Volker Braun: Provokation für mich

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Volker Braun: Provokation für mich

Braun-Provokation für mich

GEBRAUCHSANWEISUNG ZU EINEM PROTOKOLL

Ich bin der Braun, den ihr kritisiert
Weil er Worte wie MÜDIGKEIT, TRÄGHEIT
Erwähnt, die schon
Ungewohnt sind.

Ich komme, die Kritik anzuhören
Aus meiner Stadt Dresden, wo ich in Gedanken
aaaaaweilte:
Die noch immer Wunden trägt auf der Stirn
Deren Feinde noch am Leben sind
Deren einer Bürger Karl Schmidtmüllerschulze
Den Untergang seiner Stadt, seiner Ehe, seiner Hoffnungen
Erlebte und der an keiner Stelle, auch nicht
Am Arbeitsplatz, Berufung einlegte gegen dies Schicksal
Sondern er ist gleichgültig geworden.

Von dort komme ich eben, zornig und
Laut, und sage noch immer
Zu Karl Schmidtmüllerschulze:

IchkannleichtlebeninSchlafsälen:
W E N N   I C H   M Ü D E   B I N

IchkanndasJahrhundertwieeineDrehorgelrausleiern:
F Ü R   D I E   L I E B H A B E R   P U C C I N I S

IchkanndirimklarenWassermeineDenkerstirnspiegeln:
W E N N   D U   M I R   D E N   F L U S S
A N H I E L T E S T!

Und auch ihr hört mich so reden, Genossen, die ihr
Nichts hören wollt von Müdigkeit –

Und ich verstehe euch, die ich sehe, wie ihr
Wenig schlaft und die Flüsse bewegt
Und das Jahrhundert: und
Deshalb akzeptiere ich
Einmal nicht, was ihr sagt, und versteife mich und höre
Da nicht auf euch.

 

 

 

Vorwort

„Der Zyklus für die Jugend“ ist bis auf zwei Stücke von 1962. Zu dieser Zeit hatte der Grafiker Jürgen Wittdorf in Leipzig versucht, in einer gleichbenannten Folge von Holzschnitten Gestalten von Jugendlichen vorzusetzen, die bis dahin, außer in der Wirklichkeit, überhaupt nicht vorgekommen waren. Die Wirklichkeit hat seit dem Jugendkommunique vom September 1963 den Zyklus zu einer Sache der Historie gemacht. – Die neuere „Schlacht bei Fehrbellin“ fand am 4. August 1962 gegen 1 Uhr früh statt. Leipziger Studenten, die im Rhin-Havel-Luch Wiesen trockengelegt hatten und im Fehrbelliner Kulturhaus den Sieg über den Schlamm feierten, wurden, als sie aus dem Saal in die Nacht tappten, von Eingeborenen mit Knüppeln und Steinen traktiert. Nach einer strategischen Fehlleistung der Studenten (die in verschiedenen Lagern hausten und sich kaum kannten untereinander) nahm die Schlacht ein für sie unrühmliches Ende. – Das letzte Stück taxiert den Zyklus: als eine der vorläufigen Veranstaltungen, die von vielen gemacht werden müssen, wie diese Zeit von den Vielen gemacht wird. (Diese Zeit, die von allem besser charakterisiert wird als von überbliebenen Zäunen und Türschlössern, die aber schon nicht mehr unsere Zeit wär ohne die überbliebenen Zäune und Türschlösser, wird hier mit diesen elenden Attributen gekennzeichnet: noch mit dieser lächerlichen Diffamierung des neuen Zeitalters produktiv, unzufrieden, bös zur Beseitigung der Reste des alten aufzurufen.)
Im zweiten Teil stehn, zumeist traurige, Lieder und Ansprachen zusammen. – „In der Bar“ ist aus Zetteln der fünfziger Jahre übersetzt, soweit das möglich war. – AS 1120 = Absetzer mit 1120 Litern Eimerfüllung, ein Großgerät im Abraumbetrieb der Tagebaue.
Die Provokationen des dritten Teils wurden zum Tagesgebrauch geschrieben. Es waren zu ihrer Zeit öffentliche Beschimpfungen; beim Vortrag zum Beispiel der „Moritat vom wolfsburger Stempler“ und der „Selbstverpflichtung“ (die, als vorsichtige Vorlage, mit jeweils erträglichem Text zu füllen war), mußte man an jedem Zeilenende eine gründliche Pause machen. – Die „Liebesgedichte für Susanne M. in Flensburg“ idealisieren die schwache Liebe meines Freundes Dieter Dünger aus Erfurt, den im harten Alter von 22 die Entfernung anfocht. – R. ist meinem Freund Reiner Kunze, gebürtig zu Oelsnitz im Erzgebirge, gewidmet. – Das Wort Hau-Sahne wurde von den deutschen Dichtern K. Mickel und B.K. Tragelehn erarbeitet.
Der vierte Teil enthält Gedichte; und zwar Legenden (Legende = das zu Lesende). Er handelt durchweg von unerhörten Unternehmungen dieses Jahrhunderts. Die „Legende vom Malen“ ist geschrieben zu Kretzschmars Trümmerbild Heimkehr, das im Jahre 1962 in Dresden ausgehangen hat. – In „Die fliegende Frau“ hat man es nicht mit dem Raumflug der Valentina Tereschkowa vom 16. bis 19. Juni 1963 zu tun, aber man wird an ihn erinnert. – Einen „schiefen Schornstein“, wie er in der fünften Legende behandelt wird, hat es wirklich für einige Zeit gegeben: als Gegenstand eines Gerüchts, das zugleich mit dem ersten Schornstein im Kombinat Schwarze Pumpe (dem größten Kohleveredlungswerk des Kontinents), besonders aber in mehreren in den Bannkreis des Kombinats geratenen Dörfern groß wurde. Schon beim ersten Abfassen des Gedichts, 1960, war das Gerücht längst aus der Landschaft.

Volker Braun, Vorwort

 

Selbst das Gute verbessern

– Zu neuen Gedichten von Volker Braun. –

Der Rang Volker Brauns, einer der bemerkenswertesten Lyriker der jungen Generation zu sein, ist unbestritten. Zahlreiche Veröffentlichungen in Zeitungen und Zeitschriften haben ihn in kurzer Zeit bekannt gemacht. Der Band Provokation für mich vereint die so bekannt gewordenen Arbeiten und fügt sie zu einem Ganzen. In dieser Übersicht und Ordnung wird das poetische Anliegen Brauns deutlich: Er provoziert, um Bewegung zu schaffen, eine Bewegung, die produktiv ist und verändert. Er will, wie es in seinem Titelgedicht heißt „das Positive verbessern!“
Die starke Resonanz seiner Gedichte besonders bei jungen Menschen erklärt sich wohl am ehesten daraus, daß er sich mit seinen Versen zu ihrem Fürsprecher gemacht hat. Mit vollem Recht, denn er gehört, 1939 geboren, selbst zu dieser Generation, die heute an den Brennpunkten unseres Aufbaus das Werden und Wachsen unseres Staates entscheidend mitbestimmt. Und Braun war immer unter ihnen: als Tiefbauarbeiter und Betonrohrleger im Kombinat Schwarze Pumpe, als Maschinist im Tagebau, als Druckereiarbeiter und Jugendfunktionär.
Es gab in der Auseinandersetzung mit Brauns Gedichten Stimmen, die ihn dem westdeutschen Lyriker Hans Magnus Enzensberger gegenüberstellten und Vergleiche über die Gemeinsamkeiten beider Dichter anstellten. Formale Gesichtspunkte mögen derartige Assoziationen rechtfertigen, allein der Inhalt ihrer Verse macht deutlich, an welch unterschiedlichen Fronten beide Dichter stehen. Braun ist es gelungen, in seinen Gedichten stets er selber zu sein, unverwechselbar im Haß, im Lieben und im unbeirrten Kampf, eben ein junger Dichter, ein positiver Provokateur seiner Leser.

F. R., Neue Zeit, 7.8.1965

Das „Ja, ja, ja“ der Lyriker

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung rückte kürzlich mit einem Eingeständnis heraus. Sie hatte ein Mißerfolgserlebnis mit dem DDR-Bürger Volker Braun.
Was hatte die FAZ von ihm erwartet? Sie war auf antisozialistische Lyrik erpicht. Und sie hoffte, davon etwas in Brauns Gedichtband Provokation für mich zu finden.
Das mußte schiefgehen. Schließlich ist es unserem Lande schon zur Regel geworden: Wer jung ist und was kann, der setzt sich für den Sozialismus ein. Und Volker Braun mit seiner dichterischen Sprachkraft in ganz besonderem Maße. Unsere Leser kennen ihn. Sie erinnern sich, wie er auf den Lyrikabenden der Jugend in den Jahren 1963 und 1964 auftrat. Sie wissen um seine Auszeichnung mit dem Erich-Weinert-Kunstpreis der FDJ. Sie haben die Berichte über seine Lesungen in Westdeutschland und in Westberlin verfolgt. Die Berliner unter ihnen erwarten jetzt voller Spannung sein Stück Kipper Paul Bauch, das vom Berliner Ensemble für die nächste Spielzeit angekündigt wurde.
Im Gedächtnis vieler haften Brauns Verse vom Jugendobjekt im Rhinluch: Da schaufeln die jungen Leute „die Brust voll Ruhm und Hoffnung“ sich und „ein Vaterland her“! Man erinnert sich auch an Brauns Gedicht über die „Schlacht bei Fehrbellin“ – den mutigen Ruf des jungen Lyrikers an solche Altersgenossen, die ihren Grips beim Rias einkauften:

He, ihr Fehrbelliner, seid ihr Greise?
Habt ihr nichts hinzugelernt seit Preußens Flegeleien?…
Wollt ihr das bißchen Deutschland nicht mit trockenlegen?
He, Jungs, sagt was!

Mit Freude liest man „Waldwohnung“ wieder, ein Gedicht, das den Liebenden einen guten Platz unter Gras und Bäumen sucht und strengen Zimmervermieterinnen in einem Nachsatz die Frage stellt, wo denn die Liebe wohl hin solle, „wenn doch der Frost sie aus dem warmen Zimmer treibt“. Unser Publikum hat sich daran gewöhnt, „scharfe Sachen“ zu erwarten, wenn Volker Braun das Wort nimmt. Der FAZ aber treibt es die Boykotthetze in die Spalte des Literaturbeiblatts, wenn sie die klare Sprache des Dichters vernimmt. Karrieresüchtig im Geschäft des kalten Krieges, mault sie in Anspielung auf die Beatles über „pilzköpfige Heulgruppen aus Liverpool“, deren Anhänger sich in ähnlicher Weise ausdrückten wie Braun in seinen Gedichten. „Es ist das gleiche rüplige Vokabular“, lesen wir. Und weiter:

Was jenen ihr „Yeah, yeah, yeah“, ist diesem sein „Ja, ja, ja“ – mit einem entscheidenden Unterschied: Die Anbetung der Heuler ist nicht karriereträchtig, wohl aber der Minnedienst am totalitären Staat.

Man könnte auf den ersten Blick vielleicht annehmen, hier sei Brauns Auswahlband mit dem Werk eines der Größten der DDR-Lyrik verwechselt worden – mit dem „Dreistrophenkalender“ von Georg Maurer. Darin nämlich findet sich ein Vers, der anhebt: „Ja. ja. ja stürzen die Vögel schräg in die Bäume durch die Lüfte“. Unter Brauns Gedichten dagegen wird man keines finden, in dem die inkriminierte Bejahungsvokabel so gereiht vorkommt Aber darum geht es ja wohl nicht. Es geht um etwas anderes. Für seine Gedichte kann Volker Braun in Anspruch nehmen, was nur wenige seiner Lyrikerkollegen in Westdeutschland – so diejenigen, die Liedtexte für den Ostermarsch schreiben — von ihren Versen sagen können: daß sie einen weiten Kreis junger Leute erreichen und bewegen. Es wäre leicht, eine Reihe anderer Namen von DDR-Lyrikern zu nennen, für die das in gleichem oder in ähnlich starkem Maße wie für Volker Braun gilt. Woran das liegt? Sie haben ihren Mitmenschen viel zu sagen. Ihr Denken und Fühlen ist erfüllt von den Empfindungen, den Sehnsüchten, der Arbeit und den Kämpfen ihrer Generation. Hier wird für ganz Deutschlands Jugend im Gedicht gesagt, was in Kopf und Herz vorgeht, was an Verstandeskräften und Leidenschaften in Bewegung kommt, wenn sich die technische Revolution unter den Bedingungen, des realen Humanismus einer sozialistischen Gesellschaftsordnung vollzieht. Der Mensch, der immer mehr wahre Freiheit gewinnt, tritt ins Zentrum der Poesie. Auch was ihn in seiner vollen Entfaltung hindert, wird unter der Feder, der Schriftsteller unserer Republik zu einem wesentlichen Gegenstand poetischer Auseinandersetzung.
So erhält die Dichtung geschichtsbildende Kraft. Sie befestigt das Errungene im Bewußtsein. Sie geht mit kritischen Attacken auf Veränderungen aus, wo der Dichter träges Verharren spürt. Sie entdeckt Gefühlsneuland, erlebt den Alltag auf eine Art, wie viele Leser ihn noch nicht gesehen haben. Davon hängt in starkem Maße ab, ob des Dichters Wort produktiv ist. Sie wird mehr Fragen stellen, als je eine deutsche Poesie fragen konnte. Und sie nimmt dabei alle Fragen der Dichter vergangener Epochen mit auf. Je tiefer die Schriftsteller sich für die nationalen Belange unseres Volkes verantwortlich fühlen, desto klarer ist ihre künstlerische Vision von dem künftigen demokratischen und friedliebenden geeinten deutschen Vaterland, desto heftiger zieht die kämpferische Lyrik unserer Republik gegen das zu Felde, was diesem Zukunftsbild im Wege steht: gegen die Herrschaft des staatsmonopolistischen Kapitalismus in Westdeutschland und ihre politischen Exponenten – die CDU/CSU.
Daß die FAZ bei ihren Verunglimpfungen gegen Braun vom „Yeah, yeah, yeah“ der Beatles spricht — das bringt uns in diesem Zusammenhang übrigens auch noch auf einen nützlichen Gedanken. Wäre es z.B. nicht denkbar, nach Rhythmus und Melodie der Musik, die wir von den Gitarrengruppen aus Liverpool und sonstwoher kennen, kräftige Antinotstandssongs, schlagende Schlager gegen Erhards chloroformierte Gesellschaft zu singen — sobald die Texte dafür geschrieben sind? Erst neulich, als Erich Weinert 75 Jahre alt geworden wäre, haben wir uns wieder seiner Worte über den Dichter erinnert:

Ist er ein Dichter, so wird er es auch sein, wenn er Gassenhauer schreibt, ist er keiner, so wird er es auch nicht, wenn er zu noch so verstiegenen Sujets und Sprachkünsteleien greift.

In wenigen Tagen beraten am Sitz des Komponistenverbandes in Berlin Schriftsteller und Musiker über Texte und Melodien für neue Lieder. Hunderttausende in der Hauptstadt und im ganzen Land würden sich freuen, wenn solche Begegnungen zu dauerhaften schöpferischen Kontakten führten. Proben der Zusammenarbeit von Grafikern und Schriftstellern haben die Fruchtbarkeit solcher Kontakte schon bewiesen.
In einer Zeit wie der heutigen ist die ganze Schar der Lyriker unserer Republik durch die Ereignisse selbst eingeladen, am tagtäglichen politischen Kampf mit der Waffe ihrer Gedichte aufs lebhafteste teilzunehmen. Praktischen Versuchen stehen die Vorbilder Brechts, Bechers, Weinerts zur Seite. Aber es stehen ihnen auch mancherlei Einwände entgegen. So die Frage, ob denn in unserer Zeit und in unserem Lande, wo wir reich an Informations- und Kommunikationsmitteln sind, die sich in den Händen des Volkes befinden und die Wahrheit vermitteln, die Lyrik überhaupt noch etwas Bedeutendes, Eigenständiges, Unverwechselbares zu gewissermaßen „laufenden“ Ereignissen zu sagen vermag. Solche Bedenken (und. sicher sind die erwähnten nicht die einzigen) bedürfen einer wissenschaftlichen Analyse.
Das Gedicht, das in den politischen Kampf unserer Tage eingreifen soll, bedarf auch der Unterstützung der Partei-, FDJ-, Gewerkschafts- und staatlichen Leitungen. Wie viele Zusammenkünfte verlaufen noch, ohne daß die Gelegenheit genutzt wird, ein neues Gedicht zu sprechen. Wie lange Zeit ist seit der regelmäßigen Veranstaltung von Lyrikabenden der Jugend verstrichen (so lange, daß manche von damals als von einer Periode der „Lyrikwelle“ reden)! Wer nachdenkt wird unerschlossene Möglichkeiten genug finden.
Vorbilder und die neuen Gedichte, die dafür bestimmt sind, in der geistigen Auseinandersetzung um Ereignisse des Tages zu wirken, könnten ihre Kraft vervielfältigen, wenn sie mehr praktisch geboten und gebraucht, theoretisch untersucht und öffentlich debattiert würden. ND lädt Lyriker, Leser und Literaturwissenschaftler dazu ein.

Klaus Höpcke, Neues Deutschland, 15.8.1965

„daß sich die ruhigen Leute selbst nicht mehr gefallen“

Der Mitteldeutsche Verlag hat begonnen, Volker Brauns Werke als „Texte in zeitlicher Folge“ herauszugeben. Die ersten drei Bände liegen jetzt vor; sie dokumentieren das Schaffen des Dichters von der ersten Erzählung Der Schlamm, die er 1959 schrieb, dem ersten Gedichtband Provokation für mich, den er im gleichen Jahr begann und 1963 abschloß, bis zu seinen großen Stücken Lenins Tod und T. Und schon das ist ein weiter Bogen! Dieses Jahrzehnt, in dem die DDR-Literatur sich von politisch-ideologischer emanzipierte und von dem Druck gewichtiger Tradition befreite, die sie aufhob, um zu sich selbst zu kommen.
Das Werk von Volker Braun hat diesen Prozeß wesentlich mitbestimmt, den Prozeß, der der deutschen Literatur im 20. Jahrhundert eines ihrer wichtigen Kapitel eingebracht hat. Heute ist das in der zeitgenössischen deutschen Kritik umstritten. Aus dem Engagement für eine revolutionäre Veränderung der menschlichen Lebensbedingungen, die im Ergebnis des zweiten Weltkrieges von außen kam, die sehr viele, auch weil sie mit ihrer Vergangenheit noch gar nicht fertig waren, nicht wollten und die schließlich an ihren eigenen, teilweise bis zur Perversion gesteigerten Widersprüchen zugrunde ging, könne nur eine Abart von Literatur, „Staatsliteratur“ entstehen, meinen die einen. Und die anderen meinen, diese Literatur hätte als Ersatz für fehlende Öffentlichkeit ihre Bedeutung erlangt und dabei das Ästhetische vernachlässigt. Ich halte beide Betrachtungen für unzulänglich und oberflächlich.
Sicher, manche frühe Strophe von Braun, manche Ansichten der Figuren in seinen frühen Erzählungen muten heute naiv an; er selbst weiß es inzwischen besser und hat es längst anders gemacht. Für mich war das Abenteuerliche bei der Lektüre der ersten drei Bände dieser Werkausgabe, recht genau die Genesis einer revolutionären und kritischen Poesie verfolgen zu können, die die Widersprüche, in die sie selbst einbezogen ist, bloßlegt und das Ideal eines menschlichen Zusammenlebens immer wieder reinigt, ein Ideal nach dem der einzelne nicht mehr von anderen Menschen und von den Verhältnissen geknechtet sein soll, sondern frei zu sich finden kann.
„Die Zeit war da“, sagte Braun zur Eröffnung des außerordentlichen Schriftstellerkongresses im März diesen Jahres mit Blick auf den 4. November 1989, „auf die viele von uns, Lebende und Tote hingearbeitet haben. Das Horizontbewußtsein der Literatur war kein bewußtloses Träumen gewesen, und es hatte sich wieder gezeigt: Es gibt keine anderen Horizonte als revolutionäre. Aber haben sie sich uns auf Dauer aufgetan?“
Mögen die revolutionären Horizonte auch wieder verhangen sein, Brauns Dichtung war immer darauf aus, sie freizulegen und dafür eine angemessene Ästhetik zu entwickeln. Wie der junge Dichter daran arbeitete, können wir nun noch einmal an den beiden Gedichtbänden Provokation für mich und Wir und nicht sie sowie an den Verstreuten Gedichten 1959–1968, die in den ersten drei Bänden dieser Werkausgabe enthalten sind, erkunden, Revolution, um den aufrechten Gang zu üben und die über Jahrhunderte einstudierte geduckte Haltung aufzugeben, das erscheint mir als das Grundmotiv des poetischen Werkes.
Es wollte provozieren. (Wer dabei war, erinnert sich sicher noch, welche Wirkungen sein erster Gedichtband Provokation für mich auslöste.) Was der Autor in seinem Gedicht auf einen Komponisten „Der niemals für einen Gefallen gearbeitet hat“ festhält, gilt für ihn selber. „Aber er hat niemals für einen Gefallen gearbeitet: Sondern daß sich die ruhigen Leute selbst nicht mehr gefallen.“ Da Braun schon im ersten Gedichtband alles, was da war, als „Halbfabrikat“, als Unfertiges nahm, als „Vorläufiges“, mußte er die Konservativen gegen sich haben. Sie waren an Ruhe und nicht an Unruhe interessiert, sie sträubten sich gegen seine Gedichte, sie mochten sie nicht. Mit ihnen polemisierte er mal ironisch, mal bitter.
Die Provokation von Unruhe gab auch den Versen den Rhythmus, ungestüm, drängend am Beginn, überschauender, als Braun in seinen weiteren Gedichtbänden, Unruhe, Vorläufiges in immer größeren menschheitsgeschichtlichen Dimensionen aufschließt, an die offenen Enden von Menschheitsgeschichte überhaupt dringt. Seine politische Dichtung wollte sich nicht „zur bloßen Loberin herabwürdigen“, sie wollte die wirkliche Bewegung mit ihren Widersprüchen so ins Gedicht bringen, daß sie als Widersprüche im „Abbild“ funktionieren, in der Beziehung zwischen dem Dichter und dem Leser oder Hörer. (Braun hat seine Antwort auf die Frage: Wie Poesie? in einem im dritten Band abgedruckten Vortrag, den er auf einer Vorstandssitzung des Schriftstellerverbandes 1970 hielt, gegeben.) Dafür war ihm die dialektische Struktur der Verse von Hölderlin wie die Brechts Vor-Bild, nicht im Sinne epigonaler Nachahmung, sondern deren Aufhebung. Braun hat die deutsche politische Dichtung in der Hälfte unseres Jahrhunderts weitergetrieben, dies auch in Korrespondenz (direkter und indirekter) zu solchen Dichtern wie Enzensberger, Rühmkorf oder Fried.

(…)

Klaus Jarmatz, Neues Deutschland, 15.8.1990

Absicht und Aussicht

„Hurra, ein Poet!“ rief man allgemein, als mit der inzwischen etwas verebbten Lyrikwelle ein junger Mann namens Volker Braun ins Licht der Öffentlichkeit geschwemmt wurde. Da war plötzlich ein ungewohnter Ton in den lyrischen Auen unserer Republik, Erinnerungen an die „roaring twenties“ der deutschen Literatur wurden wach, Majakowskis Verse wurden zum Vergleich herbeizitiert — Brauns Stern ging, wie man so sagt, strahlend auf. Nun haben wir freilich schon so manchen Stern aufsteigen und verblassen sehn: der Reiz der Neuentdeckung trübt häufig die Fähigkeit zu sachlichem Urteil. Fragen wir also: Wie steht es mit diesem jungen Mann und seinen poetischen Produkten? Der Mitteldeutsche Verlag hat vor einiger Zeit seinen ersten Gedichtband Provokationen für mich herausgegeben; er war einer der wenigen „Knüller“ des Verlags auf der diesjährigen Leipziger Jubiläumsmesse und ist, wie man hört, inzwischen schon beinahe vergriffen.
Das also sind Tatsachen: Volker Brauns Gedichte werden gekauft und gelesen, der Stern leuchtet nach wie vor. Das muß nicht unbedingt schon für die Gedichte sprechen und wir wollten ja sachlich prüfen, wollten fragen nach der Substanz, nach Herkunft, Absicht und Aussicht.
Vergleiche mit dem deutschen Expressionismus und mit Majakowski sind ungenau, aber nicht unberechtigt. Braun ist kein selbstzufriedener Schönredner, der sich in seinem Staat wie in einem fertig vorgefundenen Nest wohlig einzurichten gedenkt. Er weiß, daß die Wandlung der Menschenwelt die Wandlung des weltgestaltenden Menschen einschließt und sogar voraussetzt. Diese Veränderungsbesessenheit gibt seinen Versen jene Kraft und jenes Pathos, die den Leser anziehen — zumal sich das kraftvolle Pathos oft mit kühl analysierendem Verstand verbindet. Fehlt diese Verbindung, was gelegentlich geschieht, gerät Braun unversehens in die Gefahr dogmatischer Eingleisigkeit, kluge Polemik entartet zu wortreicher Beschimpfung — wie z.B. in seiner „Rezension der Landessprache“ des Hans Magnus Enzensberger; er bleibt deutlich unter dem Gegenstand seiner Kritik. Auch das Gedicht „Jazz“ halte ich für unfertig: Eine Deutung des Jazz muß notwendig unvollkommen bleiben wenn wesentliche, soziologische Bezüge dieses Themas ausgeklammert werden. Überhaupt erwecken jene Gedichte Brauns den Eindruck von Halbfabrikaten, die sich mit Verhältnissen und Verhaltensweisen der westlichen Welt auseinandersetzen.
Es werden also einige Unfertigkeiten des Talents in seinen vorgelegten Gedichten sichtbar; ich würde nicht so ausführlich darüber reden, handelte es sich nicht tatsächlich um eines unserer wenigen bedeutenden Talente. Und doch ist kein Anlaß zu Beunruhigung. Die große Mehrzahl seiner Gedichte nämlich beweisen, daß Volker Braun über ein sicheres Grundwissen und solide Denkfähigkeit verfügt; er ist jederzeit imstande, sein literarisches Produkt kritisch zu überprüfen — und es mangelt ihm auch nicht am dafür erforderlichen Mut.
So, und nun sollte man seine Provokationen lesen. Man sollte sie kaufen — falls man sie in unseren Buchhandlungen überhaupt noch bekommt. Wenn nicht, fragen Sie immer wieder nach: Neuauflagen richten sich nach der Nachfrage!

Jens Gerlach, Berliner Zeitung, 2.4.1965

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Anonym: Eine Provokation überfliegt Staatsgrenzen
Volksstimme (Wien), 22.5.1966

Reinhard Baumgart: Vernunft, Gefühl und Schnauze
Der Spiegel, 19.5.5.1965

Sabine Brandt: Minnedienst am totalitären Staat
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7.8.1965

Wilfriede Eichler: Große Geste und laxer Jargon
Nationalzeitung (Basel), 8.7.1965

Adolf Endler: Lyrik und Lyriker
Sonntag, Nr. 16, 1965

F.G. Hübsch: Kein Mitleid für Hirnlose
Törn, Heft 5, 1966

Jürgen Moeller: Mit Hölderlin für Ulbricht
Münchner Merkur, 17.9.1966

M. S.: Eine neue Jugend, eine neue Kunst
Volksstimme (Wien), 11.7.1965

Silvia Schlenstedt: Positiv und kritisch
Neues Deutschland, Literaturbeilage 1, 1965

Eduard E. Schreiber: Mitteilung an die provozierenden Freunde
Leipziger Volkszeitung, 6.11.1965

Axel Schulze: Provokationen
Freiheit, 14.8.1965

Volker von Törne: Volker Braun: Provokation für A. P.
alternative, Heft 38/39, 1964

Klaus Völker: Abschied vom Wilhelminischen Schulterputz
Die Zeit, 15.10.1965

 

Der größte Anspruch

– Über ein paar Zeilen bei Volker Braun. –

Bevor ich sie vergesse… Bevor alle die Geschichte vergessen, alle, denen jetzt noch einiges aufstößt, das mit dem unaussprechlichen, dem ersten Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden zu schaffen hat. Wenn sie schon nicht alle angeht, in Deutschland. – Schon dünkt mich das eigene Interesse Rekonstruktion eines tieferen, eines kaum noch heraufzubeschwörenden. Schon ist es Archäologie. – Bevor ich sie also vergesse, soll noch einmal die Rede sein von dieser Geschichte, von einem ihrer eher naiven Teile.
Schüler einer Erweiterten Oberschule in Berlin-Pankow, Abiturienten, machten einander Mitte der siebziger Jahre auf den Gedichtband Provokation für mich von Volker Braun aufmerksam. Er war durchaus keine Neuerscheinung. Sie lasen, wie so oft, in einer Nachauflage (in diesem Fall zehn Jahre nach der ersten), und sie fanden, was sie lasen, doch so brisant, als sei es eigens für ihre Situation geschrieben:

Jazz
Das ist das Geheimnis des Jazz:
Der Baß bricht dem erstarrten Orchester aus.
Das Schlagzeug zertrommelt die geistlosen Lieder.
Das Klavier seziert den Kadaver Gehorsam.
Das Saxophon zersprengt die Fessel Partitur:
Bebt, Gelenke: wir spielen ein neues Thema aus
Wozu ich fähig bin und wessen ich bedarf: ich selbst zu sein –
Hier will ich es sein: ich singe mich selbst.

So wenig also bedurfte es, das Geheimnis zu lüften. Es bestand in Notdurft. Und es war zu lüften mit Klischees, mit Zitaten, mit beinahe theoretischen, jedenfalls trockenen Zeilen. Was daran provozierte die literaturpolitische, von Kampagne zu Kampagne dasselbe Strickmuster variierende Dauerdebatte? Was daran fanden die Oberschüler der stabilsten Zeit des ersten (s.o.) noch einmal (noch ein letztes Mal) so erregend?
Beide Fragen rühren an den Kern des Phänomens, daß Literatur und Politik kaum voneinander zu trennen waren in jenem versunkenen Staatswesen. Die Symbiose von Politik, Weltanschauung, Agitation einerseits und Literatur inkl. Poesie andererseits war schließlich leninistisches Konzept. Es war ein reichliches Stück weit aufgegangen. Die Symbiose trieb Früchte und Samen der merkwürdigsten Art. Vermittler mit wohlklingenden Namen hatten eine Rolle gespielt, darunter Wladimir Majakowski und Bertolt Brecht als die in unserem Zusammenhang wichtigsten. Reinste Früchte deutsch-sozialistischer Varietät sind die Dichtung Volker Brauns und ihre Rezeption.
Natürlich mußte auf der Folie der verordneten Allgegenwärtigkeit des Kollektivs der vorderhand individualistische Gestus Aufsehen erregen. Das „ich singe mich selbst“ Walt Whitmans („I celebrate myself, and sing myself“) schallte aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts herüber und lieh Braun seinen unvergleichlich weiteren Atem. Majakowski hatte sich der Begeisterung für das „demokratische Selbst“ („One’s-self I sing“) noch mit viel glaubhafterem Selbstbewußtsein hingeben können; wohl, weil er gleich Whitman einem Kontinent mehr angehörte als einer mit sich selbst zerworfenen Nation („Mir kam ein Denkmal zu bei Lebzeit nach dem Ranggebote. / Ich legte drunter Dynamit… / Ich hasse alles Leichenhafte, Tote! / Und ich vergöttre all, was Leben heißt!“).
Natürlich provozierte schon die Erwähnung eines erstarrten Orchesters die Dirigenten des durchaus gemeinten Staatsorchesters bzw. ihre Zuarbeiter aus Kulturbehörden und Verbänden. Wurde daraus dann noch ausgebrochen, der Gehorsam als, meist verhohlene, Voraussetzung des sozialistischen Gemeinwesens mit drastischen Beiwörtern versehen und aufgekündigt, wie sollte da die Zensur, wenn auch noch viel mehr verhohlen, nicht Alarm geschlagen haben? Doch halt! Das Gedicht erschien ja, und zwar ausgerechnet im Jahr des endgültigen Verbotes der Lieder Wolf Biermanns („Ich bin der Einzelne / das Kollektiv hat sich von mir / isoliert“). Das soll nicht überbewertet werden. Die Achterbahn der Literaturpolitik kannte munteres Nebeneinander und unerklärliches Nacheinander von Verboten und Veröffentlichungen, daß sie daran nur so ihre Art hatte. Die Geschichte von Brauns eigenen Publikationen bietet mannigfaltig Belege dafür. Und doch spielte bis in die letzten Tage des ersten (a.a.O.) immer wieder die Frage eine Rolle, warum das eine „gegangen“ sei, d.h. publiziert worden, im Kanon geduldet worden sei und das andere nicht.
Die mit Zensur befaßten Damen und Herren entschieden nicht nur nach Parteitagsbeschlüssen und Telefonanweisungen letzter Autorität, die globale Lage unter besonderer Berücksichtigung betreffend. Sie kannten nicht nur den allerhöchst festgelegten Wechsel von „Weite und Vielfalt“ zu Enge und Einfalt und umgekehrt nach Belieben. Die Magenverstimmung bzw. großartige Verdauung im Politbüro nach allmorgendlicher Spiegelung in BILD, WELT und FAZ (vermutlich in dieser Reihenfolge) erklärte auch nicht alles an ihren Entscheidungen. Ich behaupte, die Zensur hatte Geschmack wie Geruchssinn.
Das Gedicht „Jazz“ kam beidem auf versteckte, doch letztlich ausschlaggebende Art entgegen. Das bereits zitierte erste Drittel lieferte dabei die würzige Vorspeise. Zunächst stellte sich die Frage, ob sie nicht über das gehörige Maß scharf sei. Gut, vom unanständigsten Teil der westlich-dekadenten Jugendkultur damals, vom Rock’n’Roll war nicht die Rede. Aber welche geistlosen Lieder meinte der junge Mann, die er so neusprachlich zertrommeln ließ? Sicher nicht Jazz-Texte. Die durften nach Einebnung des Eislerschen Verdikts gegen den Jazz endlich als Ausdruck der Lage unterdrückter Schwarzer in Nordamerika anerkannt werden. Hier waren doch reichlich unverblümt die bestellten Lieder aus der Feder etwa Louis Fürnbergs gemeint („Die Partei, die Partei, die hat immer recht“)! Vom übersteigerten Selbstwertgefühl in den folgenden Versen ganz zu schweigen!
Hm, aber da, nun, da duftete der Zensur das Hauptgericht entgegen. Das las sich so:

Und aus den Trümmern des dunklen Bombasts Akkord
Aus dem kahlen Notenstrauch reckt sich was her über uns
Herzschlag Banjo, Mundton der Saxophone:
Reckt sich unsere Harmonie auf: bewegliche Einheit –
Jeder spielt sein Bestes aus zum gemeinsamen Thema.
Das ist die Musik der Zukunft: jeder ist ein Schöpfer.

Nach dem Geschmack der zuständigen Organe konzentrierte das Gericht resp. Gedicht in diesem Zwischenteil ein fast zu reichliches Maß an modernistischen Zutaten. Etwas disharmonisch war da von der Harmonie die Rede. Lassen wir ihn denn erst einmal rutschen, den damaligen Zeitgeist, wie er im ersten (a.a.O.) sich gerierte, allerdings nicht nur dort, und keineswegs nur im sozialistischen Wirtschaftsgebiet.
Das Bewußtsein einer gewichtigen Gruppe Intellektueller aus allen Altersgruppen nach dem Mauerbau, hier fand es, alles in allem bescheidenen, Niederschlag. Hier wurde investiert in die Zukunft, und zwar im Verein. Mitglieder der Einheitspartei waren die meisten, die da antraten, bereit, sich des gemeinsamen Themas radikal anzunehmen. Die Radikalität wirkte in engen Schranken, gewiß. Sie war ummauert von Tabus. Doch sie bestand, und sie war so ernst gemeint, wie es nur geht ohne wirklichen Griff an die Wurzel („Tatenarm und gedankenvoll“).
Bei all dem Abstand, der heute demonstriert wird, nach Tische also, bei all den Geschichten von Verfolgung und Widerstand bis in die Oberschicht hinein, über all das Lachhafte und Widerliche weg sei noch einmal an die Muse jener Tage erinnert. Sie hatte mehrere Namen. Einen benutzt Braun. Er schreibt Zukunft, an deren Seite Fortschritt und Glaube gehören. Einer ihrer wirksamsten und zugleich der verderblichste Name war Hoffnung. Gleich den anderen im kommunistischen Denken (und wiederum nicht nur in ihm) war er Destillat aus den Destillaten des 19. Jahrhunderts.
Diese Hoffnung galt bekanntlich einerseits dem verheißenen Himmelreich auf Erden, der Vision eines verwirklichten Kommunismus. Andererseits war sie gerichtet „auf Herstellung menschlicher Würde, auf Herstellung des aufrechten Ganges, auf… moralische Orthopädie, kurz, auf Herausbildung von Rückgrat gegen Abhängigkeit, Unterwürfigkeit usw.“ (Ernst Bloch 1968). Der intellektuelle Widerspruch wurde notorisch: Je ferner die Verwirklichung der Utopie rückte, um so stürmischer mußte gegen die kläglichen Umstände hier und jetzt angerannt werden. Der vorige Satz gehört in den Konjunktiv (s.o. Zitat Hölderlin). Vom stürmischen Anrennen kann im nachhinein schon gar nicht die Rede sein. Wegrennen war leichter und also verbreiteter, und hier ist, Pardon!, auch die Rede von meinem eigenen Hemd.
Inzwischen hatten die Zensurorgane weitergelesen. Das Dessert endlich war ihnen ein reiner Genuß:

Du hast das Recht, du zu sein, und ich bin ich:
Und mit keinem verbünden wir uns, der nicht er selber ist
Unverwechselbar er im Lieben, im Haß.

Da klingelte das harte, wäßrige Eis der FDJ-Singebewegung sinnfällig hindurch. Hartmut König hätte das nahtlos an sein berüchtigtes „Sag mir, wo du stehst“ anfügen können. Hier wurde ein Standpunkt verkündet und gefordert. Die Botschaft des jungen Volker Braun war für diesen Zeitpunkt komplett. Er hatte sicher kein bißchen gelogen. Er wollte ein vorwärtsweisender Kritiker sein. Gerade damit machte er es den zuständigen Organen recht. Sie konnten zur Legitimation ihres Vorhandenseins etwas anmerken. Sie konnten Wünsche vorbringen, wie sich der junge Mann nach ihrer Meinung in Zukunft entwickeln sollte. Die Freude hat er ihnen bekanntlich nicht im geforderten Umfange gemacht.
Er wurde zu einem Meister in der letzten Disziplin der „Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit“. Bei Brecht heißt es dazu lapidar: „Es gibt vielerlei Listen, durch die man den argwöhnischen Staat täuschen kann.“ Die konnten z.B. darin bestehen, einen durchaus widersprüchlichen Text über „Die Mauer“ zunächst als „Die Grenze“ betreffend zu tarnen. Waren doch sogar Sartres Erzählungen aus den dreißiger Jahren, eindeutig „Le Mur“ überschrieben, noch 1982 im Aufbau-Verlag als „Die Wand“ herausgegeben worden. Eine andere Form der List, die Volker Braun zu hoher Blüte getrieben hat, verweist allerdings zugleich auf ihre Grenzen. 1970 erschien das Gedicht „Fragen eines regierenden Arbeiters“, deutlich Gegenstück zu Brechts berühmtem, in dem der Arbeiter noch ein lesender ist. Braun schließt mit folgenden Zeilen:

… Auf den Thronen sitzen
Unsre Leute: fragt ihr uns
Oft genug? Warum
Reden wir nicht immer?

Dem heutigen Leser fällt es leichter, die List zu finden. Sie besteht im understatement, in geschickter Untertreibung. Tilgen wir sie, ergibt sich der eigentliche Text, etwa so:

Auf den Thronen sitzen
Nicht unsre Leute : fragt ihr uns
Überhaupt? Warum
Reden wir nie?

Um nicht selbst in eine Art understatement zu verfallen, will ich mein Unbehagen nicht verhehlen. Dieses karge Gedicht belegt vielleicht weniger seine List als vielmehr die Scheu Volker Brauns vor dem eigentlichen Text, und zwar dem der Wirklichkeit. Und Scheu zu nennen, was in der Fülle des Werkes als Überzeugung zutage tritt, es will nicht mehr greifen. Schon anhand dieser wenigen Zeilen läßt sich ausmachen, daß Volker Braun ein Kritiker der Verhältnisse war, der dabei sehr wohl seine Funktion erfüllte als Selbstkritiker der Einheitspartei. Seine Angriffe, seine Fragen richteten sich gegen sich selbst wie an seine Genossen. Das Unsre, das Wir so vieler Gedichte, es drückte das Selbstverständnis einer Schicht aus, der, mit einem Begriff György Konráds, „marginalen Intelligenz“ im Realsozialismus. Sie war als selbstkritische Instanz Teil des geistigen Ringelreihens um die Macht herum. Wer ihr angehörte, der war einem stetigen Druck ausgesetzt. Mancher ging dabei „ein bißchen zu weit“, in die Richtung Wolf Biermanns etwa, ein anderer…, von dem ist hier gar nicht erst die Rede.
Volker Braun nämlich bestand den Hochseilakt wie sehr viele andere auch. Er ging in keine Richtung. Zwar hat er „Die Morgendämmerung“ gekannt:

Jeder Schritt, den ich noch tu,
aaareißt mich auf.

Den größten Anspruch also wußte er großartig zu formulieren. So groß war er, ist er immerhin, ein „Riese an Denkkraft“, nur leider einer, der sich mit einem Fuß auf dem anderen herumtritt.
Die chronologische Reihung nur der Titel von Gedichtbänden Volker Brauns bezeichnet allemal die Suche nach einem geistigen Ausweg. Zur Provokation für mich trat das scheinbar DDR-selbstbewußte Wir und nicht sie von 1970. Es war die Umkehrung des Titels einer Ode Klopstocks. Dieser hatte darunter den geistigen Anspruch seiner Landsleute mit dem revolutionären Aktivismus der Franzosen kontrastiert. Das Titelgedicht Brauns ist sehr viel verhaltener als die Ode Klopstocks. Es bietet so gut wie nichts von dem, was der Titel zu versprechen scheint. So melancholisch ist selten die Rede gewesen vom ersten (a.a.O.). Und der war schließlich höchster Antrieb und Brennpunkt des bisherigen Werkes Volker Brauns, das sich zwischen gesellschaftlichem Anspruch und Leiden an der Vergeblichkeit wieder und wieder pathetisch aufwarf:

Das ist mein Land, das seh ich: und keine Welt
Tröstet mich. Ich versuche es ja, ich halte
Dies Ländchen im Auge, in meinen Händen
Als wenns mir gefiele…

1974 war er Gegen die symmetrische Welt angetreten, doch trafen wir ihn 1977 noch immer beim Training des aufrechten Gangs. Die Qual blieb dieselbe. Langsamer knirschender Morgen graute 1987 noch immer, übrig blieb, in diesem Jahr 1990, der Titelprogrammatik wiederum folgend, nur das Leiden an der neueren Geschichte des Abendlandes als Der Stoff zum Leben. Und wenn Braun auch alle möglichen Verkleidungen nutzte, um als tapferer Weltgeist durchzuhalten, so half ihm das wenig. Als Der Frieden, ein Gespenst in rostiger Rüstung, kam er des Weges, als der brutale Eisenkarren des einzig wahren, des unerbittlich realen Sozialismus.
Die Bilder stimmen. Er ist all das selbst. Sein Fleisch und sein Blut, die poetischen, versteht sich, sie haben sich längst in ebendieses Material verwandelt. Brauns spätere Gedichte beeindrucken immer wieder als öffentliche Selbstzerfleischung. In immer neuen Anläufen, Zyklen und Mäandern geht er sich selbst an. Dabei bleibt er der schrecklich aufrichtige marxistische Student auf Lebenszeit. Die Welt gehorcht seinen stetig wiederholten Interpretationsmühen immer weniger. Sein moralischer Anspruch wird hier, bitteschön, nicht in Zweifel gezogen. Auch paukt er noch immer Kulturgeschichte, Philosophie usw., was Band für Band abzulesen ist. Seine Rhetorik ist brillant und steigert sich noch immer. Nur die Grundlage dieser Rhetorik bleibt die gleiche, und das ist verhängnisvoll.
Sie ist noch immer von der Art, die jene Oberschüler damals so gut verstanden. Der Pubertät noch nicht ganz entwachsen, stürzten sie sich bedingungslos in die obligate Sinn-Diskussion. Der Mythos von Sisyphos des Albert Camus, im ersten (a.a.O.) selbstverständlich auf dem Index, war ihnen nicht zugänglich. Sie hätten seine Konsequenz aus der Sinnleere der Welt damals sowieso nicht akzeptiert. Sie gehörten zu dem letzten Häuflein, das noch einmal hoffte und fragte und mit zu harren verdammt war. Dennoch erinnerten sie sich bald nur noch des Verses, in dem der Baß ausbricht. Sie hielten es mit dem Baß. Einige tragen ihn noch heute bei sich, sogar im kleinen Handgepäck.

Uwe Kolbe, Neue Rundschau, Heft 4, 1990

Leuchtspur der Narben

Für Volker Braun

Nicht die Illusionen wurden massakriert, sondern aus den Massakern wurden Illusionen.
Atmungslos: Ein Hohnlachen für/mit/gegen die symmetrische Welt, die mich völlig asymmetrisch 1976 der Universität verwies und mir für den Hörsaal der Frauenklinik wegen unsozialisten Verhaltens und Trunkenheit auf der Bühne Hausverbot erteilte.
GUE VARA ODER SONNENSTAAT: Marcos, der anarchistische Wildfang, dem Seziertisch der Sozialisten entgangen, tot im bolivianischen Urwald, egal, ich war froh, daß ich mir diese Verrenkung nicht mehr antun mußte: zwischen veraalten Journalistikvolontären zu versiechen, so froh daß ich bei meinem Abgang noch mal gegen die Regenrinne der Karl-Marx-Universität pinkelte, wo die Illusionen bereits archiviert wurden, als sie noch nicht mal Ideale waren.
Wer nicht wenigstens einmal im Kopf vögelt, vergißt irgendwann, wie es ist, mit den Beinen zu denken.
Wegrennen hieß Weg rennen. Und bleiben und sich hineingeboren (Uwe Kolbe) wie hinausgestorben (Katja Lange-Müller) fühlen, egal wo. Ob im Leipziger Regenwald als wetterfester Anarchistenklon eine kahle Parkplatzwand anpissen oder im bolivianischen Pappmachéurwald nachts laut GUE VARA ODER DER SONNENSTAAT zitieren, wo ihn nur die gedankenschweren Nachtvögel hörten.
Das war der Weg, schleimsteinig und unbehaust, breitbeinig und unbeholfen.
Absurderweise hat mir diese Ratlosigkeit über die Laufzeit der Deutschen Demokratischen Republik geholfen, bis sie am Ziel eingelaufen war. Und als sie eingelaufen war, war guter Rat teuer, das Geschrei laut und das Gewese um das Gewesene nachher um so heftiger.

Wir wohnten nie in einem Haus
Wir laufen nie wir rennen
Wie lange halten wir diese Freiheit aus
Und das was wir Erde nennen
Von der Sonderbar in die Wunderhaft
Saufen kann man überall nur nicht trinken
Wer uns glücklich aus dieser Haftbar schafft
Darf wenn wir sterben auch winken

Peter Brasch, Arbeitsbuch für Volker Braun, Theater der Zeit, 1999

Das Dilemma politischer Poesie

FRAGE ANTWORT FRAGE
für Volker Braun

Warum kalke ich meine Wände?
Ich will hier nicht wohnen bleiben.
Wenn die Tünche aufgebraucht ist
Gehe ich fort hier, sage ich. Ach
Warum dann die Mühe, frage ich
Listig lächelnd. Damit, wenn ich gehe
Ich nicht etwas Unbewohnbares hinterlasse
Kein sinkendes Schiff, von dem bekanntlich
Sogar die Ratten abhauen. Warum
Wenn es bewohnbar ist, gehst du?

Kurt Bartsch

1. Der Rhetor des Prozessualen

„Einseitigkeit“, „Undialektik“, „Realitätsverzerrung“ und vor allem „Realitätsblindheit“ waren die Vorwürfe von Seiten der offiziellen Literaturkritik, die Anfang der sechziger Jahre dem jungen Lyriker Volker Braun galten. Es waren nicht nur die Parteifunktionäre, die seine Verse irritierten; sie entfachten unter Studenten heftige Diskussionen. Schon „1963 löste der vierundzwanzigjährige Student der Philosophie an der Karl-Marx-Universität Leipzig mit seinem Gedicht ,Agitatoren‘ (übrigens ist dieses Gedicht in keiner der inzwischen publizierten Sammlungen zu finden) einen heftigen Streit aus, in dem er u.a. als ,Kapitulant und Jammerlappen‘ abgekanzelt wurde“1 „Sein Zyklus für die Jugend“, so Günther Deicke rückblickend, „stieß bei einem Teil seiner damaligen Kommilitonen auf krasse Ablehnung“.2
Eine ähnliche Kritik war schon 1961 in Leserbriefen an die Redaktion der Berliner Schrebergarten-Zeitschrift Die Schatulle zu lesen.3 Der damalige Redakteur für Kunst und Kultur, Adolf Endler, entfachte darin eine der ersten Lyrik-Debatten zu Texten junger Autoren unter dem Titel „Leben in der Nußschale“, als er zwei verschiedenartige Lyriker-Typen vorstellte: „den ,romantischen‘ Lyriker (…) Johannes Conrad neben dem ,aufklärerischen‘ (…) Volker Braun.“4 In einer Glosse zu Brauns Gedicht „Psalm“, das in der Zeitschrift abgedruckt war, nimmt Endler die von ihm erwartete Kritik an Brauns unüblicher Schreibweise vorweg:

Dieses Gedicht ist ,schwierig‘, weil es große Anforderungen an das Denken des Lesers stellt und wird noch schwieriger, weil Brauns ,Primitivismus‘ einige sprachliche ,Verknappungen‘ produziert wie ,Das süße Bier ist ein lustiger Schichtlohn‘. (Ich sage nicht, daß so etwas in der Lyrik unerlaubt ist.)5

1. Die Nacht ist dunkel heute, und der Wind
Ist kalt. Aber war da ein Wind draußen?

2. Als ich aus der „Blauen Tür“ komme
Ist der Schnee weich. Das süße Bier
Ist ein lustiger Schichtlohn.

3. Im Radio suche ich den Herrn Händel ’raus,
Der die Musik macht für den Abend
Nach dem Schichtrekord.

4. Da sagt der Mann, der sich nie verspricht beim Sprechen,
Daß das Schwein Mobuto
Lumumba das Augenlicht geraubt habe.

5. Vor Ende der Schicht hatten wir eine Resolution abgeschickt
Zur Freilassung desselben Lumumba. Der alte Karrasch
Sagt beim Schreiben, so was sei für die Katz. Und wirklich,
Er hatte recht.

6. Morgen werden wir mit Karrasch sprechen, so
Als hätte seine Mutlosigkeit
Die Gewalttätigen ermutigt.

7. Und wenn ein Abraumwagen morgen
Aus dem Gleis springt, und wir fluchen dabei und lachen,
Lacht er: den Plan
Bringt nichts aus dem Gleis!

8. Ist aber Lumumba kein Plan,
Den sich das Volk gab und also nichts
Aus dem Gleis werfen kann? Und kann geblendet werden
Was sehend geworden ist?

9. Die Kumpel, wenn sie aus dem weichen Schnee
Daheim sind von der Feier des Schichtrekords,
Werden den Wind kalt finden
Und die Schicht zu kurz heute.

In ihren Reaktionen plädierten die Leser generell für die eher konventionelle Schreibweise von Johannes Conrad und wandten sich in oft boshaften Sätzen gegen die „kalte, ja kratzbürstig und provokatorisch gegen ,Stimmungen‘ ausschlagende Lyrik Volker Brauns“.6 Die Leser konstatierten Einseitigkeit; einer der Briefschreiber behauptete in allem Ernst:

Volker Braun kann bestimmt gar nicht anders schreiben.7

In seinem Schlußwort zur Debatte sah sich Endler genötigt, die von ihm als innovativ eingeschätzte Lyrik Brauns erneut zu verteidigen:

Volker Braun kann (…), wenn auch nicht vollendet, vieles und sehr verschiedenes schreiben. Wir empfehlen die Lektüre der zwei Gedichte, die die NDL in der Nummer 2 abdruckte. Nach einem Vergleich wird man Braun als einen heftigen Experimentator einschätzen, der immer neue Wege sucht.8

Mit diesen Worten mißt Endler Braun die Bedeutung bei, der vier Jahre später – nach der Veröffentlichung des ersten Lyrikbandes, Provokation für mich (1965) – von einem großen Teil der Kritiker immer häufiger in aller Öffentlichkeit beigepflichtet wurde. Was aber die Bewertung des Innovativen der Schreibweise angeht, sitzt Braun nach wie vor zwischen zwei ideologischen Stühlen9 – die Trennungslinie zwischen Anerkennung und Ablehnung zieht sich quer durch die literaturwissenschaftlichen Lager aus Ost und West.
Seine Fürsprecher lobten Brauns lyrisches Frühwerk in den sechziger und siebziger Jahren vornehmlich wegen seiner Vorhut-Position in der „Literaturgesellschaft“ der DDR, eine Position, die auch in den achtziger Jahren noch Respekt erzwingt:

Braun verkörpert (…) sehr konzentriert auch schon rein äußerlich den Typ des jungen Intellektuellen, der in einer Mischung aus schüchterner Zurückhaltung und berechtigter Inanspruchnahme der in unserem Staat für die Jugend geschaffenen Rechte und Pflichten als Poet nicht nur für eine bestimmte Generation spricht, sondern diese Generation in seiner Auftritte auch vertritt.10

Sein erster Band, Provokation für mich, war ein Paukenschlag (…); da gab es Gedichte, die zogen daher wie Kolonnen zur Demonstration; da war Bilderfülle nicht voneinander auf der Flucht, sondern Dialektik wurde angestrengt, sie zu bändigen.11

Der nach Bernd Jentzsch jüngste dieser Gruppe, Volker Braun, gilt mit Recht geradezu als Inbegriff des neuen lyrischen Sprechens einer Generation, deren bewußtes Leben durchweg in der DDR sich vollzog. (…) Das Gegebene wird nicht ,dargestellt‘, sondern ,aufgebrochen‘, womit sich Braun erklärtermaßen von der ,bürgerlichen (1) Ästhetik einer Abbildfunktion von Kunst‘ abwendet.12

Brauns erster Band Provokation für mich (1965) war vor allem eine gesellschaftliche Provokation durch sein kraftgenialisches Insistieren auf einer Subjektivität, die sich als unwiderstehlicher kollektiver Impuls ausgab (…).13

Die Provokation galt ebenfalls der in manchem Gedicht direkt angesprochenen offiziellen, als starr und konservativ empfundenen Kulturpolitik, die in Brauns jugendlichem Pathos die Gefahr der Spaltung in der „Literaturgesellschaft“ zu hören glaubte. Sie fürchtete sich vor einem Generationskonflikt, wo doch selbst die ebenfalls jungen Freunde und Kollegen Brauns – das Vokabular der westlichen Jugendbewegungen imitierend – als „Ost-Beatnik“14 bezeichneten. Kurt Hager vermutete, daß Braun und seine aufständischen Komplizen wenig mit den revolutionären Traditionen der sozialistischen Dichtkunst im Sinn haben könnten, da sie nur bemüht seien, den alten Vater-Sohn-Konflikt anzuzetteln:

Bei einer Reihe der jungen Dichter finden wir eine künstliche Aufbauschung des Generationsproblems. Die Alten werden als ,zurückgeblieben‘ betrachtet. Man solle nur einmal die ,ungeduldigen‘ zornigen Jungen heranlassen (…) die alles ganz anders machen würden, wenn man sie ließe.15

Die Lektüre der Gedichte in Provokation für mich scheint zu bestätigen: Das Pathos in diesen Texten ist unmittelbar mit jugendlicher Vitalität und Veränderungswillen verbunden. Der Generationskonflikt rührt daher, daß Braun in seiner Pathetik gerade die Stimme der Väter des Marxismus übertrumpft und somit über den Schatten der „enkratischen Sprache“ springt. Aus dieser Diskrepanz heraus versucht er seine eigene (nicht weniger vom Marxismus gesteuerte) Stimme zu finden. So heißt es zum Beispiel im bereits klassisch gewordenen Gedicht „Kommt uns nicht mit Fertigem“:

Alles Alte prüft: her, Kontrollposten Jugend!16

Neue Richtungen, Veränderungsvorschläge an die Herrschenden, Verurteilung alles Alten und Starren (im „feindlichen“ und „eigenen“ Lager) sind in einer Vielzahl von mit rhetorischen Mitteln aufgeladenen Formeln und Losungen angesagt. Dabei zitiert und übertreibt der Redner jene Sätze von Kurt Hager:

Unsere Gedichte sollen uns Wiesen zeigen unter den Brückenbögen der Gedanken
Unsere Gedichte sollen die Träume der Nächte aufnehmen in die Wölbung des Himmels.
Unsere Gedichte sollen die Schauer der Angst von der Haut jagen.
Unsere Gedichte sollen die Brüste mit Sonne panzern.17

Bleibt ruhig, Bürger! Die Jugend gibt ihren Einstand:
Die Schornsteine stellen wir auf zwecks bester Akustik für Verse.
(…)
Literaturkritiker, spart die Analysen! Wir sind keine Lyriker mehr,
Wir sind Gedankengroßhändler, für uns ist der VEAB zuständig.
Generationsproblematiker: der Braun z.B
. (…)18

Brauns frühe Gedichte enthalten jene (selbst)ironischen Zutaten, die zusammen das Bild des „angry young man“ hergeben: Herumtreiberei, Aggressivität, Sex, Pop-Musik bzw. Jazz, ungenierte provokative Selbstdarstellung, daneben aber auch harte, fast selbstzerstörerische Arbeit am Aufbau seines Staates, welche den selbstzufriedenen Funktionären ein Beispiel sein sollte. Diese auf Aktualität zielenden Provokationen sind mit einer barocken „Sprachwut“ verbunden, die sich indessen nie verselbständigt, sondern abrupt durch das direkte Ansprechen unterbrochen wird („Bleibt ruhig, Bürger!“, „Literaturkritiker, spart die Analysen!“).
Der „angry young man“ tritt im Habitus des sozialistischen Rhetors (nach dem Vorbild von Majakowski) auf, operiert von der Tribüne aus, um ins von ihm als bewegbare Masse betrachtete Publikum einzugreifen. Braun überbietet bei der Mobilmachung seiner Leserschaft die Väter des DDR-Marxismus, die sich seiner Meinung nach mit der Stagnation abgefunden haben. Wir werden sehen, daß die Statuarik der Pose des mobilmachenden Rhetors von Braun nicht mehr durchgehalten werden kann und in Trümmer zerfällt. Im Schutt der alten Gestalt wird die Hinwendung zur Hermetik des modernen Gedichts immer deutlicher sichtbar.
Der Rhetor macht Gebrauch von den rhetorischen Figuren aus dem Arsenal sozialistischer (nicht-moderner) Lyrik, insbesondere aus dem lyrischen Werk von Majakowski und Jewtuschenko (den Braun als Nachdichter genauer kennengelernt hat). Vor allem die rhetorischen Figuren der Wiederholung, des Parallelismus, der Aufzählung und der Erläuterung zählen im Frühwerk Brauns zum Register seiner lyrischen Überredung.
Mit seinen aufpeitschenden Sprechgedichten stößt Braun in „Neuland“ vor, nämlich dort, wo er den Alleinvertretungsanspruch der jungen, ,neuen Lyrik‘ (auch über die Poesie der „Sächsichen Dichterschule“ hinaus) in der DDR verkündet. Er meint, daß die angestrebten Änderungen nicht ohne ihn vor sich gehen – eine Egozentrik, die sich der von Lenin 1905 vorgeschlagenen Selbstverleugnung beim Schreiben von Parteiliteratur widersetzt:

(…) sie darf überhaupt keine individuelle Angelegenheit sein, die von der allgemeinen proletarischen Sache unabhängig ist. (…) Die literarische Tätigkeit muß zu einem Teil der allgemeinen proletarischen Sache, zu einem ,Rädchen und Schräubchen‘ des einen einheitlichen großen sozialdemokratischen Mechanismus werden, der von dem ganzen politisch bewußten Vortrupp der ganzen Arbeiterklasse in Bewegung gesetzt wird.19

Braun oder das lyrische Ich Brauns stellt sich selbst als „Brigadier“ der „Dichterbrigade“ an die Spitze der Erneuerungen:

Ich vertrete diese Art der Fortbewegung aller
Künftigen Menschen
20

und

Der Ungeduldige bin ich in den Ungeduldigsten
Veränderlich bin ich unter den Veränderungen
21

Neu ist auch der Umgang mit dem bestehenden Formenarsenal: Braun adaptiert hier zwar den Majakowskischen Gestus des Marktschreiers („Ich postiere mich rufend auf den Märkten morgens“22) oder den Habitus des Tribünenredners, verläßt jedoch das für die fünfziger Jahre typische imitatorische Verhalten zum Oktober-Revolution-Poeten Majakowski.23 Braun vertritt vielmehr eine junge, vom Umbruchwillen bestimmte Lyrik in der DDR der sechziger Jahre.24 Und das von persönlichen Ambitionen zeugende Veränderungspotential schließt offensichtlich eine viel größere kulturpolitische Gefahr ein als die bloße Wiederholung schon gesprochener, aufpeitschender Verse.
Die Gefahr lauert paradoxerweise in dem, die Funktionäre überbietenden systemimmanenten Insistieren auf Fortschritt und Dynamik. Im Unterschied zu den anderen Autoren der „Sächsischen Dichterschule“ ist Brauns Metier die Überbietung eines Paradigmas des Prozesses, dem sich offiziell auch die „enkratische Sprache“ verschrieben hatte. Die Überbietung aber wird als Subversion abgewehrt, denn die Doktrin der Mobilmachung erschrickt dann, wenn sie beim Wort genommen wird. Prozessualität als Existenzform, wie sie in den Versen Brauns aufscheint, wurde als Angriff erkannt. Der Rhetor tritt hierbei gleichzeitig als Korrektor auf, der im operativen Gedicht seinem Ungenügen über das schon Erreichte, das Fertige und Bekannte Luft macht und die Stagnation wieder in Dynamik überführen will. Er entpuppt sich als Gegner der Wiederholung. Jene Obsession des Prozessualen wurde schon bald von den Kritikern entdeckt und als poetisches Merkmal der Gedichte charakterisiert („Für Braun ist die Welt im Prozeß“, schrieb Czechowski 196525), später von Braun selbst im Essay „Eine große Zeit für Kunst?“ expliziert – wieder spricht er im Namen anderer:

Die ,natürliche‘ Gesellschaft interessiert uns nicht als Ideal, sondern als Prozeß, der begonnen hat; in ihm oder nirgendwo ist zu finden, was über ihn hinausreicht. So bleibt nur eins für die Dichtung interessant: die wirkliche Bewegung.26

Braun vernichtet mit diesen Gedanken die statisch-affirmativen Momente der Redeweise vom „realexistierenden Sozialismus“. Realexistierend ist für ihn nur der Prozeß. Auf der anderen Seite weist sein Habitus als Rhetor darauf hin, daß er nicht vom Prozeß, sondern von der Stagnation im Realexistierenden ausgeht und es seiner Impulse von der Tribüne bedarf, um den Prozeß überhaupt in Gang zu setzen. Anschließend fragt sich Braun verständlicherweise:

Wie kommt das ins Gedicht?27

Seine Antwort nähert sich jenen theoretischen Ausführungen von Horst Redeker, denen wir in Kapitel I.1 begegnet sind.

Nicht dadurch, daß das gegenständliche Material als zufällige Häufung oder Reihung in eine übernommene, okkupierte Form gefüllt wird oder formlos bleibt. Die Gesetze der Bewegung der Wirklichkeit müssen Gesetze des strukturellen Aufbaus des Gedichts sein. Das Abbild muß sich die Dialektik des Gegenstandes als Form aneignen, um zum Gebilde zu werden.28

Somit wird die Poesie „ein langer Prozeß, und sie macht diesen Prozeß der Welt und sich selbst“.29
Auch die äußerste Konsequenz dieses Abbild-Gebilde-Theorems in sozialistischer Lyrik akzeptiert Braun, indem er nämlich die „Gesetze der Bewegung“ auch im eigenen Schaffen als fortwährende Korrekturarbeit durchführt. Der Widerwille gegen Wiederholung drückt sich im ständigen Neuansatz und in den Korrekturen der eigenen Gedichte aus. In ihrer aufschlußreichen Studie „Zur Lyrik Volker Brauns“ (1984) interpretieren Christine Cosentino und Wolfgang Ertl Brauns intensive Arbeit am Text und die darausfolgende Wandlung des poetischen Sprechens als Fortsetzung von Brechts Poetik:

Es entspricht der an Brecht geschulten Ästhetik Brauns, daß er nicht auf einmal gewonnenen Positionen stehenbleibt, sondern sein eigenes Werk selbst immer wieder kritischer Veränderung unterwirft.30

In ihrer Studie gehen Cosentino und Ertl ausführlich auf die Editionsprobleme der verschiedenen Lyrikbände ein, wobei es bei der ständigen Korrektur ihrer Meinung nach nicht so sehr um „einen grundsätzlichen Neuanfang, sondern vielmehr um Verfeinerung der poetischen Mittel“ geht.31 Trotzdem müssen sie zugeben, daß manche Textänderungen so radikal durchgeführt werden, daß die „verschiedenen Auflagen (…) zu unterschiedlichen Analysen führen“.32 Jede Neuauflage enthält fast immer sowohl neue Zusammenstellungen der Gedichte – oder es werden Texte gestrichen und neue hinzugefügt – als auch Textänderungen der aus der vorigen Auflage übernommenen Gedichte. Die Änderungen haben ideologische und poesietechnische Gründe.

KORREKTURARBEIT:
Oft ändert Braun bloß den Titel eines Gedichts, wie etwa im Fall des politisch umstrittenen Textes „Die Mauer“ bzw. „Die Grenze“. 1966 erschien „Die Mauer“ als erstes von „Fünf Gedichten auf Deutschland“ in der westberliner Zeitschrift Kursbuch.33 Unter gleichem Titel wurde das Gedicht (erst) in der zweiten Auflage des Bandes Wir und nicht sie (1970) veröffentlicht,34 wonach es von Christel und Walfried Hartinger in die 1972 herausgegebene Auswahlsammlung Gedichte aufgenommen wurde – jetzt aber unterm Titel „Die Grenze“.35 Als „Die Mauer“ erschien der Text dann wieder in der dritten Auflage der genannten Sammlung Gedichte (1979) und in dem im selben Jahr von Suhrkamp verlegten Auswahlband Gedichte.36 In dieser westdeutschen Ausgabe sind übrigens auch zwei Texte aufgenommen, die bisher nicht in der DDR erscheinen konnten: „Hinlängliche Erfahrung“, über die Schwierigkeiten beim Aufbau der jungen Sowjetunion unter Stalin, und „Der Müggelsee“, über die kulturpolitischen Konsequenzen der Ausbürgerung von Wolf Biermann im Jahre 1976.37
Interessanter sind die stilistischen Verschiebungen bei Braun, an denen im Laufe der Zeit der Weg vom Ausschweifend-Deklamatorischen zu einer direkt auf ein Aktionsfeld zielenden Form in seiner Schreibweise abzulesen ist. Manchmal sehen wir auch, wie ein neuer Text aus verschiedenen Fragmenten anderer Texte zusammengestellt wird.
Im Jahre 1963, auf dem Höhepunkt der sogenannten Lyrikwelle, hat Volker Braun während eines in der Ausgabe Auftakt 63. Gedichte mit Publikum38 dokumentierten Auftritts junger Lyriker u.a. das Gedicht „Provokation für mich“ vorgetragen. Der Text ist in der genannten Ausgabe typographisch so gestaltet, daß er an die Poeme und Sprach-Gedichte von Majakowski erinnert. Die erste Strophe lautet:

Genossen!
aaaaaaWir nennen uns:
aaaaaaaaaaaaaaaaaaapositive Dichter
Weil
aawir das Positive
aaaaaaaaaaaabesingen –
Die Postfrau, honorarschleppend, grüßt nicht freundlicher
Die Mädchen lieben uns und
aaaaaaaaaaaaaaaaaaloben uns nicht
Die Freunde loben uns, aber
aaaaaaaaaaaaaaaaalieben uns nicht
Man verweigert uns
aaaaaaaaaaaaaadas Honorar der Herzen

Im gleichnamigen, ersten Lyrikband ist „Provokation für mich“ nach Wortlaut unverändert übernommen, jedoch in formaler Hinsicht modifiziert. Typographisch ist der Text zu einem gängigen Dreistrophengedicht geglättet:

Genossen! Wir nennen uns: positive Dichter
Weil wir das Positive besingen –
Die Postfrau, honorarschleppend, grüßt nicht freundlicher
Die Mädchen lieben uns und loben uns nicht
Die Freunde loben uns, aber lieben uns nicht
Man verweigert uns das Honorar der Herzen39

Ergänzt wurde der Text durch das Motto „als im dritten Viertel des 20. Jahrhunderts die Gedichte entbehrlich wurden“, das Motto von Brechts „Lied der Lyriker“ paraphrasierend, welches heißt:

als im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts für Gedichte nichts mehr gezahlt wurde40

Die Nähe zu Brecht, welche mit einem Entfernen von den an Majakowski erinnernden Formelementen einher zu gehen scheint, wird aber erst in der vierten und fünften-Auflage von Provokation für mich und schon 1966 in der westdeutschen Ausgabe Vorläufiges offensichtlicher. Bei gleichem Inhalt wird die Sprache im Gedicht dürftiger, da die Strophen durch kürzere Verszeilen komprimiert werden. So heißt es jetzt in der ersten Strophe:

Genossen! ausdauernd
Preisen wir das Positive.
Die Postfrau grüßt nicht freundlicher.
Die Mädchen lieben uns und loben uns nicht.
Die Freunde loben uns, aber lieben uns nicht.
Man verweigert uns das Honorar der Herzen
.
41

Das Pathos läßt deutlich nach, der Verdichtungsprozeß scheint dazu in Gang gesetzt, das heftig erregte Sprechen gegen ein eher nüchternes Argumentieren einzutauschen. Diese Sprechweise sollte als neues Mittel der Überzeugung der Massen versucht werden. In der ersten Auflage hieß es am Schluß des Gedichts noch:

Aber die Postfrau trägt nicht nur Ruhmeskantaten aus
Und die Mädchen lieben nicht jeden Nachtgast:
Sie stoßen die faulen Penner vom Bett
Die Freunde loben nicht tollkühn wie wir:
Sie preisen den Plan, indem sie ihn ändern –
Das nenn ich: positiv sein! Das Positive verbessern!
Wir aber, in unserer Dichterbrigade
Rühmen nur, bessern nichts, sind denkfaul, entbehrlich
Wir nehmen uns selbst nicht für voll
Uns nenn ich noch: negative Dichter

Verdichtet lautet die Strophe in der fünften Auflage von Provokation für mich:

Aber die Postfrau trägt nicht nur Ruhmeskantaten aus.
Die Mädchen lieben nicht, der nicht begehrt.
Die Freunde loben nicht tollkühn wie wir:
Sie preisen den Plan, indem sie ihn ändern.
Wir aber rühmen nur, bessern nichts, sind entbehrlich
Wir nehmen uns selbst nicht für voll
Uns nenn ich noch: negative Dichter.

Beim Vergleich der verschiedenen Texteditionen ist durchweg der Versuch der Komprimierung, also die Suche nach Direktheit der Aussage im Gedicht zu konstatieren. So wenn die Verse „Aus dem Sand, gehn die Gedanken vor / Sorgfalt ist jetzt das Wort, nicht Einfalt / Plane und leite, Trust, sonst bist du pleite / Schneller (…)“ aus dem 1967 in der Zeitschrift Forum veröffentlichten Gedicht „Der Bauplatz“ zum kurzen Satz „Gehn die Gedanken vor“ unter gleichem Titel im Band Wir und nicht sie reduziert werden.42 Oder wenn es in „Lagebericht“ in der Anthologie Saison für Lyrik (1968) heißt:

In den Hallen erhöhn die Brigaden die Drehzahl,
der Plan
Prüft ihre Kraft
(…)

und diese Verse in Wir und nicht sie verkürzt werden zu:

In den Hallen prüft der Plan die Kraft
der Brigaden
(…)
43

Beim Zusammenstellen neuer Texte aus bestehenden Textfragmenten handelt es sich eigentlich um einen, besonderen Fall des Selbstzitats, eine altbewährte Technik, die Braun häufig anwendet.44 Ein Musterbeispiel einer solchen Transformation: Das Gedicht „Es soll Platz sein für tausend Träume“ in der Zeitschrift Neue Deutsche Literatur (11/1962) ist die „Basis“ für die beiden Gedichte „Epitaph auf eine alte Kunst“ und „Provokation für A.P.“ im Band Provokation für mich. Aus der siebten und achten Strophe von „Es soll Platz sein für tausend Träume“ werden Verse herausgenommen, die, zwar nicht wortwörtlich, die letzte Strophe von „Provokation für A.P.“ bilden. Hier ein Teil der Transformation:

7
So rasend bin ich vor Liebe!
Der Ungeduldigste bin ich unter den Ungeduldigen
Und der Veränderlichste unter allen Veränderlichen

Ich ergreife Partei für dich
Wenn du veränderlich bist
In den großen Veränderungen dieses Landes

8
Jedem Hauch deiner Liebe sind meine Lippen offen
Keinen Hauch deiner Liebe sollst du in dich verschließen

Und ich weiß: ich bin deine Liebe wert
Und ich weiß: du bringst sie mir selbst entgegen
Und keinen Schritt breit nehm ich dir ab
45

4
Der Ungeduldige bin ich unter den Ungeduldigsten
Veränderlich bin ich in den Veränderungen

Und ich weiß: ich bin deine Liebe wert
Und ich weiß: du bringst sie mir selbst entgegen
Wenn du veränderlich bist mit deinem Land
Und keinen Schritt breit nehm ich dir ab46

In der Gestalt des Korrektors bleibt Braun Rhetor, denn wo Textänderungen und neue Zusammenstellungen durchgeführt werden, ist er immer auch auf der Suche nach mobilmachenden Formeln. Den Vers „Der Ungeduldigste bin ich unter den Ungeduldigen“ zum Beispiel steigert er nach der Korrektur zu „Der Ungeduldige bin ich unter den Ungeduldigsten“. Wie sich diese Texte im Laufe der Zeit auch ändern mögen, der Anspruch auf das Politisch-Operative bleibt oder verstärkt sich sogar.47 Die Sprache wird von Braun als „Rohstoff“ oder Energiequelle einer rhetorischen „Stoßkraft“ behandelt, die es „auszureizen“ gilt. Innerhalb der „Sächsischen Dichterschule“ ist Braun derjenige, der die letzten Möglichkeiten des Engagements im Rahmen der Großmetaphern des Marxismus in der ,neuen Lyrik‘ ausschöpfen will ein selbstmörderisches Unternehmen, wie wir später sehen werden.

2. Der Tod des Rhetors

Vorsätzliche Wiederholung von Inhalten und Techniken der Notierungen allein ergibt nur Traditionalismus; zu wiederholen ist aber das Verhältnis zur Wirklichkeit, (…) und die Gesellschaft ist es, die das Verhältnis als immer neues verlangt, den Kommunikationsprozeß revolutioniert.48

Der gesellschaftliche Erneuerungsdrang geht bei Braun aber immer mit einer „geistigen Partnerschaft“, einer vorsätzlichen „Wiederholung von Inhalten und Techniken“, mehr oder weniger modifiziert, einher – erst so revolutioniert sich der Kommunikationsprozeß in seinen Gedichten. Beim Mobilmachen der Leser steht Braun in einem fortwährenden Dialog mit dem kulturellen Erbe, mit Goethe, Klopstock, Georg Weerth, Majakowski, Brecht u.a., eignet er sich den „Außenseiter“ Hölderlin an. Darin unterscheidet er sich nicht von anderen der „Sächsischen Dichterschule“. Was ihn unterscheidet, ist, daß er das kulturelle Erbe im Raum der Bewegungsmetaphern des Marxismus einbezieht und so dieses Erbe mit dem Schatten des Partei-Jargons mischt. Er spricht gleichsam mit den Stimmbändern der Funktionäre, bis diese Stimme versagt.
In seinem ersten Lyrikband nutzte Braun die fremde lyrische Rede dazu, die Lautstärke seiner „forschen, oft überzogenen Sprachgeste“49 zu vergrößern. Insbesondere der „Marktschreier“ Majakowski funkte zwischen den Zeilen und diente als Sprachrohr, besser: Megaphon. In den beiden darauf folgenden Bänden, Wir und nicht sie (1970) und Gegen die symmetrische Welt (1974), eignet sich der junge Lyriker Klopstock, Hölderlin und immer wieder Goethe als Verstärker seines eigenen Sprachduktus an. Die daraus entstehenden intertextuellen Beziehungen befinden sich nicht auf der Ebene des „Grüssens“50 oder der bloßen Namensnennung, sondern die im Gedicht anwesende Synchronität verschiedener Reden sollte vielmehr zur Verstärkung oder Radikalisierung der politischen Aussagekraft beitragen. So zum Beispiel ganz offensichtlich im Gedicht „Der Ostermarsch“ aus Wir und nicht sie.51

Am Rande der Stadt
Wo die Garagen gedeihn
Im Tale grünet Hoffnungsglück, dort
Draußen dürfen sie sein, vom Dunst
Der Gärten verhängt, wo Zwerge wachen
Über den Frieden zum Schein
Eine Bannmeile weg von den Kirchen
Und Plätzen, gedrängt
Aus dem Blick der Bürger
Jeder sonnt sich heute so gern
In den Nebenstraßen (…)

Brauns Beobachtungen einer der seit 1961 alljährlich stattfindenden Friedensdemonstrationen zu Ostern in der Bundesrepublik und Sätze aus der Szene „Vor dem Tor“ aus dem ersten Teil von Goethes Tragödie Faust, kursiv gedruckt, sind synchron geschaltet. Es kollidieren zwei Variationen des Frühlingsgefühls. Goethes Oster-Szene fängt mit erlösendem Kirchenglockengeläut an52 wonach sich die Stadtbewohner auf den Wiesen vor der Stadtmauer versammeln und sich der Sonne erfreuen. An dem neuen Lebensgefühl, dem „Hoffnungsglück“, ist jeder beteiligt. Der von Braun beschriebene politische Ostermarsch hält sich, erzwungenermaßen, ebenfalls an der Peripherie der Stadt auf:

Eine Bannmeile weg von den Kirchen
Und Plätzen
(…)

Der Wille zum Frieden erreicht die Stadtbewohner nicht, denn der Marsch wird vom Arm des Gesetzes umgeleitet: „Hier bleiben die Werte stabil“, heißt es weiter im Text. Es herrscht die Spaltung der Bevölkerung in Sachen Friedensbewegung, während der Rhetor, die Masse von der sozialistischen Friedenspolitik in der DDR überzeugen will.
Goethes Text fungiert im Gedicht als „Kontrastfolie“53 zur politischen Zerrissenheit des Volks im kapitalistischen Westen. Durchaus noch im Sinne seines Staates ist der Friedensgedanken in der DDR zuhaus, er soll über die Grenzen exportiert werden. Goethe illustriert als Kontrast das Scheitern des Exports.
Dialektik und Dialogizität liegen in Brauns Lyrik sehr dicht beieinander. Der Dialog zwischen Braun und Goethe, ein Beispiel vieler Gespräche unter Kollegen, kann als ein Austausch von Thesen und Antithesen gelesen werden, wobei die Rollen der Argumentierenden deutlich (auch typographisch) verteilt sind, als würde die Debatte auf der Bühne ausgetragen. Gedichte schreiben, so Braun 1972 in einem Interview mit Joachim Walther, sei wie das Schreiben von Brechtschen Lehrstücken: Auch da komme es darauf an, die Widersprüche des Vorgangs in der ihnen natürlichsten Weise (in einer face-to-face-Kommunikation) zu fassen und nicht irgendwelche verschwommenen und durcheinanderfließenden Eindrücke zu bringen.54 Um dem Verschwommenen und Durcheinanderfließenden vorzubeugen, verläßt sich Braun in seinen ab 1970 erschienenen Lyrikbänden immer häufiger auf eine mehr oder weniger strenge Konstruktion der Rede und Widerrede, eine direkte Konfrontation von mindestens zwei, synchron (d.h. gleichzeitig, aber nicht unbedingt gleichwertig) gestalteten Stimmen im Text. Im marxistisch-leninistischen Vokabular: den dialektischen Vorgang, in dem Widersprüche im dreifachen (Hegelschen) Sinne aufgehoben werden. Czechowski beschreibt diesen Vorgang 1973 in seinem Essay zu Brauns Lyrik folgendermaßen:

Wie sich [zum Beispiel; d. Verf.] aus fünf dreizeiligen Strophen in Bewegung und Gegenbewegung eine Idee herausarbeitet, ist nach wie vor für Brauns Poetik charakteristisch.55

Auf kleinstem Raum, im Gedicht, findet ein Bühnendialog als Versuch statt, Erkenntnisse zu erweitern. Im selben Jahr weist Czechowski in der Zeitschrift Weimarer Beiträge nochmals auf das theatralische Element in Brauns Lyrik hin:

In ihr finden sich werkkonstituierende Elemente, die auch für seine Dramatik wichtig sind: die dialektische Geste, seine gesellschaftlichen Ansprüche, sein gesellschaftlich-philosophisches Engagement.56

Das Gedicht als eine Art Montage-Bau des Dialogs; die werkkonstituierenden Bau-Elemente sind dabei „Rohstoffe“, die immer zur Verfügung stehen, beliebig verwendbar.57 Auf diese Weise bildet sich die „Architektonik des Gedichts“, welche als das Endprodukt eines Produktionsverfahrens zu beschreiben ist. Obwohl in den späteren Bänden die Stimme Majakowskis immer leiser wird, scheint Brauns lyrisches Produktionsverfahren der Poetik der „Architektonik des Gedichts“ in Majakowskis 1926 verfaßtem Essay „Wie macht man Verse?“ zu ähneln.58 Die Dichtung als Produktion wird in diesem Essay als ein „gesellschaftlicher Auftrag“ sozialistischer Art, analog zur Planerfüllung im Wohnungsbau, beschrieben. Majakowski verwendet Metaphern aus dem Bau- und Industriewesen, spricht von „Zielsetzung“, „Rohstoff“ (als „Beständige Auffüllung der Behältnisse und Speicher Ihres Schädels mit notwendigen, ausdrucksvollen, seltenen, erfundenen, erneuerten, frisch erzeugten und allerlei anderen Wörtern“), von „Betriebseinrichtung und Produktionswerkzeugen“ (so wie „ein Abonnement bei einem Zeitungsausschnittsbüro zum Zweck der Materialversorgung“) und letztenendes von „Verfahrensweisen“ (d.h. „Griffe und Kniffe bei der Bearbeitung des Wortmaterials“).59 Dieses Verfahren ähnelt übrigens einer Lehre der antiken Rhetorik für das Herstellen und den Vortrag wirkungsvoller Reden.60 Welche Konstruktion sich bei diesem Verfahren ergibt, hängt von den individuellen Fähigkeiten des jeweiligen Dichters ab – er muß dafür sorgen, daß die „Halbfabrikate“ in Endprodukte umgesetzt werden.

Viele Gedichte Brauns, die nach dem Schema der Rede und Widerrede konstruiert sind, folgen dem Vorbild des in Theaterstücken und später auch in Prosa praktizierten „Hinze-Kunze-Dialogs“.61 Zwar tauchen die Namen Hinze und Kunze in keinem Gedicht auf, trotzdem sind sie als Sinnbild zweier entgegengesetzter, jedoch leicht zu vertauschender Oberzeugungen anwesend – im einzelnen Text oder in einem ganzen Band. Das von „Hinze und Kunze“ vertretene Konstrukt der Gleichzeitigkeit des Ungleichartigen finden wir zum Beispiel schon als Vorschlag in dem Reiner Kunze gewidmeten Gedicht „R“:

Und wir wollten den Schlag der Hämmer nur hören und nicht
den Herzschlag
Oder wir wollten, daß beides synchron erschalle62

Oder, auf sprachlich-formaler Ebene, im Gedicht „Nachts, fern vom AS 1120“, in dem der Fensterblick der Romantik auf expressionistisches Vokabular trifft:

Die Nacht hängt ihre schlaffen Arme ins Fenster
Die Stadt brummt unter mir wie ein Kompressor
63

In der dritten Strophe des Textes „Bleibendes“ können zwei unterschiedliche Gedankengänge in bezug auf den Aufbau der DDR simultan gelesen werden, ohne daß die daraus entstehenden Widersprüche miteinander versöhnt werden – die Komplexität der Übergangsphase der noch jungen DDR (wie offiziell lamentiert wurde) scheint damit realistisch dargestellt:

Wir sagen: die Zeit ist da! Wir sagen: sie beginnt erst.
Wir versprechen uns nicht goldne Berge. Wir versprechen uns goldne Berge.
Wir richten uns häuslich ein, auf dem Sprungbrett, das federnd bebt
Wir kauern im Startloch, jubelnd wie hinter dem Ziel
Wir sagen: so bleibt es. Wir sagen: nichts bleibt
64

Die synchrone Gestaltung der sich ausschließenden Aussagen in „Bleibendes“ bedeutet nicht unbedingt eine von Braun angestrebte Radikalisierung des Kommunikationsprozesses. Es bleibt ungewiß, ob das „Wir“ im Gedicht eine Gruppe oder zwei verschiedene miteinander in Dialog stehende Gruppierungen betrifft, ob wir von Redevielfalt oder von schwankenden Gedankengängen einer Person, vom Kollektiv oder von Einzelnen ausgehen müssen. Wenn letzteres zutrifft, ist des Rhetors Auftrag gescheitert, denn so ergibt sich keine definitive, operativ zu wendende politische Stellungnahme. So erscheinen denn auch öfter Bilder des Schwankens in Texten von Braun, wo Widersprüche nicht parallel geschaltet, sondern gemischt werden, analog zu den Versen aus dem Gedicht „In der Bar“:

Und trinke Whisky und Wodka
Gemixt, diesen alten Traum
65

Die Getränke verlieren ihren ursprünglichen Geschmack und Reiz.
Das auffallendste Beispiel, einer solchen Vermischung widersprüchlicher Gedanken vorzubeugen, ist das im Band Training des aufrechten Gangs (1979) vorgeführte Paar-Gedicht. In einer Art Dialog zueinander stehen die Paar-Gedichte „Zu Hermlin, Die einen und die anderen“ und „Zu Brecht, Die Wahrheit einigt“, „Prozeß Galilei“ und „Bruno“, „Der Teutoburger Wald“ und „Das Forum“, „Machu Picchu“ und „Vom Besteigen hoher Berge (Nach Lenin)“, „Richtplatz bei Mühlhausen“ und „Ist es zu früh. Ist es zu spät (Für Thomas Müntzer)“.66 Nach dem Motto „Es genügt nicht die einfache Wahrheit“ versucht der politische Dichter Braun von verschiedenen Perspektiven aus bzw. verschiedene historische Schauplätze betretend, über die Grenzen von Zeit und Raum hinweg, Standpunkte zu ermitteln, die Wahrheit vermitteln könnten. Wahrheitssuche scheint nur noch über den langen Weg der historischen Wahrheitsvermittlung zustande zu kommen, die sich – zum Beispiel zwischen den im Fall von Galileo Galilei und Giordano Bruno beiden Extremen Verrätertum und Märtyrertum abspielt.
Braun tastet in diesem Band letztlich bloß noch nach Orientierungen, bleibt als Rhetor auf der Strecke, da die Richtungen sich verzweigen und nicht mehr vereinen lassen. Er kündigt den Tod des Rhetors an. Im Eröffnungsgedicht „Statut meiner Dauer“ ist es angedeutet:

Nicht Einheit und Reinheit findet ihr bei mir
Sondern die Gemeinsamkeit
Von Wasser und Schmutz
.67

Dieses an moderne (u.a. von Michael Hamburger beschriebene) Poetiken erinnernde „statement“ wird mit einer strengen Komposition der einzelnen Texte untereinander konfrontiert, damit sich die „Gemeinsamkeit / Von Wasser und Schmutz“ nicht in trübes Schmutzwasser verwandelt, analog zum Gemisch von Whisky und Wodka. Diese Gefahr wird jetzt in der Konstruktionswut von einer anderen überschattet:

Die wütenden Konstruktionen, in denen ich keuchend hänge.68

In und zwischen den Gedichten aus Training des aufrechten Gangs reduziert sich Braun zum Berichterstatter von Geschichtlichem oder, wenn als handelndes Subjekt noch anwesend, als chronischer Zweifler. Der Rhetor steigt von seiner Tribüne, hebt die Distanz zwischen sich und seiner heterogenen Hörerschaft auf und verringert somit den ausladenden Gestus, der mit öffentlichem Resonanzraum rechnete.69
Eingedenk der Sätze aus dem „Lebenswandel Volker Brauns“, dem Schlußgedicht des vorhergehenden Bandes Gegen die symmetrische Welt, in dem Braun sich „aus vieler Geschlechter Stoff“ gemodelt sah, resümierte er immerhin:

Mit gemischten Gefühlen harre ich meiner Entschlüsse.70

Im darauffolgenden Band sehen wir aber den Sprung in die Skepsis und es wird deutlich, daß mit den gemischten Gefühlen, die er als Risse in seiner eigenen Identität erfährt, der Rhetor in Braun stirbt:

Und ich bin ein beliebiger Mensch und nicht zwei
Und dies zerreißt mich
Und das ist mein Fehler
.
71

Zweifel und Irritation an gesellschaftlichen Ungereimtheiten werden angesagt und als tödlich erfahren. Sicherheit könnte dann vielleicht noch von der, von den einzelnen historischen Figuren oder geschichtlichen Gegebenheiten im Gedicht repräsentierten, Stabilität ausgehen. Aber auch im einzelnen Gedicht wird das Fehlen der vereinenden, vorwärtszeigenden Kraft zum Thema, etwa in „Das Forum“, wo die Aussagekraft im simultantechnisch montierten Bilder- und Geschichtschaos zu einzelnen Partikeln verpulvert und den Abwasserkanal heruntergespült wird. Das Gedicht zeigt, wie der Habitus der Rhetorfigur in Verfall gerät.72

Das war der Mittelpunkt der Welt. Ein Sumpf
Vorher und ein Kuhfeld nachher
Ich stand auf dem Geröll / dem Rednerpult
Das breit war wie ein Haus, und sah hinab.
Was übern Boden ragte war ihm gleich
Torso aus Dreck und Säulen, numeriert
Die Reste nach dem Unfall, leichenhaft
Der Marmor aus dem Gras. Ungetrübt
Der Himmel drüber blau brutal
Ich hob den Arm vors Aug / der Konsul, als er Sieg! schrie
Da hörte ich das Dröhnen. Schwarz der Platz
Von Touristen / Römern, starrend auf
Die Schiffsschnäbel, Kriegsbeute, ihren Anteil
An Korn eintreibend mit dem Beifall. Die freien
Sozusagen, Bürger, mit dem Geschwafel
Auf dem Forum täglich eine Macht
Bis Julius Cäsar / ich, zum Gott geworden
Aus zu großem Talent, alles zubaute
Mit Monumenten, daß keiner mehr treten
Konnte! Da sah es endlich schön aus. Er / ich
Auf der Rostra stand noch hundert Jahre
Oder vierhundert, weil man dauern kann
Solche Zeiträume, bis man gehört wird
Oder sich begreift in dieser Welt
Krieg / Brand / Arbeit / Tod / Geschwätz:
Dann die Wanderung der Völker blutig
Durch dies Straße / diesen Trampelpfad
Vandalen / Touristen, bis auf den Grundstein
Geschleift Cäsars Tempel, mit untern
Füßen zogs die Marmorplatten weg
Barbaren / Barberinis schleppten des
Senats, die Arschlöcher, Türen in die Kirche
Aufbau gleich Abbau, Häuser baun Ruinen
Touristen / Römer / Kühe auf den Wiesen
Sah ich Gras fressen, jedenfalls
Herden, was man oft vorzugsweise
Freiheit des Volks nennt. In der Idylle
Immer noch Worte in den Lüften
Doppelt / fremd / neu, keimfreies Echo
Die Franzosen in der alten Maske
Als neue Römer frei gleich brüderlich
Pochend auf Illusionen / meinen armen
Kopf, sich / nicht mich täuschend über sich
Die Republik der Tugend, bis ihr Tempel /
Ihre Börse kracht, etc.:
Ich Römer / Bourgeois / Arbeiterundbauer
Auf meinem Sockel, der aus Trümmer starrte
Der Zukunft zugewandt, in meiner Toga
Praetor und Gladiator eine Masse
In meinem Fleisch zerfleischt der Sieger strahlend
In welchen Sieg wieder freigleichbrü
Die Luft voll toter Bilder. Aus den Ritzen
Jammer Gelächter, so daß ich überhörte
Die Leere rings: das Tor war längst geschlossen.
Der einzige Mensch ich auf dem alten Platz
Ich löste all die Masken vom Gesicht
Mein Schädel blutig grau, zerbrechliches
Gehäus, die Augen lidlos offen ganz.
Einzigste Gegend von der Welt: der Steinbruch
Das Alte / Neue in fester Umarmung
Der Lebende voll Toten tötend, ich
Meinen Tod im Leben. Unten die
Kloake, die den Sumpf abzog, Gewölbe
Hinab zum Tiber, aber die Göttin
Venus cloacina ging längst in der
Die sie schützte, Jauche baden (sic!)
Funktionierte noch

Das lange Gedicht, das Eindrücke während eines Aufenthalts in Rom vermittelt, enthält so viele Anspielungen und Zitate, daß es eigentlich nicht ohne das Heranziehen der am Schluß des Lyrikbandes aufgenommenen Anmerkungen gelesen werden kann. Die Stimme des wissenschaftlichen Kommentars schaltet sich zwecks besseren Textverständnisses ein.

Das Forum

Rostra: Rednerbühne auf dem Forum Romanum, von Meanius mit Schiffsschnäbeln (rostrae) geschmückt, die in Antium erbeutet worden waren. Barberinis: Carlo Maffeo Barberini bestieg als Urban VIII. 1613 den päpstlichen Stuhl; von ihm heißt es: „Quod non fecerunt barbari, fecerunt Barberini“. Die Bronzetür der Kurie, des Sitzes des römischen Senats, ließ Papst Alexander VII. an das Hauptportal der Basilika San Giovanni in Laterano montieren. Was man oft vorzugsweise Freiheit des Volkes nennt: vgl. Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, dritter Teil. Der Zukunft zugewandt: aus der Nationalhymne der DDR, von Becher, 1949. Die Leere rings: ich hielt mich versehentlich über die Öffnungszeit hinaus in dem Areal auf. Einzigste Gegend von der Welt: nannte Goethe das Forum Romanum in der Italienischen Reise. Zum Gedichtschluß vgl. Goethes Verse: „Euer Götter alt Gemenge, / Lasst es hin, es ist vorbei. / Niemand will euch mehr verstehen“ (Faust. Der Tragödie zweiter Teil, III).73

Hinzuzufügen wäre noch und da brauchen die Anmerkungen noch zusätzliche Erläuterungen –, daß das Forum Romanum seit dem 4. Jahrhundert vor Christus sowohl politisches als auch wirtschaftliches Zentrum Roms war, bis es im Mittelalter zur Campe vaccino (Viehweide) degradiert wurde.74 Nach dem Vorbild der griechischen Agora war das Forum der Mittelpunkt Roms, Rom wiederum wurde Jahrhundertelang als Mittelpunkt der Welt gesehen – mitten im Forum Romanum nun steht Volker Braun auf der Rednerbühne: wie es sich für einen Rhetor ziemt. Auf der Suche nach der ersehnten Stabilität sieht er sich zwischen Totem. Er atmet die „Luft voller toten Bilder“ aus Geschichte und Gegenwart, die wie Ausschnitte aus unterschiedlichen Filmen vor seinen Augen und denen der Leser vorbeiziehen. Durch die zahllosen Zeit- und Raumverschiebungen wird der Leser vom antiken Rom in die Zeit der Renaissance, von der ersten französischen Republik über Goethe, Hegel und Johannes R. Becher in den Arbeiter- und Bauern-Staat DDR versetzt, bewegt er sich einmal im Machtzentrum des römischen Imperiums, ein andermal in einer touristischen Attraktion der gegenwärtigen Hauptstadt Italiens. Braun versucht, im Gedankenspiel die Gestalt der verschiedenen historischen gesellschaftlichen Klassen anzunehmen, die sich von den Herrschern lenken ließen, welche versuchten, die Welt zu gestalten: „Ich Römer / Bourgeois / ArbeiterundBauer“. Gefangen im Areal (lese auch: A-real), im Museum ruinierter Versatzstücke aus verschiedenen Epochen, welche – dem Plan des Forum Romanum betrachtend75 – asymmetrisch gestaltet sind, fehlt dem Rhetor jedes Indiz der ehemals vorhandenen Homogenität:

Das war der Mittelpunkt der Welt76

Er ist außerstande, die Risse zwischen den einzelnen Ausschnitten aus der Geschichte zusammenzukleben (vergebliche Suche nach dem „Kitt“), wird bei dem Versuch der Aneignung des Vergangenen zerrissen:

In meinem Fleisch zerfleischt der Sieger strahlend

Bei den Metamorphosen erfährt er die schicksalhafte Wiederholung der blutigen Geschichte, die statt der Erneuerungen und lehrreicher Beispiele nur einen Steinbruch hinterläßt. Das sich herausbildende Neue, zum Beispiel während der französischen Revolution, stößt fortwährend gegen die steinernen Hindernisse:

freigleichbrü

Letztendlich gleicht auch Braun sich der Geschichte und ihren Schauplätzen an: Hinter seinen Masken verbirgt sich nichts als ein lebloses, steinernes Haupt einer antiken Plastik:

Mein Schädel blutig grau, zerbrechliches
Gehäuse, die Augen lidlos offen ganz.

Ein Haupt, das auf den im sechsten Vers angesprochenen „Torso aus Dreck und Säulen“ passen würde. Der historischen Ruine angeglichen, hat sich der bewegliche Rhetor der Provokationen langsam in eine unbewegliche, brüchige antike Statue transformiert, in ein von anderen konstruiertes und zur Schau gestelltes Gebilde.
Dieses Gefangensein in äußeren (geschichtlichen, politischen oder sonstigen) Sachzwängen – dem „Winter der Strukturen“ – ist das Thema weiterer Gedichte in Training des aufrechten Gangs, etwa in „Larvenzustand“ und „Höhlengleichnis“, in denen gleichzeitig Ansätze neuer Selbstbehauptung des aktiven und geschichtsregulierenden Menschen angesagt werden, die aber nur langsam und knirschend vor sich gehen:
Darüber begannen wieder Jahrhunderte zu vergehen voll neuem Schutt, geplanten Kosten, Kunstersatz und normativem Gespeichel. Aber in dieser Zeit begann ein neues, härteres Training, des schmerzhaften und wunderbaren aufrechten Gangs.77

3. Suche nach der Form des Gedichts

Volker Braun hat von 1960 bis 1964 Philosophie an der Leipziger Karl-Marx-Universität studiert. Der Gewinn dieses Studiums für seine literarische Arbeit, so Christel und Walfried Hartinger in ihrer 1972 erschienenen Monographie, war nicht bloß ein neuer, „philosophischer“ Stoff, sondern „die Übung in einer philosophischen Methode, der dialektischen, materialistischen: Sie hinterließ ihre Spuren in der Kompositionsweise, der Struktur der Dichtungen, in der bewußten und kontrollierten Haltungen des lyrischen Ichs“.78 Was die Struktur der Texte betrifft, haben wir die bewußte Hinwendung zur Dialogizität – Kennzeichen der Lyrik der „Sächsischen Dichterschule“ –, in Verbindung mit der Lust am Dialektischen beobachtet. Die bühnenähnliche Dialogstruktur („Hinze-Kunze-Dialog“) resultiert aus dem Willen, der Deklamation eine Tribüne für mehr als einen Redner und einen Resonanzraum für verschiedene Stimmen zu konstruieren und damit in die Widersprüche in den Köpfen seines Publikums einzugreifen. Es wurde allerdings auch deutlich, daß eine anscheinend notwendige Verfeinerung der textuellen Komposition mit einem Schwinden des Politischen-Vitalistischen einherging.
Im folgenden wollen wir versuchen, skizzenartig die Kompositionsänderungen zur „Rettung“ des Kommunikationsprozesses als politisch-operatives Mittel in den vier hier besprochenen Lyrikbänden von Braun zu überprüfen. „Der Dichter sucht verzweifelt nach der Form für sein Gedicht“, schreibt Braun im Text „Beschreibung von Paris“;79 bei dieser Suche büßt er allerdings viel Energie ein, die er als Subjekt im Gedicht in die Annäherung an die Leser investiert hat. Wir halten uns bei der kurzen Übersicht dieser Verfallsgeschichte an die von Braun selbst benutzte Metaphorik des Krafteinsatzes und des Energieverbrauchs des Rhetors – sie mag als Indiz einer Wandlung im lyrischen Œuvre gelten.

ENERGIE-BÜNDEL:

Als Gegner der Wiederholung läßt Braun keinen Zweifel über seine politischen Absichten bestehen: Die DDR hat sich als Beispiel der sozialistischen Demokratie zu entwickeln. Die meisten seiner literarischen und nicht-literarischen Ausführungen kreisen um diesen Gedanken.80 Energisch und vor allem sehr direkt verkündet Braun in Provokation für mich vorerst seinen Veränderungswillen. Die Gedichte sind „Waffen im politischen Kampf“:

Für dein belagertes Herz
Schieße ich meine Verse ab aus dem Dickicht der Gedanken
Von der schwer bedienbaren Armbrust Gedicht
.81

Braun inszeniert sich in seinen frühen Versen als Subjekt, das vor Energie birst: Er kalkt sein Zimmer (das er verläßt), baut Schornsteine („zwecks bester Akustik für Verse“) und träumt sogar nachts vom Baukran, in dem er tagsüber fröhlich arbeitet. Die Vitalität läßt er sich von niemanden rauben, denn darin stecke die Energie der Erneuerung des Alten:

Deshalb akzeptiere ich
Einmal nicht, was ihr sagt, und versteife mich und höre
Da nicht auf euch
.82

ENERGIE-VERWENDUNG:
Ausschließlich ungehorsam und provokativ möchte Braun in seinen Gedichten des Bandes Wir und nicht sie nicht mehr sein. Das auch darin vorhandene Energie-Bündel findet eine direkte gesellschaftlich-politische Verwendung: Die angestrebte sozialistische Demokratie wird zum politischen Programm – im Kampf gegen die, von der Bundesrepublik vertretenen, „feindlichen“ Ideologien. Im  Zusammenstoß zweier ideologischer Konzepte (dargestellt vom „Wir“ und „Sie“) entzünden sich Vorschläge zu politischen Reformen in der DDR, unter dem Motto:

Wir arbeiten uns hinüber in die freie Gesellschaft83

Die neue Komposition der Konfrontation in diesem Band sollte Bewegungen zielgerichtet in Gang setzen.

Du bist nicht nur gut für die Drehbank, den Dumper
Den Platzkartenschalter: dein Name ist nötig
Auf den Dekreten, deine Stimme erst
Leiht den Gesetzen Kraft. (…)
         Wer wenn nicht du
Der das Öl kippt ins Getriebe und karrt
Und Gas kippt, reinigt vom Unrat
Die Maschine des Staats? (…)[footnote]Volker Braun: „Regierungserlaß“. In: ebd., S.17

Braun widerspricht den nonkonformistischen Versen von Günter Eich im anderen Staat („Seid unbequem, seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt“). Ebenso sind diese Gedichtzeilen Gegentöne zu Enzensbergers „middle class blues“, in dem die Bürger des kapitalistischen Deutschlands als Resignierte geschildert werden.84 Das Karren und Kippen deutet eher auf eine gezielte, dem Staat dienende Arbeit; auffallend ist weiter die Vielzahl der Wege, Pfade, Flüsse und Öffnungen über bzw. durch welche der durch den genannten Zusammenstoß ideologischer Widersprüche energische Tatendrang rast:

Bis andre Energien freiliegen, größre, in eine andere Landschaft.85

ENERGIE-VERSCHWENDUNG:
Den „Bereich der Deklamation“ hinter sich lassend und individuelle Entfaltung im sozialistischen Staat anstrebend, gerät Braun im Band Gegen die symmetrische Welt in das Dilemma des politischen Gedichts. Die „realexistierenden Verhältnisse“ versucht Braun jetzt mit der Sinnlichkeit, mit Freude und Lebenslust zu parieren. Vorstrukturierte Seh- und Lebensweisen, einzwängende Maßnahmen sollen gegen eine Vielfalt der Perspektiven und einen größeren Handlungsfreiraum vertauscht werden. Versinnbildlicht wird das im Sprengen der Schalungen oder der Panzer, die die Brust umschließen. Programmatisch im Eröffnungsgedicht „Freiwillige Aussage“ beschrieben:

Ich schlag (mein Beruf) die Schalungen vom Beton
Von der Brust, die Lochstreifen auf in den Schläfen
Die Inschriften in den blutigen Adern:
(…)
Die größere Mühe, oder was sonst bleibt
Und zwischen uns kräftig wird: der winzige
Unterschied zu den andren Tagen, die Freude
.86

Dasjenige, was „zwischen uns kräftig wird“, kommt erst mit großem Krafteinsatz zustande. Das Verbindliche, das Braun öfters „Kitt“ nennt (der einzelne Menschen, aber auch Mensch und Gesellschaft miteinander verbinden sollte), verschlingt jetzt mehr Energie als die unbekümmerte Stimme im „Bereich der Deklamation“. Wenn es zu einer Annäherung kommt, sind viel Schweiß und Tränen investiert worden. Im Gedicht „Annäherung“87 kommt die Verbindung (die Ehe) zweier junger Leute erst nach jahrelangen, sich wiederholenden, Strapazen zustande. Verschwendung von Energie konstatieren wir auch dort, wo das Subjekt sich in den Gedichten mehr auf die optische Wahrnehmung verläßt. So etwa im Eröffnungsgedicht:

Ich lösche die Losung von meinen Wänden
Steig aus den Parolen wie ein Dieb
Auf der Straße ohne Vorsatz, mit bloßem Auge
.88

Ihm scheint eine einzige Perspektive jedoch nicht mehr zu genügen; die Optik sollte im Weitwinkel gestaltet werden:

In der mitteldeutschen Ebne verstreut
Sitzen wir
(…)
89

Wirtsberg
Rundblick 360 Grad
Der volle Winkel der Zukunft: gefüllt schon
Ein Streif
90

und

Die Täler falte ich auf91

Die Blicke treffen jetzt oft auf Leere, driften vom deklamierten politischen Ziel weg.
Auf wieder eine andere Weise legt Braun in dem Gedicht „Die Morgendämmerung“ die Finger auf die wunde Stelle seiner Lyrik in den siebziger Jahren, wenn er, an ein revolutionäres Motiv erinnernd, schreibt: „Jeder Schritt, den ich noch tu, / reißt mich auf“,92 und eben nicht die politischen Verhältnisse. Das ist wohl der Preis der Vorsatzlosigkeit, von der in „Freiwillige Aussage“ die Rede ist.

ENERGIE-VERLUST:
Ohne „Vorsatz“ läßt sich bekanntlich nicht wahrnehmen, und im Eröffnungsgedicht „Statut meiner Dauer“ des Bandes Training des aufrechten Gangs wird die in „Freiwillige Aussage“ formulierte Illusion korrigiert:

Endlich gehe ich daran
Mir eine Satzung zu geben
93

Die Satzung, die Komposition des Paar-Gedichts und der Materialsammlung (als „Stoff zum Leben“), ist der Versuch, politische Wahrheitsfindung nicht im Unendlichen oder Leeren münden zu lassen, sondern in Alternativen. Die politische Arbeit verfängt sich dabei für den größten Teil in sprachlicher Arbeit. Die Energie, die Braun in die Konstruktion von Prozeßhaftem, Dialektischem in der Gesellschaft stecken wollte (Sujets der Agitation des sozialistischen Rhetors), verliert sich jetzt in der dialektischen Gestaltung der Texte selbst, wodurch die Vermittlerrolle des Rhetors aus den Texten verschwindet. Die Stimmen in den einzelnen Texten verzetteln sich in Meinungen anderer Braun trägt nur noch Masken, ist „Zerrissen von dem Zwang, nur eins zu tun / Zu sagen oder machen (…)“.94 Der „Larvenzustand“ ist angesagt, Energie muß anderswo bezogen werden:

Ich nehme mir was ich brauche
Sagte der Mann, der mir glich
Und was mir soviel hilft wie ein Wisch
Wie ein Wechsel, wie eine Schweigeminute
Ich nehme es mir von euch
Sagte er und sah mir aus den Augen
Ob ihr etwas übrig habt oder nicht.95

Brauns skeptische Korrekturen nehmen den Verlust der Dialektik des Sujets in Kauf – das Dilemma politischer Poesie.

Als Reaktion auf den 1962 verfaßten Aufsatz „Poesie und Politik“ von Hans Magnus Enzensberger schrieb Braun 1971 seinen Essay „Politik und Poesie“.96 Darin sichtet er zwei Arten von Literatur, die sozialistische, engagierte (Majakowski, Brecht) und die moderne, ästhetisierende (Eliot, Pound). Beide artikulieren nach Braun „eine unterschiedliche Haltung zur Welt, (…) die von Opfern und die von Kämpfern“.97 Obwohl Braun die beiden Literaturen als unterschiedlich bezeichnet, möchte er sie nicht ohne weiteres trennen. Was seine eigene Lyrik betrifft, ist er nicht auf der Suche nach den jeweiligen Prädikaten, sondern nach einer adäquaten Sprache, die „nach draußen“ und „aus sich heraus“ wirken kann,98 einer Sprache, worüber die Politik selbst nicht verfügt.99 Das politische Wesen der Poesie erlaubt keinen Einsatz von Deklamationen (was Enzensberger „Herrscherlob“ nennt) mehr, deren Wirkungen ausgelöscht sind:

Es geht um die arbeitenden, planenden, genießenden Leute in ihrem umfangreichen Kampf mit der Natur, vor allem ihrer eigenen, der sozialistischen Gesellschaft. Denen braucht man nicht mit Parolen kommen, denen braucht man überhaupt nicht kommen.100

Brauns Poesie kreist unentwegt um die Frage, wie diese Leute denn nun in die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen einbezogen werden können, welcher Beitrag seine Poesie dazu liefern könnte, welche Sprache adäquater sei. Während er sich diese Frage nach der Ästhetik des Widerstands im einzelnen Text wiederholt stellt, bleiben seine Gedichte unvollendet, ein Training, zumindest Halbfabrikate.
Die Schlichtungsversuche, denen wir skizzenhaft und chronologisch nachgegangen sind, loten das Problem der Beibehaltung politischer Erkenntnis beim Dichten aus. Braun wehrt die sich aus der Tradition und aus der literarischen Landschaft der siebziger Jahre in der Bundesrepublik anbietenden Alternativen zur eingreifenden Rhetorik, nämlich „den leisen Singsang des Privaten“101 ab. Er möchte nicht irgendwelche verschwommenen und durcheinanderfließenden Eindrücke oder Sprachexperimente bringen, wie er es Anfang der siebziger Jahre selbst ausdrückte.
Wer so sein Dilemma pflegt, isoliert sich. In den achtziger Jahren wird Braun vom Blickwinkel der jüngsten Lyrik-Generation zur traurigen Gestalt. Die Jungen spotten über Brauns Engagement als einen utopischen „DDR-Messianismus“, der in Gegensatz zu ihren mehr oder weniger avantgardistischen (an u.a. Chlebnikow und Kurt Schwitters geschulten) Schreibweisen steht. Seine Literatur bringe zwar hohe handwerkliche Qualität hervor, so Bernd Wagner in einer Diskussion zwischen jungen Lyrikern,102 jedoch keine gewagte Sprachbehandlung, wie Mischformen, Collagen oder überhaupt Brüchiges. Statt des Schreibens „aus Rissen heraus“, wie Uwe Kolbe, für den Karl Mickel noch Pate stehen könnte, für sich beansprucht, reize Braun nur die gegebenen Sprechmöglichkeiten aus.103 Es sind Vorwürfe, die Braun 1985 im Essay „Rimbaud. Ein Psalm der Aktualität“104 pariert. Darin spricht sich Braun in einer Anzahl markanter und von sichtlicher Irritation zeugenden Sätzen gegen die Spracherneuerungen der jungen Dichter (einschließlich der „Mentorin“ Elke Erb) aus, bezichtigt er die „Neutöner“ der „Einseitigkeit“, „Undialektik“, „Realitätsverzerrung“ und „Realitätsblindheit“.105 Die Geschichte wiederholt sich, allerdings jetzt offenbar radikaler: Der ehemalige „Ost-Beatnik“ erzeugt bei den „Ost-Punks“ der achtziger Jahre keine zustimmende Resonanz mehr:

Volker Braun? – Da kann ich nur sagen, der Junge quält sich. Dazu habe ich keine Beziehung mehr. Ich bin in einer frustrierten Gesellschaft schon aufgewachsen. Diese Enttäuschung ist für mich kein Erlebnis mehr, sondern eine Voraussetzung.
Es ist so, daß der Braun für mich zur Erbmasse gehört. Er hat mir eigentlich nichts mehr zu sagen.106

Jeder Neubeginn startet mit Negationen, die das Gesamtbild verzerren. Volker Braun weiß das aus seiner Anfangsphase. Und die Kritik vieler jüngerer Autoren in der DDR in den achtziger Jahren zielt auf Brauns inzwischen halb-kanonisiertes Werk der sechziger und siebziger Jahre. Die Kritik nimmt im Eifer des Gefechts nicht wahr, daß schon im letzten Gedichtband der Siebziger – insbesondere im in den achtziger Jahren fortgesetzten Zyklus „Stoff zum Leben“ aus Training des aufrechten Gangs (1979) – nicht nur formale Risse deutlich werden, sondern sich auch ein spielerischer Umgang mit den starren Dichotomien der harten Fügung einsetzt.
Wenn die Rüstungen des Rhetors an den Nagel gehängt sind, kann die Anarchie des Alterns beginnen.

Gerrit-Jan Berendse, aus Gerrit-Jan Berendse: Die „Sächsische Dichterschule“. Lyrik in der DDR der sechziger und siebziger Jahre. Verlag Peter Lang, 1990

Der Aufbruch in den sechziger Jahren

(…) Volker Braun (*1939) war seit seinen Auftritten zu den Lyrikabenden von 1962/63 sofort voll da. Der Maschinist, Diplomphilosoph und Brechtschüler kam mit seinen jugendlich provozierenden, rhetorischen und drastisch plastischen Texten beim Publikum unvermittelt an. Der unverbrauchte, freche, ruppige Ton ließ aufhorchen. Die respektlose pubertäre Arroganz, mit der er sich zu Wort meldete und mit der er unbotmäßig alles vom Tisch fegte, was den Dogmatikern bisher heilig gewesen war, ließ die oft ebenfalls noch jugendlichen Zuhörer jubeln. Da artikulierte einer scheulos ihre eigenen Empfindungen. Und da er von einer progressiv sozialistischen Grundhaltung ausging, die sich voller Unschuld und Ungeduld auf das Neue orientierte, kam er als Unruhstifter jenen zupaß, die sich als sozialistische Weltveränderer begriffen. Und dieser lärmende, sympathische, intelligente Dichter-Neuerer und -Agitator mit großer rebellischer Geste, der das alte Leben abblies, sprach ihnen aus der Seele:

Laßt sie ihre Verse brechen und bündeln für die Feuer des Nachruhms!
Laßt sie blumige Reime montieren als Wegzeichen in ihre Wortsteppen!
Unsere Gedichte sind Hochdruckventile im Rohrnetz der Sehnsüchte.
Unsere Gedichte sind Telegraphendrähte, endlos schwingend, voll Elektrizität.
Unsere Gedichte sprossen wie Bäume mit tausend Wurzeln im Geheimniskram
des alten Erdballs und zweigen in tausend Aussichten
107

Da nahm einer den Mund übervoll, brachte sich wichtigtuerisch und mit riesigen Wortkalibern, ausgeliehen von W. Whitman und W. Majakowski, in Position. Später wird er bekennen:

VORWÄRTS sagte ich und wußte nicht, was ich sagte.

Doch vorerst setzte er noch Behauptung an Behauptung. Eine auftrumpfende, imperative Rhetorik. Gedichte wie Positionslichter. Da grub einer Neuland, schnitt Neuhimmel zurecht:

Kommt uns nicht mit Fertigem! Wir brauchen Halbfabrikate!
Weg mit dem faden Braten – her mit dem Wald und dem Messer!
Hier herrscht das Experiment und keine steife Routine.
Hier schreit eure Wünsche aus: Empfang beim Leben…

Alles Alte prüft: her, Kontrollposten Jugend!
Hier wird Neuland gegraben und Neuhimmel geschnitten –
hier ist der Staat für Anfänger, Halbfabrikat auf Lebenszeit
108

Das war unverblümte rebellische, anführerische, aufrührerische, polemische, engagierte, aktivistische Absage an die allzu fertigen Marxismus-Rezepte, an parteibürokratischen Perfektionismus, an die Alles- und Besserwisser, an Diktatur und Staatsvergottung. Da wurde entthront. Manchem Orthodoxen mochte das nicht geschmeckt haben. Doch der frischdiplomierte Philosoph Braun wußte, wie man manövrieren mußte, um sich nicht neben den Stuhl zu setzen, und am Ende war es doch bis dahin unbekannte, ungeübte und weniger domestizierte Parteilichkeit, die den Kotau vor Geßler-Hüten und Königsthronen zu vollführen nicht mehr bereit war. Da nahm einer die Revolution ernst, machte sie zu seinem totalen Lebensunternehmen.
Am Ende des zweiten Weltkriegs war Braun sechs Jahre alt gewesen. Er hatte keine Vergangenheit zu bewältigen. Der Hitlerfaschismus war ihm bloßer Geschichtsstoff. Seine Welt war die des real existierenden Sozialismus, eine andere kannte er nicht. Sein Zorn hatte sich angestaut, gegen diese Welt revoluzzerte er, sie wollte er sich nach seinem Bilde zurechtschreiben:

Schaufeln wir uns eine neue her!

Und er hatte auch schon das Modell: der damals in der DDR offiziell noch verketzerte Jazz.

Das ist das Geheimnis des Jazz:
Der Baß bricht dem erstarrten Orchester aus.
Das Schlagzeug zertrommelt die geistlosen Lieder.
Das Klavier seziert den Kadaver Gehorsam…
Jeder spielt sein Bestes aus zum gemeinsamen Thema.
Das ist die Musik der Zukunft: jeder ist ein Schöpfer!
Du hast das Recht, du zu sein, und ich bin ich:
Und mit keinem verbünden wir uns, der nicht er selber ist
109

Ausbrechen, zertrommeln, sezieren, zersprengen und Jeder ist ein Schöpfer und Ich bin ich! Da stellte einer sein Ich demonstrativ dem reglementierten anonymen, unmündigen Kollektiv-Wir entgegen, und er forderte unumwunden: Seid frei!
Doch wie sollte solch ein radikaler Anspruch erfüllt werden können? Und es war nur eine Frage der Zeit, daß sich Braun mit dem Establishment total überwerfen mußte, mit jenen, die nur rühmten. nichts besserten und daher entbehrlich waren. Noch suchte er nach positiven Wendungen:

Der Politik ins Gehege: als Partner!

Er wollte das Unvereinbare zusammenbringen. Das konnte nicht gelingen. So wechselten bald Phasen des harschen prometheischen Aufbegehrens mit Phasen des resignativen Rückzugs. Als der Prager Frühling zusammengeschossen wurde und in der DDR wieder einmal gegen allen Modernismus Front gemacht wurde, schrieb er:

Die Konservativen benähmen sich wie in einem Werkhof für eine schwererziehbare Nation. Sie schalteten darin wie Gouvernanten. Wie wenig liebe zum Heutigen spür ich in ihrem Gehabe… Sie sind neue Aristokraten.110

Sein letzter Gedichtband (Training des aufrechten Ganges) erschien 1979. Dann gab es nur noch sporadische Gedichtveröffentlichungen. Braun entdeckte sich Hölderlin:

kommt ins Offene, Freund!

Doch glaubte er dabei immer noch an eine sozialistische Utopie, aber es war ein sehr skeptischer Glaube:

Ich, gemodelt aus vieler Geschlechter Stoff
Die ich in mir spüre, einer gemischten Gesellschaft Fortsatz
Mit gemischten Gefühlen harre ich meiner Entschlüsse.
Für einen Augenblick im Dämmer seh ich meine Schienbeine glänzen
Wie Totengebein, und ich liege abwesend vor mir
Und ich frage mich, ob ich zuviel nicht rede
Zuviel nicht rede für unsern Kopf und Kragen
111 (57/80)

Schließlich, in den achtziger Jahren, fetzte er ganz und gar nur noch Gedankenfragmente hin, montierte er Bruchstücke, Desolates, Desparates. Keine Rücksicht mehr auf eine mögliche Kommunikation, nirgends mehr ein versöhnlicher Bezug:

Mitteldeutsches Loch Ausgekohlte Metapher
Keiner Mutter Boden Loser Satz
Aus dem Zusammen Frohe Zukunft
Hang gerissen…
Ich stehe BETRETEN auf der Böschung VERBOTEN
Archaische Landschaft mit Losungen

Ich stehe vorgebeugt VOR-
Vor mir nichts Das Restloch STILL-
Gelegt das Land. Das hat es hinter sich…
112

Der Zukunftsglaube schien aufgebraucht. Weg jegliche Illusion. Aufklärung war seine Sache nimmer. Da wußte er schon:

Der realsozialistische Gang mahlt den Fort-Schritt zu Fort-Schrott.113

Und er schrieb an gegen die sich spreizenden leitenden Hans-Würste, die gewählten Ärsche. Sein Name: Beleidigt, mein Vorname: Erniedrigt… Wir, der Mist, wir: die Tiere mit den geduldigen Hufen, und ich schlug zu, das Blut spritzte.114 Und er bot nur noch unbarmherzige Blicke durch Klarsichtfolie. Im Rimbaud-Essay hielt er 1985 Abrechnung mit dem resistenten Ideologiegips und der Worthurerei, der er sich einst selber hingegeben hatte. Jetzt hielt er Gerichtstag über sich und hielt peinliche Selbstbefragung: Was war das nur für

eine Papierwelt, angelernt… Kindlich versifiziertes Programm, von sozialer Erfahrung kaum betroffen… Der Zeitungsgeist aktionistisch tönend. Auf Stelzen über die Tatbestände: ohne den Boden der Poesie zu berühren.115

Und:

Welche schwache Figur,… die man einmal gemacht hat.116

Sein neues Programm hieß nun arbeitende Subjektivität, und mit ihr schrieb er gegen die Sprache der Dokumente an. Und er prägte das Bild von der Lokomotive und dem Panzerzug für den sich ereignenden Sozialismus im Geschichtsraum:

Ein Panzerzug… Wir darin: gefangen, verborgen, abgeschirmt. Anonyme eiserne Gestalt… Die Maschine hielt mich umklammert… Ich kam hier nicht mehr heraus… Der Wagen würde mein Mausoleum sein, mein Grab. Eine ehrliche, eine eindeutige Lösung, was mich betraf; die anderen mußten die ihre finden117

Und:

Mit dieser eisernen Gegebenheit leben und gegen sie, sie benutzend und zerbrechend. Doch ich konnte mich nicht verständlich machen, meine Zunge von dicken Drähten umwickelt wiederholte automatisch alte Sätze. Mein Sterben hatte begonnen118

Und 1988, während eines Gesprächs über B. Brecht, formulierte Braun:

Felder auf denen nur der Wahnsinn wuchert… Ich habe nichts zu sagen. Nur zu zeigen… Skelette unter über mir Aasgeier…

Dazu die Erkenntnis:

Bauen aus den Widersprüchen. Darin liegt der grundsätzliche konstruktive Charakter der Kunst, im Gegensatz oft zur ideologischen Methode… Immer das Ausgegrenzte mitdenken…, die Gegenwelten… in mehrfacher Optik…

Da war er schon entschlossen zu einer Wende.

Im DDR-Lyriker-Orchester war V. Braun eine wesentliche, eigenwillige, aufmüpfige, kluge, tragende Stimme, die vielen Mut machte, sich gegenüber dem Realsozialismus dialektisch, kritisch zu verhalten. Zugleich aber war er der hartnäckigste Marxist unter den bedeutenden DDR-Dichtern.119

Für die in den achtziger Jahren nachfolgende Lyrikergeneration war Braun jedoch bereits ein Klassiker mit einer Marx-Schranke im Kopf. Der einst als radikal verschriene V. Braun war den jungen Wilden vom Prenzlauer Berg nicht mehr radikal genug. So F.-H. Melle:

Volker Braun? Da kann ich nur sagen, der Junge quält sich. Dazu habe ich keine Beziehung mehr. – Ich bin schon in einer frustrierten Gesellschaft aufgewachsen. Diese Enttäuschung ist für mich kein Erlebnis mehr, sondern eine Voraussetzung.120

Doch auch für V. Braun waren die Dichter vom Prenzlberg kaum ein Ereignis:

Unsere vermeintlichen Neutöner, Hausbesetzer in den romantischen Quartieren (wo sie sich ordentlich führen), sind wohl gute Anschaffer, die fleißig auf den Putz hauen. Hucker, nicht Maurer… Aber auch im Schüttgut werden Reize, Assoziationen, Anstöße geliefert; in dem bedeutenden Wortmüll sind verschwiegene Gefühle und Gedanken deponiert, die uns, selbstredend, mehr zu sagen haben als die gestanzte Festtagskunst… Technisch die Wiederholung des geistlosen Handbetriebs der Avantgarde, niedrige Verarbeitungsstufe. Und wenn der Gebrauchswert gegen Null strebt, wird Dichten Beschäftigungstheorie, siegreiche Monomanie nannte es Baudelaire121

Da ging der Bruch schon nicht mehr nur zwischen wilder Avantgarde und den Kaisergeburtstagsdichtern, sondern auch durch die vielen Spielsparten bis zu den totalen Verweigerern mit und ohne Widerstandswirkung. Der Fall V. Braun wird indes exemplarisch bleiben für den Werdegang und das Schicksal eines in den Realsozialismus hineingereiften und von ihm abgestoßenen Dichters und von dessen zunächst begeistert aktivistischer Mitwirkung an diesem Gesellschaftsmodell bis zu dessen immer unerträglicher werdenden Enttäuschungen und zu totaler Desillusionierung. Sein Werk ist ein beredtes Tagebuch über die Stadien verschiedener Befindlichkeiten und Betroffenheiten eines kritischen Geistes in den letzten 25 Jahren DDR-Existenz. Sein literarisches Werk wird daher auch künftighin und nahezu uneingeschränkt befragt werden können über die Ideale, Irritationen und Irrtümer einer hellwachen Intelligenz unter den Bedingungen einer scheiternden Gesellschaftsformation.

(…)

Edwin Kratschmer: Dichter · Diener · Dissidenten. Sündenfall der DDR-Lyrik, Universitätsverlag – Druckhaus Mayer GmbH Jena, 1995

„Deshalb akzeptiere ich / Einmal nicht, was ihr sagt“122

– Debatten um Texte in Volker Brauns Leipziger Studentenzeit. –

Vereinzelt wurden in Leipziger Zeitungen Anfang der sechziger Jahre Gedichte Volker Brauns gedruckt, in der Leipziger Volkszeitung unter anderem das Gedicht „Agitatoren“, in der Universitätszeitung „Gebrauchsanweisung zu einem Protokoll“, „Provokation für mich“, „Kommt uns nicht mit Fertigem“.
Aufmerksam wurden auch in Leipzig Gedicht-Veröffentlichungen Brauns in überregionalen Zeitungen und Zeitschriften, in Sinn und Form und in der Neuen Deutschen Literatur123 vor allem zur Kenntnis genommen. Alle diese Publikationen lösten heftige Reaktionen in der Universität aus. Hinzu kamen Stellungnahmen zu öffentlichen Lesungen Brauns im Zeichen der Lyrik-Welle, so z.B. auch in den unteren Räumen der Mensa Kalinin. An diese Lesungen erinnere ich mich besonders, weil sie für uns die erste Begegnung mit Georg Maurer brachte.
Die Diskussionen wurden – im Für und Wider – in der Universitätszeitung geführt: mit Wortmeldungen von Eberhard Hackethal, Robert Zoppeck, Rudolf Gehrke (dieser in der Deutschen Zeitschrift für Philosophie) auf der einen Seite, mit den solidarischen Erklärungen der Kommilitonen Brauns (Hans Romeyke, Peter Haehnel, Dieter Dünger) auf der anderen Seite. Nicht direkt zu belegen sind die Auseinandersetzungen, die im institutionellen Rahmen geführt wurden, in Vorlesungen und Aussprachen. In Brauns autobiographisch verankertem Prosatext „Der Hörsaal“ heißt es:

[…] im Hörsaal, ohne mit mir ein Wort verschwendet zu haben, verkündete Dr. J., daß einige Bilder, die ich in der LPG gezeichnet hatte (sie waren in der Mensa ausgehängt) schädlich und philosophisch zuende gedachte, antirevolutionär seien. Ich saß wie betäubt, und lief am Schluß der Vorlesung vor zu ihm, er suchte es nicht weiter zu begründen und war fast versöhnlich, ich mußte hinterher lachen.124

Man kann jetzt wohl Klartext sprechen, ohne im nachhinein jemanden dennunzieren zu wollen: es handelte sich um eine Vorlesung von Erhard John.
Wenig später erfolgten die Partei-Auseinandersetzungen. Auch darüber gibt „Der Hörsaal“ Auskunft (immer die Übersetzung von Dichtung in Bildende Kunst mitgedacht):

Die Aussprache beim Sekretär K. über die Bilder machte alles nur schlimmer. Ich kannte ihn von einigen zentralen Anleitungen der Gruppenorganisation; das waren jedesmal entscheidende Stunden für unsere Arbeit, auch wenn mir schien, daß es zu sehr bloße Anleitungen und Berichterstattung war und zu wenig wirkliche Beziehung untereinander. – Er warf mir vor, die Bilder seien erstens unverständlich und zweitens falsch. Ich habe auf dem einen Bild, das ihm besonders mißfiel, die Schwere der Arbeit und ihre Schönheit unzulässig vermischt, habe sie also gewissermaßen getrennt. Das sei undialektisch […] Er sagte: ich stehe in einem schweren Konflikt mit der Gesellschaft, ich müsse mich „prinzipiell von den Bildern distanzieren“, sonst müßten Konsequenzen und so weiter.125

Die Konsequenz hieß Exmatrikulation, der sie aussprach hieß Hans-Joachim Böhme und war der erste Sekretär der Kreisleitung der SED an der Karl-Marx-Universität.
„[…] einige Tage später“, heißt es dann weiter in Brauns Text, „mußte mich die Gruppe als Organisator ablösen, aus keinen anderen Gründen sonst.“126 Über die Diskussionen, die am Philosophischen Institut der KMU diesen Entscheidungen vorausgegangen waren, hat ein Kommilitone Brauns, Peter Jakubeit, in einem bisher unveröffentlichten Roman mit dem Titel „Der Katzenwald“ geschrieben. Braun erscheint hier als literarische Gestalt, als Udo; die Texte des Dichters werden leicht verändert bleiben aber erkennbar; die ganze Szene ist satirisch-ironisch eingefärbt:

Der Gen. Prof. Heinrich Hugendubel nahm, von Trillesund dazu gebeten, die Aufgaben eines Kronzeugen wahr, obgleich er weder Augen- noch Ohrenzeuge der zur Rede stehenden Vergehen gewesen war. Immerhin hatte er sich mit Textmaterial versorgt – als Beweismittel.
Und schon füllte Hugendubels Stentorstimme den Saal: „Mitteilung an die ältere Jugend: / Nein, die Bäume unserer Lust könnt ihr nicht konstruieren… / Unsere Abenteuer sind zu gefährlich, um sie in Serien zu produzieren…“ Die Papierblätter in Hubendubels Händen raschelten, ehe er aus einem anderen Werk Udos zitierte: „He, ihr Normierer, weg mit eurem Lineal! / Was nichts taugt, wird niemals besser. / Abgestandenes Bier schmeckt immer schal. / und gegen Mißwuchs hilft nur noch das Messer…“ Je länger die Zitatenkette wurde, desto öfter mischte sich in das Rascheln der Manuskriptblätter empörtes Hüsteln, auch wohl mancher Zwischenruf, wie: Sieh da, sieh da. Oder: Hört, hört! Und gar: Jetzt reichts! Doch der Gen. Prof. Hugendubel ließ sich in seinem Beweiseifer nicht bremsen seine Stimme tremolierte, zuletzt schlug er die aus ihren Strophen herausgerissenen Zeilen den Zuhörern um die Ohren wie eine siebenstrienige, vorn mit Bleikugeln versehene Geißelpeitsche: „Widmung einigen Onkels und Tanten: / Universitätseigene Hofmeister und Gouvernanten / Sucht den Verfall im Kehricht! / Wünscht da wer BH im brasilianischen Ballett? Ich nicht…“ Da durchschnitt den Lärm der Empörung die gewaltige Stimme des Gen. Prof. Zwieling-Fünfling persönlich: Genug des bloßen Spiels! Wie lange sollen wir uns diesen mißratenen Wortsalat noch anhören!
Nun überrollte Udo, den Urheber des Ganzen, die Mißbilligung in geordneten Wogen: Sämtliche Redner drückten mit sehr überzeugenden Argumenten ihre tiefe Abscheu aus gegenüber einem solchen manirierten und zugleich barocken Sprachwulst, in dem es von unverschämten Provokationen nur so wimmelte.
Die zierliche bucklige Dozentin setzte wieder einmal den Punkt aufs I, indem sie ausführte, auch wenn man scheinbar unpolitische Gedichte des Verfassers hernähme, Liebesgedichte beispielsweise, dann sei man zutiefst erschüttert über das erschreckend/niedrige moralische Niveau des Autors, denn wenn irgendwo das Wort „Frau“ als Metapher auftauche, dann lasse ein Begriff wie „Bett“ nicht lange auf sich warten…
Mein Gott, mein Gott, dachte Hans-Heinrich noch, das darf doch alles nicht wahr sein – da sagte einer der wissenschaftlichen Oberassistenten, er könne es beim besten Willen nicht verstehen, daß ein Student ausgerechnet der M/L solche Verse verfasse, ob Udo, das in Zukunft weiterhin betreiben wolle?
Udo antwortete vernehmlich, ja, das wolle er tun, und jetzt müsse er die Versammlung verlassen, da er an einer Lyrik-Lesung teilzunehmen habe. Und stand auf von seinem Platz und verließ den Saal.
In das konsternierte Schweigen hinein teilte Versammlungsleiter Trillesund mit, das Präsidium habe beschlossen, die Auseinandersetzung mit dem Studenten Udo demnächst fortzusetzen
.127

Was irritierte denn die Kritiker so, daß sie sich vehement zu Wort melden mußten? Zum ersten das von Braun angesprochene Verhältnis von Führung und Geführten, wenn man so will das Hinze-Kunze-Projekt, das eben früh schon (nicht erst mit „Hans Faust“, mit „Hinze und Kunze“) entwickelt wurde. In Brauns Gedicht „Agitatoren“, einem in keine Sammlung aufgenommenen, aber hier wohl als Dokument zitierbaren Text, heißt es:

Wie schwer das ist: unter euch zu sein,
Genossen!
Die endlosen Schlachten der Agitatoren zu schlagen
(in den Straßenbahnen, den Tanzbars, auf dem Rübenfeld sonntags,
bei den Studenten der Medizin, in Hausfluren):
wo wir sind, ist Kampf, wo wir sind
ist das Jahrtausend zu Ende.
Wie schwer das ist, geduldig zu sein wie
ihr,
entlarven, anspornen, Klarheiten aus-
tauschen:
Ihr Unermüdlichen, ihr Sehnsüchtigen, ihr
Sehnsuchtenteiler!
Heitere Wimpel zu hissen in der Not des
Sturms.
Keiner sage, daß es ertragbar sei.

Mit Scheinwerfern kalken wir hell den
Himmel.
Wir pinseln Wegweiser in die stahl-
triefende Unendlichkeit.
Wir werfen der Schlauheit Netze aus über
die Riffe des Starrsinns –
Unser Fang: eine Brust Wind,
ein Blick Wiese, vielleicht
das Gesicht eines Menschen.
O, Kühlheit des Morgens! Ungeduld
des Anfangs! Welt des Neuerers: Zuversicht!
Warten auf das Brot vor dem keimenden
Korn!
Verwerfen des Plans nach dem Jubel der
Posaunen!
Suchen der Freude im Antlitz nach einem
einzigen Wort!
O schweres Los, als Mensch des neuen
Jahrtausends
in das alte geboren zu sein
.128

Eberhard Hackethal, damals Leiter der FDJ-Studentenbühne, schrieb empört in der „UZ“:

In diesem Gedicht begegnen uns Töne, die nicht überraschen, nicht weil sie neu sind, Kapitulanten und Jammerlappen hat es auch in der Kunst schon immer gegeben, sondern weil sie immerhin die Meinung eines Menschen unserer jüngeren Generation, eines Studenten der marxistisch-leninistischen Philosophie widerspiegelt. Volker Braun drückt in seinem Gedicht im Grunde nur seine Angst vor den hohen Anforderungen beim Aufbau des Sozialismus aus und bedauert sich zeilenlang selbst, der er das ,Pech‘ hatte, in einer Zeit des Kampfes geboren zu werden.

Der eigentliche Vorwurf Hackethals richtete sich gegen Brauns Auffassung von der Führung, von den Ideologen:

Aber für Volker Braun scheint das Wesen der Agitation (und des Sozialismus) darin zu bestehen, daß es schwierig ist, ja, „keiner sage, daß es ertragbar sei.“ Ich glaube, viele Menschen könnten den Autor belehren, daß eine solche schwierige Arbeit nicht nur ertragbar sei, sondern – man staune – sogar glücklich machen kann.129

Robert Zoppeck, der nicht rein politisch wie Hackethal, sondern ästhetisch zu werten versucht, spricht auch den möglichen Gegensatz von lyrischem Ich und den Agitatoren an, fragt aber wenigstens noch, ob das Ich sich den Agitatoren zugehörig fühlt oder nicht. Auch wenn er dann bewußt zwischen dem Ich des Autors und dem lyrischen Ich unterscheidet, kommt er abschließend nicht umhin, von einem „verzerrten Abbild“ zu sprechen, das das gesellschaftliche Bewußtsein nicht entwickle, das Lebensgefühl unserer Menschen. nicht stärke. „Kunsterscheinungen dieser Art“, wird von Robert Zoppeck behauptet „nützen nicht dem sozialistischen Aufbau, sie sind wertlos und müssen verworfen werden.“130 Volker Braun, in der „UZ“ auf diese Debatte bin befragt, antwortete:

Es fällt mir schwer, zu einem meiner Gedichte zu sprechen, hinter dem ich nicht mehr stehe. Daß es in seiner Aussage falsch ist, wurde mir bewußt (deshalb wollte ich es eigentlich auch nicht veröffentlichen). Als ich das Gedicht schrieb, war meine Grundidee, die Größe dieser Funktionäre zu zeigen, die um die sozialistische Bewußtseinsbildung der Menschen ringen. Sie wissen, daß dies das komplizierteste Problem ist – sie lösen es dennoch, obwohl sie mit vielen Schwierigkeiten zu kämpfen haben, weil sie wissen, worum es gebt. Die, die mit ihrer Zeit im Einverständnis leben… haben es immer schwerer als die, die sich mitziehen lassen.131

Neben dem eben hier schon angesprochenen Verhältnis von Führung und Geführten irritierte die Kritik zum zweiten die Sicht Brauns auf den Sozialismus als einem historischen Prozeß. Hackethal las das Gedicht „Agitatoren“ in bezug auf die Verschränkung der Zeiten so:

Der Ausgangspunkt ist für Volker Braun z.B., daß dort, wo wir sind das Jahrtausend zu Ende sei. Das ist keine echte Wahrheit. Wo wir sind, fängt ein neues Zeitalter an. Es ist doch ein Unterschied, ob ich meine Aufgaben unter dem Aspekt des ,Zuendegehens‘ oder des Neubeginns sehe. Wenn Volker Braun „von unseren Wegweisern in die stahltriefende Unendlichkeit“ spricht, so scheint doch die Tatsache, daß der Sozialismus mehr und mehr die Entwicklung der Welt bestimmt, nur kaum gültig ausgedrückt, sondern es herrschen Kleinmut und Pessimismus. Auch wartet der Autor „auf das Brot vor dem keimenden Korn“. Auf welches Brot wartet Volker Braun? Auf die kommunistische Zuckertorte, die er gern schon heute anschneiden möchte, weil ihm der Weg dahin zu steinig ist?132

Auch Robert Zoppeck schließt sich dem Urteil Hackethals an, indem er den Schluß des Gedichts als rückwärtsgewandt interpretiert und den elegischen Zug herverhebt.133 Sind das nun einfach falsche Lesarten oder drückt sich nicht darin überhaupt ein eingeschränktes Bewußtsein der Zeiten aus?
Zum dritten forderte das von Braun anders akzentuierte Verhältnis von einzelnem und Gemeinschaft die Kritik heraus. Dabei war es kein Zufall, daß vor allem das Gedicht „Jazz“ (noch dazu in einer frühen, entschiedener Klartext redenden Fassung) zum Stein des Anstoßes wurde. Rudolf Gehrke im Gespräch mit der Deutschen Zeitschrift für Philosophie:

Wir handeln aus nationaler Verantwortung, wenn wir jede Form einer ideologischen Koexistenz bekämpfen und die marxistisch-leninistische Ästhetik Klarheit über das Wesen der Dekadenz schafft, um besonders junge Künstler den Provokationen einer untergehenden Welt zu entziehen. Wir dürfen auch nicht schweigen, wenn ein Philosophiestudent in einem Gedicht „Jazz“ benannt, so verfährt:

Das Saxophon zersprengt die Fessel Partitur!
Beugt euch, Leiber bebt Gelenke: die Jugend gibt ihren Einstand!
Wozu ich fähig bin und wessen ich bedarf: ich selbst zu sein.
Ich bin ich und nicht wir: ich singe mich selbst,
und aus den Trümmern der Tutti-Akkorde und dem kahlen
Notenstrauch,
und aus dem Brustton des Saxophons und dem Herzschlag
des Banjos
Reckt sich unsere Harmonie auf: die Einheit der Freien.

Ich muß hier darauf verzichten, auf die unserer Weltanschauung und Politik feindliche ideologische Grundhaltung und dekadente formale Anlage dieses Gedichts einzugehen; vergleicht man es aber mit der Herausbildung der sozialistischen Nationalkultur, dann wird schlagartig sichtbar, wie notwendig es für den Künstler der Deutschen Demokratischen Republik ist, zu jeder Zeit bewußt im Sinne der Erfüllung der humanistischen Kultur des deutschen Volkes und ihrer sozialistischen Höherführung zu schaffen. Joh. R. Becher hat in seinem Sonett „Bach“ das große „Vom Ich zum Wir“ unserer Zeit gestaltet, und es heißt dort in den letzten Versen: 

Die Klänge ordnen uns: so, das ist klein,
und das ist groß und ist nicht zu vertauschen.
Die Zeit ist groß. Ein großes Rauschen.
Füg dich in ihre große Fuge ein.

Was wir wollen, ist die Gemeinschaft freier, starker Persönlichkeiten und nicht das Idol aus kahlem Notenstrauch genährter Individualisten. Daran ist nichts zu vertauschen.134

War wirklich nichts zu vertauschen, wenn es doch bei Marx und Engels heißt, daß die freie Entwicklung jedes einzelnen die Bedingung der freien Entwicklung aller ist?
Zum vierten irritierten die Verse Brauns die Kritik dadurch, daß die Schwere der zu meisternden Aufgaben ebenso erschien, wie die möglichen Lösungen, die notwendigen Anstrengungen ebenso wie die vielfach gebrochene heitere Souveränität. Im „Hörsaal“-Bericht heißt es vom – schon erwähnten – Sekretär:

Ich habe auf dem Bild, das ihm besonders mißfiel die Schwere der Arbeit und ihre Schönheit unzulässig vermischt, habe sie also gewissermaßen getrennt. Das sei undialektisch. Ich verstand ihn nicht versuchte das Bild […] zu erklären, er solle es bloß ansehen nicht die einzelnen Teile, sondern das Ganze, es zeige doch, daß wir die Arbeit machen auch wenn die Gesichter nicht lachen und die Haut dreckverklebt ist – wenn ich statt Schlamm Zucker malen würde, wäre das alles ein Zuckerlecken, und die Größe sei dahin! Er sagte, ohne hinzusehen, er sehe, was er sehe, das Schöne sehe er nicht, da werde man provoziert und zwar die fortschrittlichen Menschen, da sei also die Parteilichkeit verletzt. Das sei undialektisch.135 (Unschwer ist durch das angezogene Vokabular zu erkennen daß es sich vor allem um das Gedicht „Jugendobjekt“ handelt.)
Zum fünften war es die Sprechweise in diesen Gedichten die von der Kritik nicht goutiert wurde. Provokation ist die „taktische“ Methode dieser Rede: Mängel im Tun und Denken derjenigen seiner Zeitgenossen, die hier attackiert werden, sind nicht ausgewogen untersucht und beurteilt sondern absichtlich überspitzt, polarisiert zum Ideal dargestellt, so, daß sie gewissermaßen m ihrer Mangelhaftigkeit nicht mehr zu übersehen sind.
Steigerungen, Wiederholungen, Imperative, unregelmäßiger oder unvollständiger Satzbau formieren rhythmisch-syntaktisch die Rede. Der krasse Vergleich, die normale Vorstellung übersteigende oder ungewöhnliche Metapher bestimmen die Bildwelt – und sind durchaus auch in die Kritik zu nehmen.
So sahen es auch die Kommilitonen Brauns, die zur Verteidigung des Dichters angetreten waren: Haehnel, Dünger, Romeyke wandten sich gegen die unsachliche Kritik Hackethals, ohne das Gedicht „Die Agitatoren“ als angemessene poetische Leistung zu verteidigen. Sie konnten im vorgelegten Entwurf nur nicht die allseits angesprochenen ideologischen Probleme, sondern (noch) Unzureichendes in der poetischen Verarbeitung sehen.136
Einige Zeit später meldete sich der eine von ihnen, Peter Haehnel, noch einmal zu Wort, um seinem Freund Volker Braun zu bescheinigen, daß er nach den „Agitatoren“ mit neueren Gedichten („Gebrauchsanweisung zu einem Protokoll“, „Kommt uns nicht mir Fertigem“) an „Inhalt und Formung gewonnen habe“. „Überhaupt scheint mir“, schreibt Haehnel, „daß Brauns ,provokatorische Lyrik‘ eine spezifische Umsetzung der 11. Feuerbachthese ist.“137
Andere Diskutanten haben es wohl ähnlich verstanden: Mitarbeiter des Schriftstellerverbandes wurden beim 1. Sekretär der Kreisleitung vorstellig, um eine Exmatrikulation zu verhindern. Karl Mickel, Dichterfreund, bekundete in jener Lesung in der Mensa, daß er einen Finger seiner Hand für den „Zyklus für die Jugend“ hergebe; Georg Maurer, zu dem wir öfter – durchs Rosenthal hindurch – gepilgert sind, gab seine Sympathie für die Brauns und Kirschs und Mickels kund:

Also, „schaufeln wir uns ein Vaterland her“ mit allen dazugehörigen Flüchen. Denn Arbeit bedeutet außer Befriedigung auch noch Anstrengung. Manche hören die Flüche nicht gern. Sollen sie ordentlich mitarbeiten, und sie werden ordentlich mitfluchen […].138

Leipzig in den frühen sechziger Jahren war vieles: institutionell eine Hüterin der Kulturpolitik (mit allen Konsequenzen); außerhalb der Institutionen (auch was dann den persönlichen Umgang betraf, z.B. den zwischen Robert Zoppeck, Hildegard-Maria Rauchfuß und Volker Braun) eine Stätte des Austausches; in den Vorlesungen Hans Mayers (die auch Braun im „Hörsaal“-Text reflektiert) ein Ort hoher geistiger Anspannung; in den persönlichen Beziehungen einer von Freundschaft getragenen örtlichen Atmosphäre. Leicht war es dennoch für den jungen Dichter nicht. Im „Hörsaal“ stehen die Sätze:

Ich hatte mein Verhalten niemals nach dem Maß gezirkelt, das die Meinung anderer mir zubilligten oder zutrauten, und werde es auch nie tun. Diese Fessel mußte jeder für sich immer wieder zerschlagen; in ihr käme unsere Revolution auf den Hund. Die neuen Menschen, die wir sind, kommen nicht von ungefähr, sondern indem wir uns auf ein Leben einlassen, das – Das mögen die Späteren dann nennen wie sie wollen.139

Respekt, Volker, für diese Widerständigkeit damals und – unter neuen Bedingungen – auch heute.

Walfried Hartinger, aus Volker Braun zu Ehren. Hinze und Kunze bei Volker Braun (nebst anderen Verwandten und Bekannten). Leipziger Kolloquium aus Anlaß des 60. Geburtstages, Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen, 2000

 

Peter Hamm: Zur Situation der jüngsten DDR-Lyrik, Merkur, Heft 205, April 1965

 

LAUFRAD
Für Volker Braun

Die Jahre gehn. Es bleibt
Der Berg der Fragen

Die Haare stehn. Es schleift
Das Rad der Plagen

Die Sterne drehn. Es reist
Der Große Wagen

Die Worte wehn. Wer bleibt
Beschreibt die Fragen

Richard Pietraß

 

In der Reihe Klassiker der Gegenwartslyrik sprach Volker Braun am 9.12.2013 in der Literaturwerkstatt Berlin mit Thomas Rosenlöcher.

Welche Poeme haben das Leben und Schreiben von Karl Mickel und Volker Braun in der DDR und Michael Krüger in der BRD geprägt? Darüber diskutierten die drei Lyriker und Essayisten 1993.

 

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Katrin Hillgruber: Der ewige Dialektiker
Der Tagesspiegel, 5.5.2019

Rainer Kasselt: Ein kritischer Geist aus Dresden
Sächsische Zeitung, 7.5.2019

Hans-Dieter Schütt: Die Wunde die bleibt
neues deutschland, 6.5.2019

Cornelia Geißler: „Der Osten war für den Westen offen“
Frankfurter Rundschau, 6.5.2019

Helmut Böttiger: Harte Fügung
Süddeutsche Zeitung, 6.5.2019

Erik Zielke: Immer noch Vorläufiges
junge Welt, 7.5.2019

Ulf Heise: Volker Braun – Inspiriert von der Widersprüchlichkeit der Welt
mdr.de, 7.5.2019

Oliver Kranz: Der Schriftsteller Volker Braun wird 80
ndr.de, 7.5.2019

Andreas Berger: Interview zum 80. Geburtstag des Dresdner Schriftstellers Volker Braun
mdr.de, 7.5.2019

 

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + Linkliste + Archiv 1 + 2 +
KLGDAS&D + Georg-Büchner-Preis 1 & 2 + Anmerkung zum GBP +
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Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum +
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Dirk Skibas AutorenporträtsBrigitte Friedrich Autorenfotos +
Keystone-SDA + deutsche FOTOTHEK
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Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Der Volkerbraun“.

 

Bild von Juliane Duda mit den Zeichnungen von Klaus Ensikat und den Texten von Fritz J. Raddatz aus seinem Bestiarium der deutschen Literatur. Hier „Braun, der“.

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Volker Braun

Keine Antworten : Volker Braun: Provokation für mich”

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