Ulrich Weinzierl: Zu Stefan Zweigs Gedicht „Der Sechzigjährige dankt“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Stefan Zweigs Gedicht „Der Sechzigjährige dankt“ aus Stefan Zweig: Silberne Saiten. –

 

 

 

 

STEFAN ZWEIG

Der Sechzigjährige dankt

Linder schwebt der Stunden Reigen
aaaaÜber schon ergrautem Haar,
Denn erst an des Bechers Neige
Wird der Grund, der gold’ne, klar.

aaaaVorgefühl des nahen Nachtens
Es verstört nicht – es entschwert!
aaReine Lust des Weltbetrachtens
Kennt, wer nichts mehr begehrt.

Nicht mehr fragt, was er erreichte,
aaNicht mehr klagt, was er gemißt,
aaaaUnd dem Altern nur der leichte
aaaaaaAnfang seines Abschieds ist.

Niemals glänzt der Ausblick freier
aaAls im Glast des Scheidelichts,
aaaaNie liebt man das Leben treuer
aaaaaaAls im Schatten des Verzichts.

 

Nahes Nachten

Weltruhm konnte ihn nie zufrieden oder gar glücklich machen. Stefan Zweig, einer der unbestrittenen Erfolgsautoren des Jahrhunderts, blieb sein Lebtag ein Rastloser, ein Gehetzter. Für einen Dichter im strengen Sinn hat er sich wohl nur im Überschwang der Jugend gehalten, damals, als er – kaum zwanzigjährig – seinen ersten Band veröffentlichte: Silberne Saiten lautete der preziöse Titel, und so war auch die darin versammelte Lyrik – fein und gebildet, bestimmt von musikalisch-impressionistischem Empfinden, indes nicht sonderlich originell.
Seine poetische Zweitpublikation, Die frühen Kränze, wurde zwar anno 1906 mit einer Ehrengabe des Bauernfeldpreises bedacht, aber der große Kollege Hugo von Hofmannsthal höhnte bloß über die „bescheidene Auszeichnung“, die der jüngere Rivale „mit 8 anderen Individuen sechsten Ranges“ teilen mußte. Späterhin, da Zweig mit Romanbiographien und erzählender Prosa hohe und höchste Auflagen erzielte und seine künstlerische Berufung erkannt hatte, beschränkte er sich im Grunde auf versifizierte Gelegenheitsarbeiten wie jene letzte, die seinen Namen trägt.
An runde Geburtstage wollte er tunlichst nicht erinnert werden. Schon zum Fünfzigsten, 1931, war er gemeinsam mit Carl Zuckmayer den drohenden Feierlichkeiten in ein Münchner jüdisches Restaurant entflohen. „Eigentlich hätte man jetzt genug vom Leben“, soll er danach gesagt haben, „was noch kommen kann, ist doch nichts als Abstieg.“ Als Stefan Zweig am 28. November 1941 sechzig Jahre alt wurde, war er längst Emigrant, ein Vertriebener aus dem von Hitler beherrschten Europa. Im brasilianischen Petropolis hatte er zusammen mit seiner zweiten Frau Lotte Zuflucht gefunden.
Und abermals versuchte der Jubilar allfälligen Gratulanten auszuweichen: Er verabredete für den „ominösen Tag“ eine Autofahrt, um nicht zu Hause angetroffen zu werden. Dennoch schrieb er zum unwillkommenen Anlaß einige Verse und verschickte sie. Mit Fug und Recht gelten die vier Strophen als Zweigs bedeutendstes lyrisches Vermächtnis. Gewiß handelt es sich um kein ästhetisch perfektes Sprachkunstwerk. Die einfachen Kreuzreime sind nicht immer rein, manche Wendungen wirken ein bißchen abgenützt. Trotzdem ist es ein schönes Gedicht. Warum? Vielleicht weil es sich selbst belügt und in der Lüge zugleich unbewußt die Wahrheit offenbart. Melancholie war dieses Erotikers beständigste Begleiterin, der altehrwürdige Begriff ist jedoch nichts als ein nobles Pseudonym gewesen. In Wirklichkeit hieß das Leiden des Schriftstellers klinisch brutaler: Depression.
So philosophisch abgeklärt, gleichsam in Schopenhauerlaune, sich der Verfasser auch geben mochte, die Wortwahl und das Metrum bringen die tatsächliche, die verzweifelte Herbststimmung ans Licht. Lauschen wir nun dem Leitmotiv, der am häufigsten wiederkehrenden Formel: „Nicht mehr fragt“, „Nicht mehr klagt“, „Niemals glänzt“, „Nie liebt man“. Es klingt wie ein Echo des düsteren „Never more“ aus Edgar Allan Poes „The Raven“. Und in der Zeile „Denn erst an des Bechers Neige“ ist der Bezug auf Sokrates, der den Schierlingsbecher leerte, nicht zu überhören.
Kein Zweifel, an der Oberfläche preist ein alternder Mann die Freuden des Loslassens, der Befreiung von Pflichten und Trieben, er spielt uns ein serenes, beinah heiteres Les Adieux vor. Allein, der Text darunter spricht von Zwang und vom „nahen Nachten“, also von der Krankheit zum Tod. Am Abend des 22. Februar 1942, nachdem die irdischen Dinge geordnet waren, nahm das Ehepaar Stefan und Lotte Zweig eine Überdosis Veronal. Der Sechzigjährige war dem angeblich geliebten Leben untreu geworden.

Ulrich Weinzierl, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Achtzehnter Band, Insel Verlag, 1995

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