Ursula Krechel: Zu Hans Magnus Enzensbergers Gedicht „Das wirkliche Messer“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Hans Magnus Enzensbergers Gedicht „Das wirkliche Messer“ aus dem Band Hans Magnus Enzensberger: Gedichte 1955–1970. –

 

 

 

 

HANS MAGNUS ENZENSBERGER

Das wirkliche Messer

Es waren aber Abertausend in einem Zimmer
oder einer allein mit sich oder zwei
und sie kämpften gegen sich miteinander

Der eine war der der Der Mehrwert sagte
und dachte an sich nicht und wollte von uns
nichts wissen Die Lehre sagte er her
Das Proletariat und Die Revolution
Fremdwörter waren in seinem Mund wie Steine
Und auch die Steine hob er auf
und warf sie Und er hatte recht

Das ist nicht wahr Und es war der andere
der dies sagte Ich liebe nur dich
und nicht alle Wie kalt meine Hand ist
Und der fressende Schmerz in deiner Leber
kommt nicht vor in den Losungen Wir
sterben nicht gleichzeitig Wer erst
hat wenn wir uns freuen recht? Und er hatte recht

Aber Und so fuhr der andere fort Fortan
kann ich deinen Fuß nicht zurück
setzen Wer soviel wie wir weiß
hilft sich so leicht nicht und Ich
komme nicht mehr in Betracht Also komm
in die Partei und so fort Auch wenn
wir nicht recht haben Und er hatte recht

Das wußte ich immer schon daß du das
was du selber nicht glaubst
Das sagte der andere Vor uns hin
Wie ein Messer schleppst
Doch hier steckt es schon bis zum Heft
in deinem Fleisch Das Messer
Das wirkliche Messer Und er hatte recht

Und dann starb der eine und der andere
auch Aber nicht gleichzeitig
Und sie starben alle Und dann
schrieen sie und kämpften gegeneinander
mit sich und liebten und freuten
und unterdrückten sich
Abertausend in einem Zimmer

Oder einer mit sich allein oder zwei
Und sie halfen sich Und sie hatten recht
Und sie konnten einander nicht helfen

 

Denkmodell, balladesk

Wenn die Ballade eine Nähe zum Dramatischen hat, wenn sie häufig genug Handelnde vorführt, die ihr Handeln dialogisierend kommentieren, so eignet sich die Balladenform auch vorzüglich dazu, Abstraktes in Handlung aufzulösen, eine Idee zu entwickeln, die für sich selbst kaum das hätte, was Goethe als wesentliches Element in der Ballade beschrieb, ihren „prägnanten“ Gegenstand. So hatte denn auch die klassische Ballade eine straffe Handlungsdisziplin, entwickelte die Personen eher modellhaft, die Situation zeichnete sich durch ihre Verallgemeinerbarkeit, durch die ihr innewohnende normative Kraft aus.
Einige dieser Tendenzen der klassischen Ballade finden sich in Hans Magnus Enzensbergers Ballade „Das wirkliche Messer“ wieder. Sie handelt von einem prägnanten Gegenstand, dem wirklichen Messer, wenn auch dieser Gegenstand sehr spät, erst im letzten Drittel eingeführt wird. Es gibt eine konkrete Problemstellung in dieser Ballade, eine Idee, die dialogisch entwickelt wird, sie heißt: Wie und warum Partei ergreifen? Die Handlung ist reduziert, Meinungen und Haltungen werden vorgeführt, einer vertritt eine orthodoxe leninistische Lehrmeinung zur Organisation, ein anderer denkt an sich und sein Glück. Das Personal ist gleichgültig. Ob es einer und ein anderer ist, ob zwei Seelen in einer Brust kämpfen oder ob Unzählige sich diese Fragestellung vorlegen, spielt hier keine Rolle. Die irritierende Abstraktion ist bis zum Äußersten vorgetrieben. Enzensberger führt sie als Gedankenspiel der Mengenlehre schon in der ersten Zeile ein:

Es waren aber Abertausend in einem Zimmer.

Hart stoßen die beiden Aber aneinander, schaffen eine doppelte Aufmerksamkeit und negieren sich auch. So wird die knappe Exposition zu einem Denkmodell.
Einiges wird beim Leser als vertraut vorausgesetzt. Die Argumente für und wider eine politische Parteinahme, für und wider einen Parteieintritt, der aus Vernunft geschieht, nicht mit heißem Herzen, sind bekannt. „Also komm / in die Partei und so fort“, heißt es mit kühler Auslassung, in der auch ein Stück Langeweile vor einem detailgetreuen Ausmalen des Arguments steckt. Enzensberger läßt die Argumente für und wider sich aneinander reiben, er entscheidet sich nicht, er läßt beiden ihr Recht: dem, der die Floskeln zur Menschheitsbeglückung abschnurrt, und dem, der auf der Singularität der Erfahrung, und sei es der des einsamen Todes, des Schmerzes in der Leber beharrt. Wie in einem Wortballett steigert sich die Argumentation mit den großangesetzten Wendungen. Sie alle verlaufen im Sand, der neutral ist und niemandem einen Platzvorteil bietet. Unmittelbarkeit der Subjektivität und rigide Parteinahme, im Zweifelsfall gegen die ganze eigene Überzeugung – „Auch wenn / wir nicht recht haben“ – markieren den historischen Ort der auseinanderdriftenden Studentenbewegung. Beide Positionen bedingen sich gegenseitig, brauchen die jeweils andere zur Abwehr der eigenen Unsicherheit. Sie sind dialektisch aufeinander bezogen. So hält Enzensberger die Argumente in der Schwebe, diagnostiziert, seziert jenseits aller möglichen harmonisierenden Gleichmacherei.
Das Messer, das schon im Fleisch steckt, bleibt ein fremder Gegenstand, ähnlich einem Falkenmotiv in der Novelle, ein Kristallisationspunkt, ohne den das Gedicht nicht aufzulösen ist und der doch in keinem rückübersetzbaren Bild „aufgeht“. Wo das Messer blitzt, bleibt die grammatische Konstruktion offen; sie wirkt wie zerhackt, zerstückelt. Eingeführt wird das Messer nicht als wirklicher Gegenstand, sondern als Objekt des Vergleichs. Führt der eine zur Überzeugung des anderen etwas Dunkles im Schilde? Wird auf den Dolch im Gewande angespielt? Schon steckt das Messer selbstquälerisch im Fleisch. In wessen Fleisch? Spricht hier der eine oder der andere? Und was ist das wirkliche Messer? Die blutige Praxis im Gegensatz zum unblutigen Argumentieren? Die Konkretheit des Handelns? Ist der unlösbare Widerspruch zwischen den Positionen das Messer? Und wie unterscheidet sich das metaphorische Messer vom „wirklichen Messer“? Und was ist „wirklich“ in der Parabolik des Gedichts?
Die Argumente reihen sich weiter, ihre Dialektik bleibt unaufhebbar, und dennoch tritt fast so etwas wie Beruhigung, Frieden ein. Alles wird gleichzeitig, das antithetische „oder“ wird ersetzt durch das reihende „und“. Die Differenz ist haarscharf gesetzt, fast zu übersehen, nur mit einer kleinen Umstellung angedeutet. Heißt es am Anfang: „und sie kämpften gegen sich miteinander“, heißt es später: „und kämpften gegeneinander / mit sich“.

Lesarten. Gedichte, Lieder Balladen. Ausgewählt und kommentiert von Ursula Krechel, Luchterhand Verlag, 1982

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