Schulbücher, vor allem aber der unglückliche ,Vergleich‘ mit dem thematisch verwandten Gedicht „ER“ von Immanuel Weißglas durch Heinrich Stiehler im ersten Heft des Jahrgangs 1972 der Akzente, der Celan ein Wiederaufleben der unsinnigen Plagiatsvorwürfe Claire Golls befürchten ließ. Sogar beim einzigen Aufenthalt in Israel im Oktober 1969 folgte der Autor nicht der nachdrücklichen Aufforderung aus dem Kreis der Zuhörer, die „Todesfuge“ zu lesen, sondern winkte unwirsch ab. Aber abgesehen von dieser verständlichen Abwehrreaktion bedeutete das keineswegs eine Zurücknahme des Gedichts. Vielmehr hatte Celans ablehnende Haltung ihren Ursprung hauptsächlich in der ganz ihm eigenen Distanznahme aufgrund seiner künstlerischen Weiterentwicklung. Denn er plädierte in zunehmendem Maße für eine notwendige ästhetische Neuorientierung.1 Er begründete das einleuchtend unter Berufung auf seine nachfolgende dichterische Arbeit:

Auch musiziere ich nicht mehr, wie zur Zeit der vielbeschworenen „Todesfuge“, die nachgerade schon lesebuchreif gedroschen ist. Jetzt scheide ich streng zwischen Lyrik und Tonkunst.2

Die Verabschiedung von Sprachmagie, Bildreichtum und Klangschönheit, von eben jenem nun als nicht mehr angemessen erkannten „Musizieren“ setzte spätestens ein mit der Sammlung Sprachgitter (1959). Zur Zeit als Celan an der „Todesfuge“ arbeitete, war er noch weit entfernt von derartiger Ausnüchterung des lyrischen Sprechens. Erst in der 1958 formulierten Antwort auf die Umfrage der Pariser Librairie Flinker3 forderte er programmatisch eine „grauere Sprache“, die „dem Schönen mißtraut“ und „ihre ,Musikalität‘ an einem anderen Ort angesiedelt wissen will, wo sie nichts mehr mit jenem ,Wohlklang‘ gemein hat, der noch mit und neben dem Furchtbarsten mehr oder minder unbekümmert einhertönte“.4 Die harmonisierenden Zwänge der lyrischen Konvention waren damit abgetan. Seinen Gegnern hielt er kurzerhand entgegen:

Wer nach Auschwitz mystifiziert, ist ein Mit-Mörder.5

Was Celan von Beginn an allein interessierte, war der Zwang zur Wahrheit. Darum brauchte er auch nichts von dem zurückzunehmen, was er in der Phase seines „Musizierens“ schrieb. Aus dem gleichen Grund korrigierte er vehement die Vermutung Hans Mayers, die „Engführung“ sei wohl „eine Zurücknahme der ,Todesfuge‘“ mit der klärenden Bemerkung:

Ich nehme nie ein Gedicht zurück.6

Aus diesem Grund, in erster Linie aber wegen der einmaligen Wirkungsdimension der „Todesfuge“ ist es nicht nur gerechtfertigt, sondern unerläßlich, den vielfach zitierten und abgedruckten Text ein weiteres Mal herauszustellen. Handelt es sich doch um den mit großem Abstand am meisten gelesenen (und ebenso in der Schule behandelten) Text der deutschsprachigen Literatur seit 1945.

TODESFUGE

Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends
wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts
wir trinken und trinken
wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng
Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der schreibt
der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland dein goldenes Haar Margarete
er schreibt es und tritt vor das Haus und es blitzen die Sterne er pfeift seine Rüden herbei
er pfeift seine Juden hervor läßt schaufeln ein Grab in der Erde
er befiehlt uns spielt auf nun zum Tanz

Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts
wir trinken dich morgens und mittags wir trinken dich abends
wir trinken und trinken
Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der schreibt
der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland dein goldenes Haar Margarete
Dein aschenes Haar Sulamith wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng

Er ruft stecht tiefer ins Erdenreich ihr einen ihr andern singet und spielt
er greift nach dem Eisen im Gurt er schwingts seine Augen sind blau
stecht tiefer die Spaten ihr einen ihr andern spielt weiter zum Tanz auf

Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts
wir trinken dich mittags und morgens wir trinken dich abends
wir trinken und trinken
ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete
dein aschenes Haar Sulamith er spielt mit den Schlangen

Er ruft spielt süßer den Tod der Tod ist ein Meister aus Deutschland
er ruft streicht dunkler die Geigen dann steigt ihr als Rauch in die Luft
dann habt ihr ein Grab in den Wolken da liegt man nicht eng

Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts
wir trinken dich mittags der Tod ist ein Meister aus Deutschland
wir trinken dich abends und morgens wir trinken und trinken
der Tod ist ein Meister aus Deutschland sein Auge ist blau
er trifft dich mit bleierner Kugel er trifft dich genau
ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete
er hetzt seine Rüden auf uns er schenkt uns ein Grab in der Luft
er spielt mit den Schlangen und träumet der Tod ist ein Meister aus Deutschland

dein goldenes Haar Margarete
dein aschenes Haar Sulamith
7

Über das Datum der Entstehung des Gedichts gibt es sehr unterschiedliche Angaben. Edith Silbermann, Immanuel Weißglas und Alfred Kittner zufolge gehört die „Todesfuge“ ans Ende der Czernowitzer Zeit, während Ruth Lackner und Israel Chalfen den Anfang der Bukarester Zeit ins Feld führen. Ob das Gedicht Ende 1944 oder Anfang 1945 fertiggestellt wurde, spielt indes keine sonderliche Rolle. Ohnehin hat Celan dieses kunstvolle Gebilde nicht an einem einzigen Tag geschrieben. Er war gewiß geraume Zeit damit beschäftigt, so daß mit ziemlicher Sicherheit von Vorstufen und einer Endstufe gesprochen werden kann. Entscheidend ist die Tatsache, daß Petre Solomon betonte:

Als Celan nach Bukarest kam, […] brachte er das Gedicht mit.8

Er mußte es am besten wissen, weil er dieses Gedicht zusammen mit dem Autor ins Rumänische übersetzte und auch zuerst publizierte. Wir müssen also davon ausgehen, das Gedicht sei stufenweise in Czernowitz begonnen und dann in Bukarest vollendet worden. Jedenfalls erschien die rumänische Fassung, wie erwähnt, unter dem Titel „Todestango“ erstmals gedruckt am 2. Mai 1947. Celan selbst schrieb der Deutschen Verlagsanstalt am 14.3.1962:

[…] das Gedicht „Todesfuge“ – ich habe es im Frühjahr 1945 in Bukarest geschrieben.9

Damit sollten die Spekulationen über den Zeitpunkt der Entstehung ein Ende finden. Entscheidend ist allein, daß Celan mit diesem Gedicht die weithin noch epigonale Phase der Bukowiner Gedichte weit hinter sich läßt. Er hatte nun als Dichter zu sich selbst gefunden. Die in Bukarest getroffene Entscheidung, definitiv in deutscher Sprache zu schreiben, markiert gerade auch diesen entscheidenden Punkt seiner dichterischen Entwicklung, wie er sich besonders in der „Todesfuge“ nachweisen läßt.
Dieses Gedicht zeichnet sich in vielerlei Hinsicht aus. Es ist ein in hohem Maße „musizierendes“ Gebilde, es überzeugt als poetischer und poetologischer Text wie auch als Gedicht der Erinnerung an die finsterste Phase der deutschen Geschichte. Deswegen ist es zu einem lyrischen Markstein unserer Literaturgeschichte geworden. Für den Autor selbst waren diese sieben ,Strophen‘ aus 36 Versen10 das „einzige Grabmal seiner Mutter“.11 Er hat es als Fuge angelegt und deshalb auf polyphone Mehrstimmigkeit in genau überlegter Anordnung geachtet. Die komplexe Themengestaltung (Themenkopf und parallele Durchführungen, gegenstimmige Setzweise, zeitlich versetzt wiederholt oder erneut angedeutet) entspricht exakt dem Fugenprinzip. So erklärt sich ebenso die Entscheidung für einen fortlaufend intonierten Text ohne Interpunktion. Im eigentlichen Sinne handelt es sich nicht um Strophen in der herkömmlichen Bedeutung, sondern um parallele Durchführungen. Die einzelnen Textelemente fügen sich dabei, akzentuiert durch verfremdende rhythmische Abfolgen, Wiederaufnahmen oder Variationen, zu polyphoner Stimmigkeit zusammen. Diese Art der Gestaltung faßte Celan völlig zu Recht unter dem Begriff „musizieren“. Aber nicht allein die Musiktradition spielte eine Rolle bei der Ausarbeitung. Die Thematik brachte es mit sich, daß eine ganze Skala tradierter Einflüsse der verschiedenen Motive zu registrieren ist. Neben dem Alten Testament, insbesondere dem Hohen Lied, neben der Tradition des Totentanzes, barocker Allegorie und der Gretchen-Figur aus Goethes Faust-Dichtung, neben auffallender intertextueller Parallelität bei Jean Paul, Rimbaud, Rilke, Werfel und Trakl, gibt es speziell für die zentrale Metapher der „schwarzen Milch“ vordergründig vergleichbare Formulierungen in Gedichten Rose Ausländers und Margul-Sperbers, mithin in Gedichten aus dem Czernowitzer Umfeld.12 Die Übernahme solcher Stoffe ganz unterschiedlicher Überlieferung war für den poeta doctus Celan ganz natürlich. Er hat diesen vielschichtigen Motivaustausch hier allerdings mehr in einen Gegenentwurf überführt und dadurch seine autonome Leistung untermauert. Die von Literaturschnüfflern aufgebrachte These von der Übernahme Celans durch das Gedicht „ER“ von Immanuel Weißglas erledigt sich am besten durch eine einfache Gegenüberstellung beider Texte. Die in der Tat offenkundigen thematischen und bildlichen Übereinstimmungen erweisen sich, nebeneinander gehalten, dem kritischen Blick im Weißglasschen Gedicht als ,poetisch‘ aufgemacht, während die Version Celans durchgängig überzeugt. Der Direktvergleich ergibt eine gewaltige ästhetische Fallhöhe zwischen beiden Texten, und zwar eindeutig zugunsten Celans.13 Er hatte es nicht nötig, sich bei Anderen Anregungen zu holen. Sehr wohl aber griff er stimmige thematische Zusammenhänge auf und überführte sie durch intertextuelle Transformation in seinen Ausdruckskosmos. Die Zentralmetapher „Schwarze Milch der Frühe“ hält als Leitmotiv das ganze Gedicht klammerartig zusammen.

Doch nun zum Gedicht selbst, zu dem, was es uns zu sagen hat. Ins Zentrum führt die gerade erwähnte Eingangsmetapher der „schwarzen Milch“. Schwarz als die Nichtfarbe ohne Lichtenergie zerstört in der Funktion des adjektivischen Beiworts zum Substantiv „Milch“ dessen positive Implikationen radikal. Die lebenspendende Kraft der weißen Flüssigkeit verkehrt sich dabei in ihr verdorbenes und Verderben bringendes Gegenteil. Was Celan anspricht, ist die ,Milch des Todes‘, und sie ist eben „schwarz“. Hierdurch ist die zur Darstellung kommende Tatsache der Menschenvernichtung literarisch präsent, ohne daß von Gaskammern oder Verbrennungsöfen die Rede sein muß. Im sukzessiven Durchgang vermittelt das düstere Bild den Hörern oder Lesern, wie dieses Thema im wahrsten Sinne des Wortes ,durch die Stimmen geführt‘ wird. Die eine Seite bilden dabei die „Trinkenden“, das heißt die Objekte deutscher Judenvernichtung, die andere der als ein „Meister aus Deutschland“ verkörperte Tod. Hier durchzieht er das Geschehen des Gedichts in Gestalt des „im Hause wohnenden Mannes“, der „mit den Schlangen spielt“ (Urmotiv der Versuchung des Bösen), der „seine Rüden herbeipfeift“ („Rüden“ als die Hetzhunde der Jägersprache, aber auch die adjektivische Bedeutung des ,Gefühllosen‘ schwingt hier mit) und sogar den perversen Befehl erteilt, „nun zum Tanz“ aufzuspielen (Perversion und ,Banalität des Bösen‘ im Sinne von Hannah Arendt), Celan überführt dadurch die fugierte Präsentation konsequent in eine poetische Partitur aus mehrstimmigen Wort-, Klang- und Bildfolgen. Mittels wiederholender Projektionstechnik entsteht auf diesem Wege ein inhaltlich komplexes, thematisch aufwühlendes, im Endeffekt schwer lastendes artistisches Gefüge. Aus Stimmfetzen konstituieren sich Bedeutungslinien in einer ganz eigenen Sprachform jenseits von syntaktischer Ordnung und metrisch gebundener Versifikation. Ein durchlaufendes hochkomplexes Satzmodell trägt die gesamte ,musikalische‘ Komposition mit Worten. Lediglich themengeprägte Abschnitte deuten innerhalb des Gedichts eine Art strophischer Untergliederung an. Kontrapunktische Ausarbeitung und simulierte Vielstimmigkeit („wir“ – „er“) sowie eine permutierende Phrasierung der gegensätzlichen Motivschwerpunkte ergeben auf der Grundlage eines einprägsamen rhythmischen Systems wirklich eine in Sprache überführte ,Kunst der Fuge‘. Nicht zuletzt deswegen wurde wohl der ursprüngliche, viel zu grelle Titel „Todestango“ radikal umgewandelt. Freilich hat die endgültige Überschrift – Todesfuge – auch nichts mit ,wohltemperierten Harmonien‘ gemein. Celans Erinnerungsfuge verfolgt ein genau bestimmbares Ziel. Sie will unser Bewußtsein wachhalten für die in den Vernichtungslagern des Dritten Reiches geschehenen Verbrechen. Mit seiner poetischen Gestaltung des Faktischen hat er diese Zielsetzung voll überzeugend verwirklicht.
Alles an diesem Gedicht ist so gewollt und geformt, wie es in der Endfassung dasteht. Die Wirkung der bis ins Detail durchkomponierten Wortpartitur beruht in hohem Maße auf dem steigernden Impuls von Wiederholung und Antithetik in simultaner Textanordnung. Vorrangig ist die lyrische Strategie auf kontrapunktische Kombination angelegt. Sie ist, wie gesagt, wirksam in der thematischen Kontrastierung von einerseits „wir trinken“ und andererseits von „ein Mann wohnt im Haus“ oder beim einander entgegengesetzten Parallelismus „dein goldenes Haar Margarete / dein aschenes Haar Sulamith“, wie dann auch bei der Modulation „Grab in der Erde“ > „Grab in den Lüften“ > „Rauch in der Luft“ > „Grab in den Wolken“ > „Grab in der Luft“. Aus diesem Verfahren kontextueller Vernetzung erwächst das konsequent umgesetzte parataktische Darstellungssystem. Es ist gekennzeichnet durch die radikale Nebenordnung der Sätze, Teilsätze und Satzteile wie dann durch gleitende Übergänge und durch die ausgesparte Interpunktion. Eindeutig dominieren freirhythmische, daktylisch fallende Langzeilen, darunter fünf daktylische Kurzverse („wir trinken und trinken“) und dazu auch einmal „dein goldenes Haar Margarete / dein aschenes Haar Sulamith“). Metrisch entgegen stehen ihnen vier trochäisch bestimmte und insofern hart fallende Verse mit der Zentralmetapher „Schwarze Milch der Frühe“.14 Das geschieht ganz im Sinne der angestrebten Totenklage. Mit guten Gründen wird die dem Totengedenken gewidmete „Todesfuge“ immer wieder auch als ein „Todesgedächtnis“ verstanden.15 Zu Recht hat deswegen Peter Szondi darauf hingewiesen:

Erinnerung bezeugt die schaffende Kraft des Wortes. […] So ist die Aktualisierung der Vernichtungslager nicht allein das Ende von Celans Dichtung, sondern zugleich deren Voraussetzung. […] Das Eingedenken wird zum Grund für das ,Sprechen‘ des Dichters.16

Besonderes Augenmerk verdient die detailgetreue Darstellung des Mörders mit den „blauen Augen“. Sie geht in dem Augenblick in den Singular über („sein Auge ist blau“), wo der Todesschütze, ein Auge zukneifend, tatsächlich abdrückt. Die Ausdruckswirkung wird noch verstärkt durch den einzigen Reim des Gedichts („blau“ – „genau“), Der „deutsche“, der „schmerzliche Reim“17 ist hier zum tödlichen Reim gesteigert. Aber noch etwas kommt hinzu: Der „mit den Schlangen“ Spielende erscheint nicht einfach schematisch auf das Böse festgelegt. „Er schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland“ zärtlich-gefühlvolle Briefe an seine „Margarete“ mit dem „goldenen Haar und betrachtet den ,gestirnten Himmel‘ über sich („und es blitzen die Sterne“), Offensichtlich legte der Autor Wert darauf, die ungute Mischung des Nebeneinanders von ,romantischer‘ Sentimentalität und unmenschlicher Gewaltbereitschaft, von Untertanengesinnung und Arroganz, Idealismus und Nihilismus wirklichkeitsgetreu vorzuführen.
Wesentliche Bedeutung kommt sodann dem nur dreimal beschworenen „aschenen Haar“ der „Sulamith“ zu. Es steht für das jüdische Schicksal generell. Allerdings war es hierzu nötig, die Sulamith des Hohen Lieds substantiell zu verändern. Der biblischen Beschreibung („Das Haar auf deinem Haupt ist wie der Purpur des Königs, in Falten gebunden“; Hohes Lied 7.6) setzt Celan nach der Erfahrung des Holocaust konsequenterweise das „aschene Haar Sulamiths“ entgegen. Es ist, bewußt kontrastierend, unmittelbar neben das „goldene Haar Margaretes“ gesetzt. Gewiß geschah das im Wissen um die idealen Bräute des Alten und des Neuen Testaments, Sulamith und Maria. Allerdings substituiert der an den Judenmord durch Deutsche erinnernde Celan die neutestamentliche Maria durch Goethes Gretchen-Figur als deutsches Idealbild des goldhaarigen Mädchens. Der Parallelismus unterstreicht hier freilich keine Übereinstimmung, sondern krassen Gegensatz. Die bewußte Doppelfügung – „dein goldenes Haar Margarete / dein aschenes Haar Sulamith“ – weist nachdrücklich daraufhin, daß das biblische Idealmotiv nicht mehr stimmt, weil all das passiert ist, was Sulamiths Haar „aschen“ werden ließ. Uns unmittelbar herausfordernd, bildet diese Gegenüberstellung den Schluß des Gedichts. Damit fassen wir das eigentliche Ziel der durchgängig praktizierten dialogischen Ausrichtung in Gestalt derer, die das Gedicht lesend oder hörend erfahren. Für die Mit- und Nachwelt hat Celan nachdrücklich betont, wie weit der Verrat des Menschen am Menschen gehen kann. Konzentrierter, eindringlicher, emotionaler und darum haltbarer als jede dokumentarische Wiedergabe hat er den deutschen Judenmord für alle Zeiten festgeschrieben. Nicht Einfühlung ist seine Methode, sondern gezielte Herausforderung. Das gibt der „Todesfuge“ ihre Haltbarkeit in künstlerischer, ethischer und menschlicher Hinsicht. Einzelberichte oder Dokumentationen gehen andere gangbare Wege. Celan geht den seinen – den Weg des Gedichts.
Zunächst blieb die „Todesfuge“ weithin unbemerkt. Die 1947 veröffentlichte rumänische Übersetzung fand keine sonderliche Resonanz. Der deutschsprachige Erstdruck in der Sammlung Der Sand aus den Urnen (1948) konnte keine Wirkung auslösen, weil Celan das Buch zurückzog. Darauf wird im Kapitel über den Wiener Aufenthalt noch genauer einzugehen sein. Auch die Erstdrucke in Österreich18 und in Deutschland19 fanden nur geringe Beachtung. Erst mit der Publikation in der Sammlung Mohn und Gedächtnis (1952) wurden diese Verse, wie Hilde Domin zutreffend bemerkte, „wirklich gelesen“.20 Damit begann Celans langsam, aber sicher zunehmende Wirkung als Dichter. Die Gründe hierfür hat am schönsten Ingeborg Bachmann mit dem einen Satz umschrieben:

Mit einer Grabschrift, der „Todesfuge“ ist er [Celan] zuerst unter uns getreten, und mit sehr leuchtenden dunklen Worten, die eine Reise bis ans Ende der Nacht machten.21

Dieses Gedicht ist eben nicht das „ambivalente Gebilde“, das manche in ihm sehen,22 nicht bloße „Kunstfertigkeit“ (Volker Klotz) oder rein „technisch-artistische Handhabung der Sprache“ (Clemens Heselhaus), ebensowenig „metaphorische Überwältigung“ (Gert Mattenklott) oder „wahnsinnige Sprachmagie“ (Peter von Matt) oder gar „Lüge des Ästhetischen“ (Herbert Kaiser),23 sondern die poetisch und gesellschaftlich überzeugende Aufhebung der These Adornos:

Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch.

Celan war mit der Rezeption seines Gedichts ohnehin eher unzufrieden. Allzuviel Mißbrauch, teilweise durchaus gut gemeint, wurde damit getrieben. Einige Mitglieder der Gruppe 47 reagierten töricht und stillos auf seinen Vortrag des Gedichts bei der Tagung in Niendorf. Hineingezogen in die Plagiatsvorwürfe von Claire Goll und dann wieder aufgrund des unbegründeten Vorwurfs der Übernahme von Motiven bei Weißglas kam er zu dem Schluß:

Dieses Gedicht muß jetzt, lange noch, ganz bei sich bleiben.24

Diese Problematik kann mittlerweile als ausgeräumt gelten. Das Gedicht ist aus dem Bewußtsein der Öffentlichkeit nicht mehr wegzudenken. Fest steht jedenfalls: Celan hat mit der „Todesfuge“ die Geschichte der deutschen Nachkriegsliteratur wie überhaupt der Weltliteratur um einen gewichtigen und tief menschlichen Beitrag bereichert.

Theo Buck, aus Theo Buck: Paul Celan (1920–1970). Ein jüdischer Dichter deutscher Sprache aus der Bukowina. Die Biographie, Böhlau Verlag, 2020

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