Walter Busse: Zu Peter Rühmkorfs Gedicht „Auf was nur einmal ist“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Peter Rühmkorfs Gedicht „Auf was nur einmal ist“ aus Peter Rühmkorf: Haltbar bis Ende 1999. –

 

 

 

PETER RÜHMKORF

Auf was nur einmal ist
Für Heinrich Maria Ledig-Rowohlt

Manchmal fragt man sich: ist das das Leben?
Manchmal weiß man nicht: ist dies das Wesen?
Wenn du aufwachst, ist die Klappe zu.
Nichts eratmet, alles angelesen,
siehe, das bist du.

Und du denkst vielleicht: ich gehe unter,
bodenlos und fürchterlich –:
Einer aus dem großen Graupelhaufen,
nur um einen kleinen Flicken bunter,
siehe, das bin ich.

Aber dann, aufeinmalso, beim Schlendern,
lockert sich die Dichtung, bricht die Schale,
fliegen Funken zwischen Hut und Schuh:
Dieser ganz bestimmte Schlenker aus der Richtung,
dieser Stich ins Unnormale,
was nur einmal ist und auch nicht umzuändern:
siehe, das bist du.

 

Ich und du und ich

Wer es sein will, wird über das lyrische Ich Peter Rühmkorf stets gut, gewiß ausführlich unterrichtet, von eben jenem Ich und zumeist mit einem kleinen Vorbehalt zum Entkommen: „ich rühme Korff“ – mit zweimal f. Die gründlichsten Kommentare über seine Produktionsweisen hat Rühmkorf, zur Sicherheit des Ungesicherten, selber geschrieben und die Zweifel nicht ausgelassen, um sie, aus intimerer Kenntnis, zu sänftigen: seine Verse – ein „renitentes Weder-Noch“, „Gegengesänge“. Was Wunder, daß unser lyrisches Ich mit gespaltenem Bewußtsein aufwacht – war das alles, „ist dies das Wesen?“ – und der Widerpart in der Pyjama-Brust die Frage stellt, „bodenlos und fürchterlich“, ob man nur „einer aus dem großen Graupelhaufen“ sei, „nichts eratmet, alles angelesen“? Gemach.
„Vergessen Sie nicht: die edle einfältige Lyrik faßt das Heute in keiner Weise“, schrieb Gottfried Benn 1950 seinem geduldigen Sammler Oelze.

Selbst Wiegenlied, selbst Orplid wären, ins Heute projiziert, nicht ehrlich u. echt. Wir sind böse u. zerrissen u. das muß zur Sprache kommen.

Das weiß Peter Rühmkorf von früh an und pflasterte sich daraus seinen höchst eigenen Pfad. Er nahm und nimmt Homer und Horaz, die Merseburger Zaubersprüche, Paul Gerhard, Klopstock, Goethe, Hölderlin und Heine, Claudius und Eichendorff und viele sonst in Anspruch. Er parodiert sie nicht, er benutzt sie nicht einmal (oder doch nicht immer) als Vehikel, er läßt einige Erkennen-Sie-die- Melodie-Wörter stehen. Er modifiziert weniger die Versformen, um so drastischer deren Inhalt, staffiert sie mit Alltag, Jargon und Schlagwort, mit schlagenden Worten.
„Alles angelesen“? fragt das verkaterte lyrische Du scheinheilig im Morgengrauen, und es ist wahr: zum ganzen Verständnis dieser Gedichte gehört die genaue Kenntnis der Originale, auf die angespielt (für Nachgeborene: abgehoben) wird; die Differenzen, die Entfernungen wollen mitbegriffen sein. Ohne Rücksichten nannte Rühmkorf seinen ersten Gedichtband Irdisches Vergnügen in g, und da soll einer wissen, daß im achtzehnten Jahrhundert der Gründer der „Teutsch übenden Gesellschaft“, Brockes, eine Sammlung frommer Verse Irdisches Vergnügen in Gott hat drucken lassen, dessen letztes Titelwort der Agnostiker Rühmkorf gegen das Physikerzeichen g für gravitas, für Schwerkraft auswechselte. Rühmkorf braucht, entgegen aller proletarischen Gestik, den sehr gebildeten Leser und mußte deswegen auch mit jenen jungen Germanisten Schwierigkeiten bekommen, die Klopstock für ein Instrument der Isolationsfolter und den Zuckmayer für eine Schüttellähmung halten.
Das schafft ein mulmiges Erwachen. Dennoch bleibt beim morgendlichen Ich-und-du-Abzählen Müllers Kuh – sie gehört in Rühmkorfs eigentümlicher Sammlung zum „Volksvermögen“ – nicht auf dem Eise. Sind sie, die lyrischen Dioskuren ich und du, erst einmal aus dem Bett und im freien Schlendern, dann „begibt“ sich etwas zwischen Hirnschale und Schuhsohle, „fliegen Funken“ sogar, gibt es den „ganz bestimmten Schlenker“, der aus dem Zitat ein ganz anderes Gedicht macht, der einen anderen Blick riskiert. Etwa so: Rühmkorf nimmt seinen Heidegger unter den Arm, schlendert mit ihm durch Kalau und bringt von dort unterm Mantel eine kleine Wahrheit mit, die er – Nietzscheaner ist er nicht – gleich flattern läßt:

ein Gedicht ist immer nur so frei, als die Not es wendig macht.

Walter Busseaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Sechster Band, Insel Verlag, 1982

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