Ursula Krechel: Zu Nelly Sachs Gedicht „WENN ICH…“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Nelly Sachs Gedicht „WENN ICH…“ aus dem Band Nelly Sachs: In den Wohnungen des Todes. –

 

 

 

 

NELLY SACHS

WENN ICH nur wüßte,
Worauf dein letzter Blick ruhte.
War es ein Stein, der schon viele letzte Blicke
Getrunken hatte, bis sie in Blindheit
Auf den Blinden fielen?

Oder war es Erde,
Genug, um einen Schuh zu füllen,
Und schon schwarz geworden
Von soviel Abschied
Und von soviel Tod bereiten?

Oder war es dein letzter Weg,
Der dir das Lebewohl von allen Wegen brachte,
Die du gegangen warst?

Eine Wasserlache, ein Stück spiegelndes Metall,
Vielleicht die Gürtelschnalle deines Feindes,
Oder irgendein anderer, kleiner Wahrsager
Des Himmels?

Oder sandte dir diese Erde,
Die keinen ungeliebt von hinnen gehen läßt,
Ein Vogelzeichen durch die Luft,
Erinnernd deine Seele, daß sie zuckte
In ihrem qualverbrannten Leib?

 

Tochter der Propheten

Es gibt eine Trauer, die über das Objekt des Trauerns weit hinausgeht. Klagen, elegische Klagen, verwandt den alttestamentarischen Gottes-Anrufungen eines Jeremias, eines Hiob, verwandt der Mystik der Kabbala, aber ebenso vertraut mit der deutschen Mystik, den dunklen Blumen Novalis’ und den Hymnen Hölderlins: so suchen sich die Gedichte der Nelly Sachs von weither, aber aus den exemplarischen Mustern eines poetischen Sprechens ihre Ahnen. Sie arbeitet mit einem einfachen Wortmaterial, das um und um gewendet wird. Seine unmittelbare Sinnlichkeit ist auch dann deutlich, wenn man nicht jede Anspielung versteht.
Viele Lyriker – Gottfried Benn zum Beispiel – verstehen ihre Gedichte als einzelne, im Glücksfall „hinterlassungsfähige Gebilde“, als Texte, die, von jedem Kontext abgelöst, sich selbst genug sind. Nelly Sachs arbeitete an einem Ganzen. Das ist keine formale Eigentümlichkeit, die sich in der Struktur ihrer Bücher ausdrückt. Eher hat ihre Arbeit die Geschlossenheit, die alttestamentarische Wucht und Würde der prophetischen Bücher. Sie entdeckt Schrift, Alphabet und das Buch im ursprünglichen Sinn für sich neu und schreibt an einem einzigen Buch, dem Buch Nelly Sachs.
Hans Magnus Enzensberger, der sich um die Entdeckung und Verbreitung der Arbeiten von Nelly Sachs verdient gemacht hat, schreibt über das Buch Nelly Sachs:

Nichts in ihm steht vereinzelt; von Gedicht zu Gedicht sagt sich das konkrete Detail weiter bis zum kosmischen Zusammenhang. Das Werk selbst ist „Buchstabenleib“. Henker und Opfer sind übrig geblieben, und Rauch, Sand, der ewige Sand der Erinnerung, Staub, der sich auf die verwesten Leidenserfahrungen setzt und sie doch nie abdeckt.

Nelly Sachs, das muß man sich klarmachen, ist fast genauso alt wie Ivan Goll oder Johannes R. Becher; Georg Heym und Georg Trakl sind nur vier Jahre älter als sie.
Aber welcher Abgrund von historischen Ereignissen trennt sie. Im Gestus nähern sich viele Gedichte von Nelly Sachs der kosmischen Dichtung des Expressionismus; die Materialität der Gestirne, die rationale Ästhetik eines Sternenreigens aber berühren sie wenig. Ihr Aufschwung in die Sphäre, die die menschliche Beobachtung nicht faßt, vollzieht sich als Flucht, als ein Ineinanderfallen von Schöpfung und Tod. Flucht und Verwandlung, der Titel ihres letzten Gedichtbandes (1959), ist ganz wörtlich zu nehmen. Der Schmerz der erfahrenen Realität löst kathartisch, so ließe sich psychoanalytisch argumentieren, ihre Dichtung aus.
Der Faschismus, die Ausrottung des jüdischen Volkes brachten Nelly Sachs zum poetischen, zum visionären Sprechen. Franz Werfel oder Else Lasker-Schüler wirken daneben noch ruhig gehalten, beruhigt, diszipliniert. Die literarischen Arbeiten, die vor der Flucht aus Deutschland entstanden sind – 1921 erschienen Legenden und Erzählungen, noch 1933 Gedichte in der Jugend –, hat Nelly Sachs abgeschüttelt.
Sie war eine Tochter, die das elterliche Haus nicht verläßt, die sich nicht freischwimmen will oder kann, die nicht ins kalte Wasser geworfen wird, der die Verzückungen der Bubikopf-Revolution fremd geblieben sein müssen, eine gute Tochter. 1891 wurde sie im wilhelminisch-großbürgerlichen Milieu geboren, in einer Tiergarten-Villa in Berlin als einzige Tochter eines Fabrikanten; sie war 55 Jahre alt geworden, bis sie mit In den Wohnungen des Todes zu sich, zu ihrem Thema, zu ihrer Sprache kam. Bis 1940 lebte sie im elterlichen Haus. Sie schrieb, spann sich ein in eine neuromantische, mittelalterlich-christliche Tradition, von der Literatur ihrer hitzigen Zeitgenossinnen Claire Goll oder Emmy Hennings meilenweit entfernt. Nelly Sachs lebte auf einem anderen Stern, unberührt von dem, was um sie herum brodelte. Jüdin mit dem Bewußtsein ihrer eigenen Tradition wurde sie wie viele erst, als man es ihr im Dritten Reich mit Gewalt beibrachte, ihr wie allen jüdischen Frauen den Namen „Sara“ in den Paß stempelte.
Ihr poetisch versponnenes Buch von 1921 hatte sie an Selma Lagerlöf geschickt. Die dankte ihr und schrieb, daß sie „selbst es nicht besser hätte machen können“. Das ist buchstäblich wahr. Selma Lagerlöf war es dann auch, die Nelly Sachs und ihrer Mutter ins schwedische Exil half. In Stockholm erreichten Nelly Sachs die Nachrichten aus den Konzentrationslagern, in die seit 1943 die Berliner Juden zur „Endlösung“ transportiert wurden; hier erfuhr sie von der Ausrottung ihrer Freunde und ihrer Familie. Als Exulantin fand sie ihre eigene, den Toten und der lebendigen mystischen Tradition verpflichtete Sprache. So wurde sie später auch gewürdigt, so hielt man sie sich auf Distanz, nie wurde sie wirklich eine deutsche Dichterin. Begierig wurde die Definition von Walter A. Berendsohn, des Stockholmer Exilforschers, aufgegriffen, Nelly Sachs sei die „Dichterin jüdischen Schicksals“ – was auch, freilich von Berendsohn ungewollt, implizierte, es gebe keine Schuld der Verfolger, es gebe nur das jüdische Schicksal, verfolgt zu werden.
Nelly Sachs ist eine Meisterschülerin des Todes geworden. „Der Tod war mein Lehrmeister“, schrieb sie in einem Brief, und dieser apodiktische Satz stellte sich entschieden gegen die sinnhubernden Interpretationsversuche, die das Werk der Nelly Sachs mit Bedeutungsgeladenheit erdrücken wollen. Es geht in ihren Gedichten nicht, wie Beda Allemann schrieb, „offenbar darum, die Sprache der Toten zu sprechen“. Es geht vielmehr darum, im Angesicht der Toten die Fassungslosigkeit zu überwinden, halbtot vor Trauer und lebendig in der Sprache zugleich zu sein.
Wider Willen ist Nelly Sachs so zur hohepriesterlichen Bestatterin der Millionen von Toten geworden, dieser als Leichen geschändeten Toten, die kein Grab zur Ruhe kommen ließ. Mit ihren Klagegesängen begrub sie einzelne Tote wie den im Konzentrationslager umgekommenen Bräutigam und ein ganzes Volk, betrauerte eine Totenstadt, in der alles Leben durch die Schornsteine verraucht ist. Wenn Adorno von der Unmöglichkeit des Dichtens nach Auschwitz gesprochen hat, so hat Nelly Sachs in der Abarbeitung der Todes-Erfahrung, in der keine Zwiesprache möglich ist, nur noch Ansprache, dem Gedicht und den Toten ihre Würde zurückgegeben.
„Gebete für den toten Bräutigam“, ein Zyklus aus ihrem Band In den Wohnungen des Todes, haben den Anlaß hinter sich gelassen und ihn auf eine große weltgeschichtliche Bühne gestellt. Die einzelnen Stücke, Wörter, Bilder, Rätsel, die nie ganz aufgehen, verweisen zurück auf die existenzielle Trauer, die Nelly Sachs zum Sprechen gebracht hat. Der Band erschien 1947 im Aufbau Verlag in Berlin, in einer mutigen Auflage von 20.000 Exemplaren. Er wurde wenig verkauft und mußte wie Nelly Sachs’ zweiter Gedichtband eingestampft werden; das Papier war damals noch knapp. Daß er auf Widerstand (im Freudschen Sinne) stieß, links liegengelassen wurde, hatte in dieser Zeit fast vernünftige Gründe. Neugieriger war die Nachkriegsgesellschaft auf das Entbehrte, nicht auf das Verdrängte. Nachzuholen war die Entwicklung der fremdsprachigen Literatur seit 1933. Zu lesen waren gerade im Aufbau Verlag eine große Zahl von Büchern, die Emigranten geschrieben hatten; es gab in Westdeutschland die Literatur der weltfernen Dagebliebenen mit ihrem Rückzug ins besinnliche „Ich-bin-es-nicht-gewesen“; es gab die Literatur der neuen, jungen Autoren, die ihre ersten Bücher in den Trümmern zu schreiben begonnen hatten. Nelly Sachs gehörte zu keiner Gruppe. Sie war Emigrantin, aber sie konnte nicht wie die meisten anderen Emigranten an eine Tradition vor 1933 anschließen. Sie war eine neue Autorin, aber nicht begierig auf den Neuanfang. Den Neuanfang hatten andere für sich reklamiert.
„WENN ICH nur wüßte“, die Aufzählung der Gegenstände, „worauf dein letzter Blick ruhte“, hat eine verblüffende Verwandtschaft mit Günter Eichs Gedicht „Inventur“. Während bei Eich die Aufzählung der wenigen nach dem Lagerleben übrig gebliebenen Dinge das Gedicht strukturiert, ist es bei Nelly Sachs die Aufzählung der Möglichkeiten. Sie stellt eine Inventur des Fiktiven auf, während Eich die Belanglosigkeit und die Bedeutungsschwere des Materiellen zeigt. Das Ich bei Nelly Sachs fragt irritiert nach dem eigenen unaufhebbaren Nicht-Wissen, tastet sich an dem Trost entlang: „WENN ICH nur wüßte“, heißt es bescheiden. Sie knüpft eine Beziehung zwischen Ich und Du, die nach „soviel Tod bereiten“ nur noch in der Fiktion möglich ist. Die Parallelisierung der Fragen, die Gleichrangigkeit der Objekte läßt eine kalte verzweifelte Ruhe aufkommen, die diesem Gedicht seine Würde und seine Kraft gibt.
Fragen: drei Strophen schlagen Wörter, Buchstabenwörter aus dem Alphabet einer einfachen Dinglichkeit vor – Stein, Weg, Erde. Es sind glatte, runde, eindeutige Wörter, die durch Relativ- und Finalsätze aufgerauht, festgehalten werden. Die einfachen Wörter dehnen sich zu einer Bildlichkeit; alles deutet auf den Abschied, das letzte einfache Tun hin. Jedenfalls ist es ein Blick, der zu Boden gesenkt ist, bevor die Fahrt ins Staublose angetreten wird, der Blick eines Opfers, für das es auf der Welt nichts mehr zu sehen gibt – keine konkreten Gegenstände jedenfalls. Es wird am Ende das gewesen sein, „worauf dein letzter Blick ruhte“, ein zu Boden gegangener Blick, ein in den Dreck gezerrter Blick. Gisela Dischner hat auf die „magische Identifikation von Zeichen und Bezeichnetem“ bei Nelly Sachs aufmerksam gemacht.
„Eine Wasserlache, ein Stück spiegelndes Metall, / vielleicht die Gürtelschnalle deines Feindes“: Zeichen, die blitzen, blinken, Warnzeichen, die aufmerksam machen: das ist der letzte Blick, das wird der letzte gewesen sein. Nichts weist darüber hinaus. Dringlicher als in den vorangegangenen Strophen, signalhafter sind die Zeichen geworden. Sie sind „Wahrsager des Himmels“, stehen nicht für eine Botschaft aus dem Himmel, sondern deuten ihn – wie unvollkommen immer. Was Wahrsager voraussagen, kann richtig oder falsch sein; die Zeichen zu deuten, steht im Ermessen desjenigen, der sie aufnimmt.
Wie zwei Hälften einer Tonschale passen nun unverhofft die einfachen Wörter zueinander. Plötzlich ist ein Koordinatensystem da: der Blick von unten, die horizontale Bewegung des „von hinnen Gehens“ und das „Vogelzeichen“, das den Blick nach oben lenkt. Wasser, Erde, Luft, die Elemente sind beisammen, die einfachen Baumaterialien einer erdachten Welt – bis auf das Feuer, das unaussprechlich bleibt in seiner Wirkung auf den „qualverbrannten Leib“. Ein glühendes Rätsel.
Nelly Sachs klagt nicht an. Sie klagt. Die Frage nach den Planern und Erbauern der Gaskammern hat sie nie gestellt. Jede Anrufung, jeder Ausruf ist ein Mahnmal, aber sie rechnet mit den Schuldigen nicht ab, rächt die Toten nicht. Die Schornsteine, die für gewöhnlich Leben, Wärme anzeigen, thronen auf den „Wohnungen des Todes“, sie sind Fluchtwege für die „Flüchtlinge auch Rauch“, die einzig übrig gebliebenen Freiheitswege. Lebendig ist hier nur der Tod, der Lehrmeister. Für ihn ist alles einladend eingerichtet, nicht für die Menschen, die über die Schwelle zu einer anderen Existenz vertrieben werden.
Nelly Sachs’ Gedichte tragen eine Bürde, die sie sich nicht aufgeladen haben. Sie tragen schwer daran, als hätte man sie still machen, ihr mit der Bürde den Mund stopfen wollen. Diese Bürde setzt sich zusammen aus einem Bündel von Würden, die Nelly Sachs im Alter zuteil wurden. Es ist, als habe sich die restaurative Gesellschaft der Bundesrepublik mit lauter Verbeugungen vor der Schriftstellerin freikaufen wollen von der Verpflichtung, mit ihren Gedichten zu leben, sie lesen und ernst nehmen zu müssen. Der Kulturbetrieb, der Nelly Sachs Anfang der sechziger Jahre auszeichnete, empfahl, bibliophil ausstattete, programmierte auf eine unbeabsichtigt beabsichtigte Weise ein Mißverständnis, das lange nachwirkt und kaum mehr geprüft wird. Noch in der Strömungslehre von Peter Rühmkorf wird mit einer schnellen Gebärde das Werk der Nelly Sachs vom Tisch gefegt:

Andererseits ist Nelly Sachs […] doch wohl bloß ein gehobener Wiedergutmachungsfall.

Gewiß ist versucht worden, an Nelly Sachs wiedergutzumachen, was an unzähligen Emigranten schlecht gemacht worden war. Sie wurde 1966 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet, sie hatte 1960 den Droste-Preis der Stadt Meersburg erhalten. Fast jährlich folgte eine neue Ehrung – bis hin zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 1965 – repräsentative Gesten, die die Schriftstellerin im schwedischen Exil ein zweites Mal zur Fremden machten, wie Olof Langercrantz in seiner Studie über Nelly Sachs sagte. Die große jüdische Dichterin, das ist nicht genuin eine der unsrigen, die Ehrenbürgerin, das ist nicht die Bürgerin: ein zweites glanzvoll eingerichtetes Exil.
Daß Nelly Sachs nie angeklagt hat, nie Namen und Adresse des Leides, das sie trug, erfragt hat, machte ihr in Deutschland auch unter denen, die den gerechten Zorn zu fürchten haben, falsche Freunde. Die Menschen, die die Vernichtungslager bauten, beschämt sie nicht. Nur den Fingern, die die Schwelle zu den Lagern legten, gibt sie eine fremde Bedeutung: „O ihr Schornsteine / o ihr Finger“ – klaffend in die Luft gereckte Drohungen. Für den Flüchtigen, Heimatlosen, der die Fahrt ins Staublose noch nicht angetreten hat, losgerissen von allem (in Kommt einer von fern), bittet Nelly Sachs um Aufnahme. Um weniger kann jemand fast nicht bitten: ihn nicht zu schelten, ihn warm zu kleiden. Mehr verlangen die Opfer nicht von denen, deren Opfer sie sind.

Lesarten. Gedichte, Lieder Balladen. Ausgewählt und kommentiert von Ursula Krechel, Luchterhand Verlag, 1982

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