Uwe Wittstock: Zu Hans Magnus Enzensbergers Gedicht „Unterlassungssünden“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Hans Magnus Enzensbergers Gedicht „Unterlassungssünden“ aus Hans Magnus Enzensberger: Die Geschichte der Wolken. –

 

 

 

 

HANS MAGNUS ENZENSBERGER

Unterlassungssünden

Ja, ich habe unentschuldigt gefehlt.
Als die Not am größten war,
bin ich nicht herbeigeeilt.
Verpaßte Liebesnächte,
beim Völkerball eine Katastrophe,
nie richtig schwimmen gelernt.

Ja, ich habe es vermieden,
bis zur letzten Patrone zu kämpfen.
Unterlassen habe ich es,
dem Penner die Bruderhand zu küssen,
und beizeiten zu gießen
die fleißigen Lieschen des Nachbarn.

Vergessen zu beichten,
davor zurückgeschreckt,
die Welt zu verbessern,
nie rechtzeitig ein- und ausgestiegen,
versäumt, dreimal täglich
meine Pillen zu nehmen.

Ja, ich habe darauf verzichtet,
Leute umzubringen. Ja,
ich habe nicht angerufen.
Vorläufig habe ich sogar
davon abgesehen zu sterben.
Wenn ihr könnt, verzeiht mir.

Oder ihr laßt es bleiben.

 

Von der Lust, nicht im Takt zu tanzen

Eine widerborstige Lebensbilanz. Hans Magnus Enzensberger hat sie mit Mitte siebzig veröffentlicht, also in einem Alter, in dem solche Bilanzen oft genug einen ziemlich bleiernen Klang annehmen. Nicht nur bei den Dichtern wächst dann die Neigung, abzurechnen und zu schauen, was unterm Strich übrig bleibt – und fast immer werden die Resultate in nachtschwarzer Tinte notiert. Doch Enzensberger ist nicht der Mann für Bleiernes. So gewichtig ein Thema auch sein mag, er hat nicht vor, sich und seine Leser davon niederdrücken zu lassen. Er bleibt selbst in diesem Gedicht dem ironisch tänzelnden Tonfall treu, den er vor über fünfzig Jahren in seinem Debüt Verteidigung der Wölfe schon anschlug: freirhythmische Verse, die keinen Wert legen auf kostbare, angeblich poetische Worte oder Wendungen. Seine Lyrik schöpft ihr Sprachmaterial lieber aus dem Umgangsdeutsch, in dem so viel vom Geist der Zeit und der Zeitgenossen eingefangen ist, und rückt altbekannte Phrasen („unentschuldigt gefehlt“, „als die Not am größten“) in neue, überraschende Zusammenhänge, woraufhin sie dem Leser flirrend frisch vor Augen stehen.
Gewöhnlich werden in Lebensbilanzen Erfolge und Misserfolge, Wohl und Wehe gegeneinander abgewogen. In diesem Gedicht jedoch ist nicht von dem die Rede, was geschah, sondern von dem, was unterblieb, nicht von dem, was getan, sondern von dem, was nicht getan wurde.
Die Aufzählung erscheint wie zufällig, doch schnell wird spürbar, dass sie nicht wortwörtlich zu verstehen ist: Wer sich selbst bescheinigt, er sei beim „Völkerball eine Katastrophe“ gewesen, dem geht es wohl nicht nur um sein sportliches Versagen, sondern auch darum, dass er beim Ball der Völker wenig Lust verspürte, im verordneten Takt mitzutanzen.
Nein, es ist kein gefälliges Bild, das dieses Gedicht von dem bilanzierten Leben zeichnet: Man darf doch wohl erwarten, dass sich jemand entschuldigt, wenn er gefehlt hat, und dass er herbeieilt, wenn die Not am größten ist. Doch derjenige, der hier spricht, will nicht gefällig sein. Er spürt wenig Bereitschaft dazu, sich den üblichen Erwartungen und Moralvorstellungen zu fügen: Nächstenliebe („dem Penner die Bruderhand zu küssen“), Nachbarschaftshilfe („beizeiten zu gießen/ die fleißigen Lieschen“), politisches Engagement („die Welt zu verbessern“) sind seine Sache nicht. Auch auf einen pfleglichen Umgang mit sich selbst („dreimal täglich / meine Pillen“) legt er offenbar wenig Wert.
So entpuppt sich das Gedicht als eine energische Unabhängigkeitserklärung. Was sich im ersten Moment wie ein leise melancholisches Eingeständnis von Schuld und Versäumnissen („verpaßte Liebesnächte“) ausnimmt, erweist sich, je genauer man hinhört, als das stolze, ja triumphale Selbstbekenntnis, sich den gängigen Pflichten nicht unterworfen zu haben, denn die können in letzter Konsequenz darauf hinauslaufen, „bis zur letzten Patrone zu kämpfen“ und „Leute umzubringen“. Hier blickt einer zurück in der Genugtuung, nicht nach den Vorschriften, sondern nach eigenen Vorstellungen gelebt zu haben. Ja, sein Misstrauen gegen alle vorgegebenen Regeln geht so weit dass er sie auch in der Literatur lieber demonstrativ verletzt, als ihnen stur zu gehorchen: Ein Leichtes wäre es gewesen, die dritte Strophe – so wie die beiden vorangegangenen und die nachfolgende – mit „Ja, ich habe…,“ beginnen zu lassen. Doch wer den Bruch der Norm höher schätzt als die Bereitschaft, ihr zu folgen, der verzichtet eben einmal auf diesen Anfang und bringt das „Ja, ich habe…“ dafür in der vierten Strophe gleich zweimal unter.
Kurz: Enzensberger feiert die Selbstbestimmung. Er stimmt einen Lobgesang an auf die Freiheit, sich gegen das zu entscheiden, was von einem verlangt wird. Doch der der hier auf sein Leben zurückschaut, nimmt diese Souveränität nicht nur für sich in Anspruch:

Wenn ihr könnt, verzeiht mir.

Sondern er billigt sie mit der letzten Zeile ausdrücklich auch den anderen zu:

Oder ihr laßt es bleiben.

Womit er anknüpft an den alten, ebenso idealistisch gedachten wie letztlich utopischen Wunschtraum von einer Welt, in der sich souveräne Individuen in Freiheit und auf Augenhöhe gegenüberstehen.

Uwe Wittstockaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Vierunddreißigster Band, Insel Verlag, 2011

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