Werner Ross: Zu Hans Magnus Enzensbergers Gedicht „Kopfkissengedicht“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Hans Magnus Enzensbergers Gedicht „Kopfkissengedicht“ aus Hans Magnus Enzensberger: Zukunftsmusik. –

 

 

 

 

HANS MAGNUS ENZENSBERGER

Kopfkissengedicht

Dafür, daß du bis in die Fingerspitzen
anwesend bist, daß es dich verlangt,
dafür, wie du die Knie biegst
und mir dein Haar zeigst,
für deine Temperatur
und deine Dunkelheit;
für deine Nebensätze,
das geringe Gewicht der Ellenbogen
und die materielle Seele,
die in der kleinen Mulde
über dem Schlüsselbein schimmert;
dafür, daß du gegangen
und gekommen bist, und für alles,
was ich nicht von dir weiß,
sind meine einsilbigen Silben
zuwenig, oder zuviel.

 

Die Seele über dem Schlüsselbein

Die Abteilung in Enzensbergers letztem Gedichtband Zukunftsmusik, die mit „Alles Gute“ überschrieben ist bemüht sich, möglichst alles Böse in pfeilartig zugespitzten Sätzen dem Leser zu übermitteln. Mörikes „Denk es, o Seele“ wird zum Beispiel parodistisch zu „Denk es, o Sohle“ umgepolt. Aber das letzte Gedicht macht eine Ausnahme. Es heißt „Kopfkissengedicht“ und meint es damit ernst.
Unter dem Kopfkissen bewahrt man, was man liebt oder was man braucht: ein Taschentuch zum Beispiel, zum Weinen oder Sichschneuzen. In früheren Zeiten gab es den Kopfkissendegen, wenn jählings jemand in das Gemach des Schlafenden drang. Das Kopfkissenbuch, in Frankreich ein geläufiger Ausdruck, ist dasjenige, das man vor dem Einschlafen liest, damit es schöne Träume beschere. Und das Kopfkissengedicht? Das kann man vor dem Einschlafen aufsagen wie ein Nachtgebet, und Enzensberger darf in diesem Fall, einem unverkennbaren Liebesgedicht, in aller Ruhe von „ironisch“ auf „innig“ schalten.
Nur natürlich immer auf seine Weise, das Innige möglichst zurücknehmend, den Lobpreis der Geliebten mit äußerstem Understatement behandelnd, mit Aussparungen eher als mit Ausschüttungen, mit Andeutungen arbeitend, die sich jeder nach Lust ausmalen mag. Es sind die Entdeckungen, die den Liebenden glücklich machen und die Geliebte entzücken, die vorher davon auch noch nichts gewußt hat, am schönsten im Mittelteil des Gedichts, mit dem „geringe(n) Gewicht der Ellenbogen“ und jener allerspeziellsten Entdeckung „in der kleinen Mulde über dem Schlüsselbein“. Da ist die „materielle Seele“; mag sie ruhig materiell sein, wenn es nur eine Seele ist (nicht in Gefahr, in die Sohle abzugleiten).
Man kann aus dem Leiblichen dieser Augenblicks-Zitate beinahe die Geliebte zusammensetzen, feingliedrig, leicht, zärtlich, unaufdringlich, schwebend und, wie es sich seit alters her für geliebte Frauen ziemt, auch mit einer Portion Dunkel und Rätselhaftigkeit ausgestattet, nicht auf der Stelle zu erraten und dann so langweilig wie das Rätsel, das gelöst ist. Ihr Gehen und Kommen gehört auch dazu und unterscheidet sich drastisch und höchst positiv von Kommen und Gehen.
Noch eine Besonderheit dieses Gedichtes: Es fängt mit „dafür“ an und ergeht sich dann in der Aufzählung dessen, wofür. Dafür, so ist die Lesererwartung, dafür muß ich dir danken. Aber dem Dichter fällt eine andere Lösung ein, die mit seinem Handwerk eng zusammenhängt. Die „einsilbigen Silben“, das liegt auf der Hand, sind die wie aus einem großen Schatten herausgehobenen Blitzaufnahmen – aber dann folgt noch das aufzulösende Paradoxon „zuwenig, oder zuviel“.
„Zuwenig“ ist die klassische Bescheidenheitsformel der Rhetorik: Was ich auch Lobendes sagen kann, deine Güte, Schönheit und Größe überbietet es. Und zuviel? Das ist die andere, das Rhetorische ihrerseits überbietende und auslöschende Formel des Gefühls, das Aufhören der Worte, wo nur das In-die-Arme-Nehmen bleibt.

Werner Rossaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Fünfzehnter Band, Insel Verlag, 1992

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