Volker Braun: Zu Karl Mickels Gedicht „Trinklied. Nach Goethe“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Karl Mickels Gedicht „Trinklied. Nach Goethe“ aus Karl Mickel: Schriften 5: Gelehrtenrepublik. –

 

 

 

 

KARL MICKEL

Trinklied. Nach Goethe

Der Alte in seiner Höhle
Ich
Denkt seine Kinder und Enkel, und
Schüttelt das Haupt

Ohne Arbeit die Söhne
Ohne Obdach die Enkel
Wenn ich werde
Nicht mehr sein

Sei gefühllos!

Ein leichtbewegtes
Ach was
Ist ein Elend
Gut auf der wankenden Erde:
Prost – – –

 

Karl Mickels Vermächtnis

Der Alte in seiner Höhle – ein unzugänglicher Mann wohl, Ich – dem sich der Verfasser gleichstellt, zugesellt; Goethe, dem der Text nachfolgt, hat sich dergestalt hausen sehen: „in seiner Dachshöhle“ (berichtet Kanzler v. Müller 1823). Mickels Höhle lag in Friedrichshagen, ein ebenerdiges dunkles Zimmer, tiefe Sessel, aus dem Fenster zeigt er der Tochter: Das sind die Deutschen. Der, er also Denkt seine Kinder und Enkel – deren Mickel mehrere wußte („Streu deinen Samen / Ich streue den meinen“, im geteilten Deutschland muß er fürchten: „wenige Jahre, und / Meine Söhne / Schießen einander“), und / Schüttelt mit Goethe das Haupt. Denn er stimmt in ein Lied ein (kein Trinklied), das die Parzen „grausend sangen, / Als Tantalus vom goldnen Stuhle fiel“ (Iphigenie auf Tauris, Vierter Aufzug, fünfter Auftritt): „Es horcht der Verbannte/ In nächtlichen Höhlen, / Der Alte, die Lieder, / Denkt Kinder und Enkel / Und schüttelt das Haupt“, nein: und / Schüttelt das Haupt. Der Nachnutzer kräftigt den Vers (die gestische Akzentuierung gegen die „Tendenz zum Durchratschen“) und eignet sich ihn grimmig an, denn er sieht die Nachfahren auf den Stühlen der Suppenküche, Arbeitslose, Obdachlose: Wenn ich werde / Nicht mehr sein. Und ruft nun, wem? sich zu: Sei gefühllos! – der fromme Spruch, gemein, sieht ihm ähnlich („Der Gemeine schätzt Gemeine“ hieß es doppeldeutig in einem „Geselligen Lied“).
So unerträglich ist ihm die Vorstellung der Zukunft, daß er sich keinen anderen Rat weiß. Aber auch der verdankt sich wieder: Goethe, wenn man ihn recht gegenwärtig liest („An meinen Freund Behrisch“, 1767): „Sei gefühllos! / Ein leichtbewegtes Herz / Ist ein elend Gut / Auf der wankenden Erde“, nein: Ein leichtbewegtes / Ach was / Ist ein Elend / Gut auf der wankenden Erde. Das ist ein verzweifelterer Ton, das Herz geht nicht über die Lippen, aber die Metrik souverän von der Hand, der sächsische Arbeitersohn und Professor für Verskunst korrigiert im Jahr 1998 die Vorgabe. Dachte Goethe den Freund gegen die moralischen Anwürfe zu wappnen, so Mickel sich gegen die sozialen Verwerfungen. Das Ach was! ist nun sein Elend; mit dem er gut im Wankenden besteht, sagt er im nüchternsten Unmut; ließe sich sonst trinken? Prost – – –
Was Mickel über die Dichtung Wilhelm Tkaczyks sagte, gilt viel mehr von der seinen: daß sie vom Stamm der Witze sei, welche die Werktätigen seit 2500 Jahren reißen. Ein Gelächter aus dem (dünnen) Bauch, die schamlos kurz und bündige Sprache, verläßliche Bilder, die Wirkung durchaus befreiend. – Dem Althistoriker (bisher leider nur ihm) sei die Literatur unentbehrliche Geschichtsquelle, das heiße, die alte Dichtung enthalte Einsichten, die Gesellschaften stabilisiert und/oder gesprengt haben.
– Ein Trinklied aus einer Höhle? Unzugänglich, zurückgezogen lebte der Dichter insofern, als er nicht rasche Erfolge suchte; hervorgewagt hat er sich durch Gegenstände und Kunstmittel, Aneignung und Weitergabe der belebenden und lastenden Tradition und Zusammenwirken mit Gleichgesinnten. (In der Höhle Der Tisch, entworfen 1973: „Die Balken hätten, von der Freunde Sohlen / Wellen, welche glänzeten, im Schatten“.) Der Zeitschrift „Woprossy literatury“ vermachte er, 1977, über die Möglichkeit des Friedens redend, seinen Grundsatz: „die stetig auf die ganze Kunst (ganz auf die Kunst) gerichtete lebenslängliche Anstrengung“, den Weltzustand und die menschliche Natur näher und näher historisch zu verstehen; der Höhlenbewohner ein „Bürger der Gelehrtenrepublik“.
Das Gedicht ist entnommen seinem letzten Band Geisterfahrt, dessen erstes Exemplar er auf dem Sterbebett im Klinikum Buch durchsah, Schrift: Borgis und Cicero Walbaum-Antiqua, Bleisatz, Papier: Zerkall-Bütten Alt-Burgund; ein Privatdruck, es wurden eben dreißig Exemplare für die Freunde aufgebunden, in Gotha bei der Edition Balance. Es ist das Beste, was in deutscher Sprache… nicht zu haben ist; das Exempel spricht (ungedruckte) Bände. Salve, Freund.

Volker Braunaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Siebenundzwanzigster Band, Insel Verlag, 2004

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00