Wilhelm Bartsch: Zu Paul Flemings Gedicht „Aurora schlummre noch an deines Liebsten Brust / …“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Paul Flemings Gedicht „Aurora schlummre noch an deines Liebsten Brust / …“ aus dem Band Ich bin ein schwaches Both ans große Schiff gehangen. –

 

 

 

 

PAUL FLEMING

Aurora schlummre noch an deines Liebsten Brust /
es ist der tieffen Nacht kein Morgen noch bewust.
Diana führt die Sternen
noch höher in die Lufft /
will weiter von mir lernen /
was ich ihr vorgerufft.

Neun Stunden sind nun gleich von nachten durchgebracht /
Neun Stunden hab ich nun an Korilen gedacht.
an Korilen / die schöne
von der ich bin so weit /
drümm klinget mein Gethöne
nach nichts denn Traurigkeit.

Nähmt Korilen in acht / ihr Wächter aller Welt /
für ihren treuen Sinn / den sie mir vorbehält.
Ich will nicht müde werden /
in ihrer festen Pflicht /
biß daß der Feind der Erden
auch mir mein Urtheil spricht.

Aurora / lege nun ümm dich den purpur Flor /
Der junge Tag thut auff der Eas güldnes Thor
Wirst du mein Lieb ersehen /
so gieb ihr einen winck /
Als mir von ihr geschehen /
in dem ich von ihr gieng.

 

Aurora, Anna, Korilen – Paul Flemings Truppenstärke

1
Mit welchem Heer gelang es dem tapferen Paul Fleming, die vereinigte Gewalt Wallensteins und König Gustav Adolfs zurückzuschlagen?
Zuvor war es ja schon neulateinischer Lorbeer gewesen, unter dessen Krone der luzideste unserer Barockdichter ein poeta doctus und einer der führenden lyrischen Globalplayer seiner Zeit geworden war – und er war sich dessen ohne Aufgeregtheit bewußt. Es geschah im Goldenen Zeitalter eines Ölbooms durch nördliche Walfischtranküchen und eines Aktienfiebers durch westliche Tulpenzwiebeln, im Zeitalter der seefahrenden Kompaneien, Wisselbanken und Börsen und ihrer Oktroi für Schiffahrt, Handel und Kommerz – das allerdings oftmals an Land und besonders über die deutschen Lande mit einem dreißigjährigen Krieg ein fürchterliches und dann auch noch fürchterlich unentschiedenes Armageddon brachte. Durch die Mitte Europas fuhren die religiös-ideologischen Feuerwalzen und entsprechende ,schwartze Wolcken‘ (Gryphius) dahin. Sie verbargen dort, dass längst blanker und erfolgreicher Geschäftsgeist und sich schon anbahnende Massenproduktivität überall besitznehmend um die Welt segelten und rollten. Die aufstrebende Welthauptstadt dieses Goldenen Zeitalters und eben auch der neulateinischen Dichtung hieß Amsterdam – die Stifterstadt von Nieuw-Amsterdam des Peter Stuyvesant, des späteren New York.
Nicht von ungefähr hatte der Arzt und Verseverabreicher Fleming an seinem Lebensende, das ja eher ein Lebensanfang mit seiner Braut aus dem baltischen Kaufmannshaus Niehusen werden sollte, die niederländische Richtung auch in persona eingeschlagen, so wie er zuvor mit seiner ,Rubella‘-Dichtung der niederländischen ,Basia‘ des Johannes Sekundus gefolgt war. Und über welches Thema übrigens disputierte der vielleicht bedeutendsten Liebesdichter seiner Zeit dort, im höchstberühmten Leiden? Fleming wollte nämlich erfolgreich zum Doktor der Medizin werden, was auch einen Grund mehr bedeutet hätte, in einem reichen Kaufmannshaus als Bräutigam willkommen zu sein. Der Liebesdichter Fleming bestand erfolgreich die Disputation über die Lustseuche, die Syphilis. Wohin man bei dem Mann auch blickt – er ist glaubhaft. Zum Beispiel als ein zuvor so ,verheerter‘ Deutscher und Sachse – „Deine Dörffer sind verbrandt / deine Mauren ümgerant“, so sieht er es im Meissener Land – musste er einfach die Mitfahrgelegenheit bei einer politischen Missionsreise ergreifen und zunächst in die Holland entgegen gesetzte Richtung ausweichen, bis nach Moskau, ja bis in das innerste Persien – nur um mehr als drei Jahre später halbwegs auch Reval im Baltikum mit dem einzigen immergrünen Doppelkronschatz namens Elsabe und Anna Niehusen für sich einzunehmen. Anscheinend war eine Irrfahrt bis in das Herz von Persien nötig, um ihn für sich und für uns Leser zu gewinnen.
Wie der Gefildeherr Fleming aber sonst zu den Waffen stand, konnte man da schon in seiner Neujahrs-Ode lesen, bei der sich etwa 350 Jahre später einmal Karl Mickel für seine ,Friedensfeier‘ bedienen wird – aus ,Spieß und Degen‘ müssten bereits bei Fleming ,Pflug und Spaden‘ werden.
Aber mit welchem Heer gelang es dem tapferen Paul Fleming bloß, die vereinigte Kriegsgewalt so souverän zurückzuschlagen und sich den Gyphiusschen ,Seelen Schatz‘ in keiner Weise abzwingen zu lassen?
Nennen wir zunächst in der lyrischen Reihenfolge durch den Mund des sächsischen Spätdichters Bernd Leistner ein paar Namen aus diesem doch eher unkriegerischen und lieblichen Reigen: Fulvia, die weiße Kandie, Balthie, Adelfie, die süße Salibene, Basilene, Anemone, die stolze Salvie, Dulkamara und Makarie.
Man könnte auch allein aus den Wasserämtern im Bereich der Zwickauer Mulde noch einige solcher Namen und Waffengattungsbezeichnungen hinzufügen – vom Muldenfluß im Herzen der Heimat ist häufiger die gebundene Rede bei Paul Fleming, etwa in seiner großen Vaterlands-Elegie:

Ach! Dass ich mich einmahl doch wieder solt’ erfrischen / an deiner reichen Lust, du edler Mulden-Fluß, / Da du so sanffte gehst inn bergichten Gepüschen, / Da, da mein Harttenstein mir boht den ersten Kuß

Man muß hier gar nicht den hypersexuellen Freudschen Blick werfen, um Venushügel und -berge, in denen das gesuchte siegreiche Heer so schön kaserniert ist, gleich mit zu assoziieren – geschweige denn muß man auch alle anderen nassen Namen aus dem Flemingschen Heer nennen – etwa den der langen Roxelane vom Ufer der Moskwa oder die von den Ufern des Kaspischen Meeres – wie überhaupt schon Wilhelm Müller bemerkte, dass die Flemingschen Gedichte zunehmend Liebesanlässe fänden und überhaupt „mit einer großen Anzahl genannter und ungenannter Schönen, unter denen auch Circassische Nymphen glänzen, erfreuen und quälen…“
Und Fleming kann sie wie selbstverständlich auch da noch rekrutieren, wo man keine mehr vermuten würde, wie an der Wolga:

Seid mehr als sehr gegrüßt, ihr Nymphen dieser Enden, / ihr weiches Wasservolk…

Und dem wird nichts befohlen. Um es in Bewegung zu setzen, bedarf es keines scharf gerufenen Zweisilbers wie ,Achtung!‘ sondern öfters nur des einsilbig gehauchten Einsilbers ,Ach‘. Diese Truppe wird höchstens einmal, damit die ,Seele‘ des Rufers nicht ,erwache‘, auf gut sächsisch gebeten:

Klitscht in die Hände nicht, ihr schlipfrigen Napeen.

Napeen gehören übrigens zur Waffengattung der Waldtälernymphen.
Was für eine vielfältige Truppe aus scheinbar nur süßen Träumen! Und bedienen sich ihrer nicht alle Dichter seit Homers Zeiten? Nun, sich bedienen schon – aber nur die allerwenigsten gewannen auch ihre Gunst, ja ihre Liebe, wie Fleming schließlich mit und in seinen späten Gedichten an Elsabe und dann an Anna Niehusen in Reval.
Denn wer sonst als die Kaufmannstochter und Nymphe Anna macht Flemings wohl schönstes, nämlich das Aurora-Gedicht, so leichtfüßig, spiegellistig, erlebnisnachhallend und rätselverschmitzt?
Fleming war einer der Wenigen – so muß man nach der Aneignung des „poetisch überhöhten Tagebuches“ (Hans Pyritz) seiner späten Liebesgedichte schließen –, der wohl wirklich am Ende über die unbekannteste und diffuseste Streitmacht des Abendlandes hin und wieder geboten hat – die der Nymphen.

2
Zunächst sei dieser für mich schönste Ort der Flemingschen Nymphologie verstopographisch betrachtet: Die Aurora-Ode besteht eigentlich aus 4 vierzeiligen Alexandrinerstrophen. Da sich aber in den jeweils 3. und 4. Zeilen dieser Strophen die Wörter vor der Zäsur reimen, brechen die Alexandriner auseinander, und somit haben die jeweils zwei Alexandriner am Strophenanfang plötzlich kreuzgereimte Vierzeiler im Gefolge, die in ihrer Schlichtheit an das Volkslied, aber auch in ihrer korrekten Versfüllung, in den schlichten Reimen und ganz besonders erst in der seltsam unkorrekten Treuebeschwörung der 3. Strophe auch wie ein evangelisches Kirchenlied daherkommen. An diesem auch für mich schönsten Gedicht von Paul Fleming kann man aber auch sehen, dass er an keiner Stelle ein originärer Dichter gewesen war – denn diese Strophenform hat er von dem Gedicht „Ihr schwartzen Augen ihr…“ seines verehrten Meisters, des deutschen Regelpoeten per se, Martin Opitz, nahezu kongruent übernommen. Fleming konnte auch gar nichts Nachteiliges daran finden, denn formale und selbst inhaltliche Neuheit waren noch kein ästhetischen Wertkriterien in einer Zeit, wo ,ingenium‘ noch ungeteilt sowohl den ,Ingenieur‘ als auch das ,Genie‘ in sich fasste. Aber auch inhaltlich war Fleming bis zum Ende der getreueste Opitzschüler, hielt er sich doch besonders strikt und mehr als nur gelungen auch in seiner Aurora-Ode an jenen Hauptmerksatz aus Opitzens Buch von der Deutschen Poeterey, der besagt, dass die Liebe der ,Wetzstein‘ sei, an dem die Dichter ,ihren subtilen Verstand scherffen‘ sollen. Und so muß man noch heute den folgenden Gedanken von Hans Pyritz Recht geben: „Auch Fleming war gebeugt unter die Gesetze der historischen Entwicklung, kein Neutöner von epochalem Range“ und „Von einer bewussten Fortbildung der Opitzischen Metrik kann daher bei Fleming nicht die Rede sein. Kritiklosigkeit und Äußerlichkeit kennzeichnen sein Verhältnis zur metrischen Form.“
Immerhin aber kann man mit dem Metrikforscher Friedrich Wilhelm Schmitz Flemings „Gelenkigkeit und selbstsichere Heiterkeit“ dagegenhalten und „das Klangvolle, Harmonische, Melodiöse rühmen“ und sagen, dass Fleming nichtsdestotrotz „der hervorragendste Lyriker seiner Zeit“ gewesen ist. Die doch auch ganz schöne Opitzische Liebes-Ode sticht er jedenfalls glatt aus – und vielleicht ja gerade deshalb, weil er seinen Meister Opitz, und sämtliche dichtenden Zeitgenossen dazu, in einer Hinsicht ziemlich weit hinter sich gelassen hatte, hinter sich gelassen ebenso einen auch schon in die Jahrhunderte gekommenen Petrarkismus, der oft nur noch seine alte Leier dreht zu den meist längst abhanden gekommenen Liebesobjekten. Hinter sich gelassen – und das ist kein Paradox – durch einen Rückgriff auf die Nymphe als exemplarische Gestalt des Liebesobjektes, wie sie erstmals so durch Boccaccio eingeführt wurde und überhaupt durch die poeti d’amore, Dante an erster Stelle zu nennen, wie schon allein im Eingangsquartett des Aurora-Gedichtes zu sehen ist.
Ehe aber nun die Nymphen des Gedichtes selbst hervortreten mögen, sei angemerkt, dass vor allem auch der Mediziner Paul Fleming mit einem Werk eng vertraut war – dem des Paracelsus. Und wenn auch in den russischen und persischen Weiten Petrarca, Boccaccio und Dante für Fleming nicht zuhanden gewesen sein mögen, so doch im Gedächtnis eben der Paracelsus und sein Traktat „De nymphis…“.
Bei Paracelsus hat die Nymphe zweierlei Fleisch: grobes irdisches und subtiles geistiges. Sie ist nicht adamitischen Ursprungs und somit eine Schöpfung zweiten Grades. Sie hat keine Seele, es sei, sie empfange sie durch den Menschen. Sie hat Sprache und Verstand und ist somit kein Tier. Sie hat einen Körper und ist somit kein Geist. Sie ist dem Tod unterworfen, aber sie ist auch von der Ökonomie des Heils und von der Erlösung ausgeschlossen – es sei denn, sie erlange eine Seele beim Geschlechtsakt oder mit ihrer Schwängerung – denn nicht ohne Grund steht ihr Name auch für die kleinen, die inneren Schamlippen – Nymphae.

Das gesamte Leben der Nymphen spielt sich bei Paracelsus unter dem Zeichen der Venus und der Liebe ab. ,Venusberg‘ nennt er die Gesellschaft der Nymphen. … Nicht nach Gottes, sondern nach dem Bild des Menschen geschaffen, sind sie so etwas wie sein Schatten, seine imago. … Und nur in der Begegnung mit dem Menschen erhalten die unbelebten Bilder eine Seele und beginnen wirklich zu leben. (Giorgio Agamben zu Paracelsus)

Paul Fleming nun führt uns in seiner Aurora-Ode vier reale oder bildliche Nymphen mit Namen vor Augen und darüber hinaus noch ein unzählbares Heer von ihnen: Aurora, Diana, Korilen und Eos.
Aurora und Eos wären ja eigentlich ein und dieselbe Göttin der Morgenröte, aber zeigt nicht ihre Dopplung durch Fleming schon, dass hier eher eine Gattung Nymphen gemeint sein sollte, die für eine neu aufgehende Hoffnung, eine neu beginnende Liebe stehen? Immerhin muß Fleming, und wahrscheinlich nur durch solch ganz reale Liebesgedichtpost aus der Ferne nach Reval, einem jungen Mädchen wie Anna Niehusen klarmachen oder auch nur dringend einreden, dass auf einmal sie und nicht mehr die so heftig umworbene ältere Schwester die einzig und allein Gemeinte sei.
Fleming tut das, indem er mit einem unglaublich betörenden kleinen Zaubertrick einfach den Jagd-Spieß der Diana umdreht! Und die nunmehr so grazil Angebetete hat dies, wie auch das Akrostichon A-N-N-A des somit auf vier Strophen festgelegten Gedichtes, vielleicht noch nicht einmal bemerkt.
Auf einmal ist nämlich gleich mit dem Anfang des ersten Quartetts ,die Anna‘ zu ,Diana‘ geworden, und Fleming, der die oberste Jagdgöttin Diana ,aus Versehen‘ beim Baden überrascht hat, muß nun als ein armer Aktaeon von seinen eigenen russischen und persischen Jagdhunden zerrissen werden – wenn sie, Diana-Korilen, sich nicht nymphisch in Liebe besinnt und den ja eigentlich Unschuldigen und allein durch ihre Macht so Schwerverwundeten in ihre Arme nimmt. Aber eben das, so suggeriert gleich die Anfangsstrophe ebenfalls, sei doch wohl schon geschehen, oder?
Die Anna oder Diana tritt hier nicht als die Göttin der Jagd auf, sondern als die, die sie immer auch ist – die der Nymphen. Ein Sternbild namens Diana oder Artemis, wie man bei dieser nächtlich, ja astrologisch beginnenden Ode vermuten könnte, gibt es ja auch nicht, und das Doppel der Jagdhunde, die quasi eine Schwanzverlängerung des Sternbildes Großer Bär sind, wird erst 1690 als solches benannt. Allerdings verbirgt sich hinter dem Großen Bären die Nymphe Callisto, die ja ursprünglich Diana selbst ist und die einst in eine Bärin verwandelt wurde – und zugleich ist die Bärin auch beständig ein Symbol für die Diana in Arkadien. Erwähnenswert wäre dann auch noch, dass Diana in späteren Zeiten, als man in Griechenland die Semele zu vergessen begann, auch zur Mondgöttin wurde.
Hier nun die 21. Strophe aus einer früheren, der 32. Ode aus dem 5. Buch der Oden:

Ihr Sternen auch, die Ihr / vor habt geliebt, / und offtmahls, wie itzt wir, / auch wart betrübt, / Thut, wie man hat an euch gethan, / schreibt meine Seufftzer an / in Jovis Plan.

Von den Parallelen zur 2. Strophe der Aurora-Ode einmal abgesehen, ist, schon vorgreifend, zu bemerken, dass Fleming auch noch das atemberaubende Kunststück fertiggebracht hat, die ja ebenfalls von ihm mehrmals zuvor akrostichierte und nun nicht so einfach zuendegeliebte Elsabe hier in dem 1. Quartett mit unterzubringen, denn es scheint, Fleming hat, und stand damit nicht allein, auch den Nymphologen Dante gut gelesen. Als Mediziner ist er außerdem, wie gesagt, Paracelsist und somit ohnehin in dieser naturmystisch-theosophischen Tradition mit ihrem kosmisch gefärbten Liebesbegriff.
Ja, die Sterne haben auch bei Fleming Liebesursprung, wie bei Dante. „Hier unten sind wir Nymphen, oben Sterne“, heißt die ehemals so berühmte Stelle aus dem „Läuterungsberg“ (Venusberg?) der Göttlichen Komödie. Die Nymphen sind dort Schwellenwesen zwischen dem irdischen und dem himmlischen Paradies. „Geschlechtliche Liebe wird durch geistige Liebe überformt. So steht Liebe immer auch im Banne der Steigerung durch überirdische Objekte“, so Niklas Luhmann in seiner auch historischen Studie „Liebe als Passion“. „Die Welt der Objekte, die Natur wird Resonanzboden der Liebe.“ Und Paul Flemings Biograph Heinz Entner schreibt zur 42. Ode aus dem 5. Buch der Oden, eben zur Aurora-Ode:

Was hier noch mythologisch anmutet, ist nur noch leichte Chiffre einer tiefen Naturschau, die mit dem Liebeserlebnis magisch zusammenfließt.

Schließlich geschieht im 1. Quartett auch noch folgendes: Die Anna-Diana-Korilen verwandelt sich in die Nymphe Echo aus der 38. Ode des 5. Buches der Oden, und da wird nun Fleming / Aktaeon doch noch ein wenig ein ,schuldiger‘, selbstverliebter Spiegelheld Narziß:

Narcissus, dir ist recht geschehen, / vor sahst du sie und woltst sie nicht. / Jtzt wilt du, die du nicht kanst sehen, / und hörst nur, was sie dir nachspricht.

Immerhin aber will Echo / Diana / Korilen / Anna nunmehr nicht nur nachsprechen, sondern (hoffentlich) auch ,lernen‘, was ihr der Dichter nun auch im Nachklang der Aurora-Ode ,vorgeruft‘ hat.
Die noch folgenden drei Strophen der Ode sind einfach und sie sind einfach schön, wie es sich für ein wahres Liebesgedicht, und hier auch Liebeslied, gehört. Auch ein kerniger Treueschwur wie der der gesamten 3. Strophe fehlt nicht, der einen Mann unterwegs in der Steppe zeigen mag, der auch sonst nicht aufzuhalten ist. Der Dichter und Sänger hat aber sonst in der Ode auch das charmante und pfiffige Kunststück fertiggebracht, die Geliebte gar nicht selbst anzusprechen, sondern dafür ein beeindruckendes Heer von liebeswerbenden Nymphen herbeizurufen, deren früheste, Aurora, er am Ende sogar noch, fast schon unhöflich, einen Fast-Befehl erteilen kann, nämlich der Geliebten den ,Wink‘ zu erteilen, ja nicht zu verpassen, was er ihr im 1. Quartett des Gedichtes so alles Kostbare und Wichtige in seinem nymphischen Sternenreigen mitgegeben hat.
Wer/was verbirgt sich nun vielleicht noch hinter der von Bernd Leistner in seinem satirischen Sonett nicht genannten Korilen? Will dieser Name vielleicht besagen, daß Korilen ein junges Mädchen im Reigen der Lenäen ist, dem Bacchusumzug am Anfang des Jahres? Elsabe-Salibene-Penelope Niehusen ist es also schon da nicht mehr, für die der vielgewanderte Odysseus aus Sachsen so viele auch seltsame Strapazen auf sich genommen hatte, etwa die folgende im Kaspischen Meer, wie sie sein Herausgeber Wilhelm Müller 1822 berichtete:

Olearius und Fleming hatten sich ein paar leere Brandtweinfässer um den Hals gehangen, um, wenn das Schiff unterginge, todt oder lebendig an’s Land getrieben zu werden.

Als nun Fleming nach über drei Jahren der Odyssee durch den Kaukasus, Mittelasien und Persien im Januar 1639 endlich wieder nach Moskau und einige Monate später auch nach Reval, der Adresse seiner Liebesgedichte und seinem Sehnsuchts-Ithaka mit voller Liebes- und Rebenberauschung, zurückkehrte –, konnte Flemings inzwischen erfolgslose Liebe zur Kaufmannstochter Elsabe Niehusen tatsächlich quasi umgeschmolzen werden in eine dann auch wirklich mit Heiratsaussicht belohnte Liebe zu Elsabes jüngerer Schwester Anna. Novalis z.B. nennt seine Liebesübertragung von Sophie auf Julie ,angewandte Liebe‘.
Dabei war zu Flemings Zeit dergleichen nicht so leicht zu machen: „Allein schon die Aufmerksamkeit der Geliebten zu gewinnen, ihr Blicke zuzuwerfen, ist schwierig“, schreibt Niklas Luhmann in „Liebe als Passion“.
Man hatte wohl überhaupt auch mehr Zeit, sich ,Bilder‘ zu machen. Giorgio Agamben schreibt in seinem großartigen Essay „Nymphae“ von 2005:

Die copulatio der Phantasmen mit dem möglichen Intellekt ist eine Liebeserfahrung, und die Liebe ist in erster Linie die Liebe einer imago, also eines in gewisser Weise irrealen Gegenstandes, der als solcher der Angst… und dem Mangel ausgesetzt ist. Die Bilder, die die höchste Form des Menschlichen und der einzige denkbare Weg seiner Rettung darstellen, sind auch der Ort seines unausgesetzten Sich-Verfehlens. …

Und nur in der Begegnung mit dem Menschen erhalten die unbelebten Bilder eine Seele und beginnen wirklich zu leben. …

Die Nymphe ist das Bild des Bildes, die Summe der Pathosformeln, die die Menschen von Generation zu Generation weitergeben und denen sie ihre Möglichkeit sich zu finden oder zu verlieren, zu denken oder nicht zu denken anvertraut haben.

Die ,krummen Gesetze‘, wie Novalis auch die ,Wunderregeln‘ einer Wissenschaft von den Nymphen nennen würde, basieren nur auf solchen luftigen und teils abgerissenen oder plankenlosen Hängebrücken, die quasi das Innenleben der Generationen miteinander verbinden oder eben nicht verbinden. Falls in unser somatisches Zeitalter, das Flemings Gedichtanweisung über die Technik des Küssens ja durchaus nicht vergessen hat, wieder einmal so etwas wie Geist oder nymphologischer Sinn einkehren sollten, wird man auch wieder bei Fleming lernen, was er uns ,vorgeruft‘, und das nicht nur in seinen Gedichten, sondern auch von ihm selbst in persona.
Franz Horn hat es wohl auf den Punkt gebracht:

Er hatte sich selber ganz, darum durfte er sich hingeben; er war fest gesammelt, darum durfte er sich zerstreuen. Er scheuete bei seiner rein poetischen Gesundheit keinen Schmerz, selbst nicht den der zartesten Wehmut…

Wilhelm Bartsch, aus Ich bin ein schwaches Both ans große Schiff gehangen. Die Lebensreise des Paul Fleming in seinen schönsten Gedichten. Herausgegeben von Richard Pietraß unter Mitarbeit von Peter Gosse, Projekte-Verlag Cornelius, 2009

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