Uwe Wittstock: Zu Silke Scheuermanns Gedicht „Requiem für einen gerade erst eroberten Planeten mit intensiver Strahlung“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Silke Scheuermanns Gedicht „Requiem für einen gerade erst eroberten Planeten mit intensiver Strahlung“ aus Silke Scheuermann: Der Tag an dem die Möwen zweistimmig sangen. 

 

 

 

 

SILKE SCHEUERMANN

Requiem für einen gerade erst eroberten Planeten mit intensiver Strahlung

Aber was kommt wenn wir uns alle Geschichten erzählt
haben zehntausend heiße Geschichten

das Lexikon unserer Luftschlösser durchbuchstabiert
ist und wir unseren Stern durchgesessen haben wie das Sofa

auf dem wir uns sehr genau kennenlernten
wenn wir dann stumm am Fenster sitzen und rauchen

Nächte von fast vollkommener Stille
in denen nur deine letzten Sätze nachhallen

Sie sprachen davon daß wir
beide eigentlich Himmelskörper sind

die eine so große Anziehungskraft haben
daß sie nicht einmal ihr eigenes Licht fortlassen

also nicht leuchten sondern schwarz sind
an ihrer Zunge verbrannte Erzähler

 

 

Die heiße Schlacht auf dem Sofa

Schon am Anfang ist alles vorbei. Im ersten Gedicht des ersten Buches von Silke Scheuermann, also im ersten Stück Literatur, mit dem sie beschloß, der lesenden Öffentlichkeit unter die Augen zu treten, ist zwar von einem Beginn die Rede, nicht aber von leuchtendem Morgenrot oder verheißungsvollen Horizonten, im Gegenteil. Ein vielleicht verlockend, vielleicht bedrohlich strahlender Planet wurde erobert, doch nicht die Freude darüber bestimmt den Tonfall, sondern der Gedanke daran, wie schnell es mit dieser Freude vorbei sein wird.
Natürlich ist das interstellare Vokabular nicht wörtlich zu verstehen, sondern in einem übertragenen, ganz und gar irdischen Sinne. Wenn hier von Himmelskörpern gesprochen wird, dann darf man die Betonung getrost auf den zweiten Wortteil legen, auf die Körper, die sich auf dem erwähnten durchgesessenen Sofa „sehr genau kennenlernten“. In diesem Gedicht geht es nicht um ein Sternenpaar, es geht unüberhörbar um ein Liebespaar. Die beiden haben sich gegenseitig „gerade erst erobert“ und entdecken im jeweils anderen, wie es sich für Liebende gehört, völlig neue Welten: Sie erzählen sich ihr Leben in „zehntausend heißen Geschichten“ und präsentieren einander scheinbar zutraulich die Luftschlösser, die sie sich heimlich erbauten. Doch merkwürdig: In diesen Taumel erster Verliebtheit mischt sich so etwas wie vorauseilende Melancholie. Irgendwann wird sich, daran haben beide keinen Zweifel, in ihre Liebe das Schweigen einschleichen, irgendwann werden sie sich nichts mehr zu sagen haben und stumm am Fenster sitzen, das ihnen Ausblicke eröffnet, die vom anderen weg in die Ferne führen. Weshalb sie schon zu Anfang ein „Requiem“ auf ihre Liebe anstimmen, also Abschied zu nehmen beginnen. Sie sind, wie es in den letzten Zeilen heißt, „an ihrer Zunge verbrannte Erzähler“ und ihre Anziehungskraft sei so groß, daß sie nicht einmal ihr eigenes Licht fortlassen.
Diese Abschlußzeilen klingen recht geheimnisvoll, auch wenn das Phänomen, auf das hier angespielt wird, inzwischen zum astronomischen Allgemeinwissen gehört. Es existieren, erklären uns die Physiker, Himmelskörper, deren Gravitation so groß ist, daß sie nicht nur jede Materie, sondern sogar das Licht in sich hineinsaugen. Sie werden schwarze Löcher genannt, und ihre Position läßt sich nur mathematisch bestimmen, denn da sie kein Licht aussenden, sind sie mit Teleskopen nicht auszumachen. Was aber haben diese finsteren, zerstörerischen, schwer zu beobachtenden Sterne mit dem Liebespaar auf dem durchgesessenen Sofa zu tun? Gibt es menschliche schwarze Löcher? Gibt es das:

an ihrer Zunge verbrannte Erzähler?

Daß die Dichter sprachlich zu den Sternen greifen, wenn sie über die Liebe schreiben, ist nicht neu. Auch daß sich die Liebe nur allzuoft als vergänglich erweist, ist eine der uralten, schmerzlichen Erfahrungen des Menschengeschlechts und eines der vertrauten Themen der Lyrik. Silke Scheuermann war, als sie dieses Gedicht 2001 veröffentlichte, 28 Jahre alt. Sie hat seither zwei weitere Lyriksammlungen publiziert, einen Band mit Erzählungen und einen Roman und gehört heute zu den noch immer jungen Autorinnen, von denen man sich für die Zukunft einiges verspricht. Überraschend, eigenwillig und für sie kennzeichnend ist, auf welche Weise sie hier die alte literarische Verknüpfung zwischen der Liebe und den Sternen variiert.
Am Himmel herrschen bei ihr nicht ewige Harmonien, sondern maßlose Gewalten. Was da oben lieblich funkelt, sind genau besehen nukleare Dauerdetonationen – und im Dunkel daneben lauern möglicherweise ebenso ultimative schwarze Gefahren. Eine Dichterin, die in solchen Metaphern von Liebe und Liebenden spricht, ist offenkundig nicht sehr zuversichtlich mit Blick auf das, was Gefühle gewöhnlich anrichten. Die Anziehungskräfte der Liebe zielen für sie nicht auf beglückende Gemeinsamkeit, sondern dienen eben der Eroberung. Die Liebenden, von denen sie spricht, verschenken oder verströmen sich nicht, sie lassen „nicht einmal ihr eigenes Licht“ fort. Darüber sind sie sich von Beginn an im klaren, sie zählen zu den durch schlechte Erfahrungen gebrannten Kindern, die das Feuer scheuen. Aber wer unter solchen Voraussetzungen flirtend heiße und immer heißere Geschichten erzählt, wie im Wettstreit darum, den anderen zum Gefangenen zu machen und ja nicht selbst zum Gefangenen gemacht zu werden, den darf man vielleicht tatsächlich einen an der Zunge verbrannten Erzähler nennen.

Uwe Wittstockaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Dreiunddreißigster Band, Insel Verlag, 2010

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