Werner Keller: Zu Johannes Bobrowskis Gedicht „Anruf“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Johannes Bobrowskis Gedicht „Anruf“ aus Johannes Bobrowski: Sarmatische Zeit. Schattenland Ströme. –

 

 

 

 

JOHANNES BOBROWSKI

Anruf

Wilna, Eiche
du –
meine Birke,
Nowgorod –
einst in Wäldern aufflog
meiner Frühlinge Schrei, meiner Tage
Schritt erscholl überm Fluß.

Ach, es ist der helle
Glanz, das Sommergestirn,
fortgeschenkt, am Feuer
hockt der Märchenerzähler,
die nachtlang ihm lauschten, die Jungen
zogen davon.

Einsam wird er singen:
Über die Steppe
fahren Wölfe, der Jäger
fand ein gelbes Gestein,
aufbrannt’ es im Mondlicht. –

Heiliges schwimmt,
ein Fisch,
durch die alten Täler, die waldigen
Täler noch, der Väter
Rede tönt noch herauf:
Heiß willkommen die Fremden.
Du wirst ein Fremder sein. Bald.

 

Friedliche Landnahme

Eine Liebeserklärung an zwei Städte eröffnet das Gedicht. Mit expressivem Pathos werden Jugend und Heimat erinnert, Rückkehr und Einkehr in die Geschichte des Ichs und seiner Landschaft vergegenwärtigt. Verse, wie so oft, auf der Suche nach der verlorenen Identität? Ein Blick auf die Biographie des Autors widerlegt diese Vermutung. Bobrowski wurde 1917 in Tilsit geboren und wuchs an beiden Ufern der Memel auf. Als Soldat der Wehrmacht, die am 24. Juni 1941 Wilna, am 15. August Nowgorod besetzte, betrat er russischen Boden; am heftig umkämpften Ilmensee begann er zu schreiben. Ein ergreifender Vorgang: Mitten im Krieg entdeckt ein Deutscher, unberührt von Vorurteil und Propaganda, in Feindesland seine imaginierte, doch mit der Konkretion des Erlebten wahrgenommene Heimat.
Der zweite Gedichtabschnitt, der den persönlichen Erinnerungsraum durch den Gegensatz des Einst und des Jetzt erweitert, betrauert den verlorenen „Glanz“ und beklagt den vereinsamten Erzähler. Die Jahreszeiten bezeichnen Lebensstadien. Warum wurde der erfüllte Sommer verschenkt? Rief die „Jungen“ der Krieg weg, oder lockte sie die geschichtslose Ferne? Erläuterungen werden hier und später ausgespart. Die Kurzverse konstatieren lediglich die Folgen und begnügen sich damit, die archaische Situation von Sagen und Mären zurückzurufen: nächtens, „am Feuer“, der Erzähler, das poetische Gedächtnis der Frühzeit.
Zunächst der reichen Jugend, dann der verarmten Gegenwart zugewandt, nimmt die Ode im dritten Abschnitt die düstere Zukunft vorweg: Der „Gesang“ variiert die alte und immer neue Litanei von Raub und Jagd, von Gewalt und Widerstand. Die Wölfe „fahren“ – auch wenn das Gedicht der Aktualisierung widerstrebt, deuten diese Verse an, daß Wolfszeit herrscht, von Hitlers Wolfsschanze aus dirigiert. Ist ihr der Jäger gewachsen? Sein Bernsteinfund tröstet, der Widerschein des Lichts im Dunkel der Nacht und der Geschichte.
Die entscheidenden Schlußverse verheißen, daß selbst in der Zeit des Unheils „Heiliges“ anwesend ist, die hilfreiche Gegenwart der alten Natur und der Geist des Anfangs. „Heiliges schwimmt / ein Fisch“: Bobrowski bemüht altes Wissen. Aus den Einzelbuchstaben von Ichthys, dem griechischen Wort für Fisch, leiteten die Kirchenväter Christi Wesen ab. Das kühne Bild erinnert überdies an jene Legende, wonach die Ikone Nikolajs, des russischen Nationalheiligen, von Kiew nach Nowgorod schwamm.
Altrussische Frömmigkeit – „der Väter Rede“ – verlangt Gastfreundschaft auch in gewalttätiger Zeit. Damit geht der „Anruf“ über in einen Aufruf und schließt wie ein Nachruf auf den, den die Fremden zum Fremdling stempeln werden. Nur um den bitteren Preis des Fremdwerdens konnte ein deutscher Soldat in Nordrußland seine Heimat finden.
Die Ode, nach überlanger Inkubationszeit 1957 niedergeschrieben, irritiert durch ihren expressionistischen „Schrei“, durch die Beschwörung des Altvergangenen und der Altvorderen, und sie befremdet durch die archetypische Figuration von Erzähler und Jäger und den mystifizierten Geschichtsgang. Doch hier findet keine Spurensicherung des Archaischen um seiner selbst willen statt: Was als Flucht aus der Gegenwart erscheint, organisiert in Wahrheit den Widerstand gegen ihre Bedrohung. Das Gedicht übernimmt die Rolle des „Sängers“, der die Gegenwärtigkeit des Vergangenen vor Vergeßlichkeit und Gewalt zu retten sucht. Seine „Sarmatischen Gedichte“, die mit „Anruf“ beginnen, begriff Bobrowski als individuelle Sühne für eine generelle Schuld. Er kam mit den Eroberern, doch erschloß er unserem Bewußtsein Sarmatien, für Ptolemäus das Land östlich der Weichsel, in friedlicher Landnahme.

Werner Kelleraus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Siebter Band, Insel Verlag, 1983

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