Ulrich Greiner: Zu Gottfried Benns Gedicht „Wenn etwas leicht“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Gottfried Benns Gedicht „Wenn etwas leicht“ aus Gottfried Benn: Statische Gedichte. –

 

 

 

 

GOTTFRIED BENN

Wenn etwas leicht

Wenn etwas leicht und rauschend um dich ist
wie die Glycinienpracht an dieser Mauer,
dann ist die Stunde jener Trauer,
daß du nicht reich und unerschöpflich bist.

Nicht wie die Blüte oder wie das Licht:
in Strahlen kommend, sich verwandelnd,
an ähnlichen Gebilden handelnd,
die alle nur der eine Rausch verflicht,

der eine Samt, auf dem die Dinge ruh’n
so strömend und so unzerspalten,
die Grenze zieh’n, die Stunden halten
und nichts in jener Trauer tun.

 

Rückzug auf Maß und Form

Der Arzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten Dr. Gottfried Benn liebte die Blumen und Blüten. Oft hat er sie in seinen Gedichten besungen, die Levkoien und die Gladiolen, die Astern und die Rosen, den Flieder und den Phlox. In seinem Gedicht „Letzter Frühling“ heißt es:

Nimm die Forsythien tief in dich hinein
und wenn der Flieder kommt, vermisch auch diesen
mit deinem Blut und Glück und Elendsein,
dem dunklen Grund, auf den du angewiesen.

Es scheint, als wäre ihm alles Blühende ein Trost gewesen, ein helles Gegenbild zu jenem „dunklen Grund“, in dem viele seiner Gedichte wurzeln und den sie manchmal auch mit einer zynischen Gebärde zu bejahen scheinen. Eigentlich aber erfüllte den Dichter tiefe Melancholie, und die triumphale Kälte, zu der er sich oftmals anhielt, konnte einer sanftmütigen Trauer weichen. Dann schrieb er Gedichte, deren Wohlklang seltsam absticht von dem harten, rüden Ton, für den er berühmt wurde. Dann schrieb er nicht mehr über die Leichen in der Morgue, sondern über die Glyzinien an der Mauer.
Die Glyzinie ist eine Kletterpflanze und wird auch Blauregen genannt, weil die Farbe ihrer blühenden Dolden von einem bläulichen Weiß bis zu Blau und dunklem Lila reicht. Früh im Frühjahr blüht sie, und ihre Pracht weckt in dem Betrachter, der hier zu uns spricht, zwiespältige Gefühle: Trauer und fast etwas wie Neid. Er beneidet diese Pflanze, als wäre sie ein Subjekt, weil sie „leicht und rauschend“ ist und ihm vor Augen führt, was er selbst nicht ist und nicht sein kann: nicht „reich und unerschöpflich“, nicht wie die Blüte oder das Licht (weil er aus dem „dunklen Grund“ kommt), nicht selbstvergessen, „unzerspalten“. Ihn ergreift die Vision eines paradiesischen Zustands, wo die Dinge ruhen wie auf „Samt“ und „die Stunden halten“, wo die Zeit anhält und die Vergänglichkeit aufgehoben ist. Beim Anblick der Glyzinienpracht wird ihm klar, wie sehr er vom Gegenteil erfüllt und gequält ist, von all den Widrigkeiten, Widersprüchen und Zerrissenheiten, die wohl keinem von uns fremd sind.
Die Verse stammen aus der 1948 in der Schweiz erschienenen Sammlung Statische Gedichte. Benn hatte das Publikationsangebot des Arche-Verlegers Peter Schifferli liebend gerne angenommen, weil er in den Besatzungszonen keine Druckerlaubnis bekam. In einem Brief an Schifferli vom November 1947 schreibt er:

Statisch ist ein Begriff, der nicht nur meiner inneren ästhetischen und moralischen Lage, sondern auch der formalen Methode der Gedichte entspricht und in die Richtung des durch die Konstruktion beherrschten, in sich ruhenden Materials, besser noch: in die Richtung des Anti-Dynamischen verweisen soll.

Und er fügt hinzu:

Statik heißt also Rückzug auf Maß und Form, es heißt natürlich auch ein gewisser Zweifel an Entwicklung, und es heißt auch Resignation, es ist anti-faustisch.

Nur selten haben wir von Dichtern so erhellende Selbsterläuterungen, und diese ist bemerkenswert, weil sie Benns gründliche Abkehr von allem faustischen dokumentiert, auch von dem Faust-Überbietungsversuch der Nazis, dem er eine Zeitlang Beifall zollte. Jetzt erfasst ihn der Geschichtsverdruss und der Wunsch, die „Statik“ festzuhalten, also die überhistorischen Gesetze menschlichen Wandelns und Handelns. Dazu gehören Maß und Form, die Einsicht in die eigene Begrenztheit, was für ihn bedeutete: Resignation und Rückzug.
Der Rückzug hat etwas formvollendetes und damit auch Heroisches. Er ist eine Selbstbefragung und insofern statisch, als die Bewegung der Gedanken und Bilder in sich selbst kreist. Anfangs ist von „Trauer“ die Rede, am Ende abermals; und dem „rauschend“ in der ersten Zeile entspricht der „Rausch“ in der achten. Die auf dem Grund der Trauer lauernde Sentimentalität wird gebändigt durch die nach klassischem Vorbild gebauten Strophen: drei Vierzeiler mit umarmendem Reim (a-b-b-a), das Versmaß ein Jambus, mit Ausnahme der ersten Zeile von Strophe zwei. Sie beginnt mit dem „nicht“, und darauf liegt die Betonung. Er ist nicht der, der er gerne wäre.
Kommt uns das bekannt vor? Und dann sieht er auf einmal die Vollkommenheit in der Glyzinienpracht, eine Schönheit, die ihn melancholisch stimmt. Und wer nach unseren langen Wintern den Frühling herbeisehnt, endlich den Rausch der Forsythien, Magnolien und Glyzinien erlebt, der wird bei aller Freude vielleicht auch an die Vergänglichkeit denken müssen und ein Ungenügen empfinden, eine leise Trauer. Die bei Benn dazu führte, dass er einmal schrieb:

Ich kann kein Blühen mehr sehn…

Ulrich Greiner, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Sechsunddreißigster Band, Insel Verlag, 2013

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