Peter von Matt: Zu Ernst Jandls Gedicht „waunsas wissn woiz…“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Ernst Jandls Gedicht „waunsas wissn woiz…“. –

 

 

 

 

ERNST JANDL

waunsas wissn woiz    sai greiz
woraus hoez    und bei an jedn hommaschlog
hods eam grissn    und gschrian hoda
wauns es ned von söwa    gwusd haum soiz

 

Lautgedicht und Schmerzensmann

Das Gedicht aus frei komponierten Lauten war ein Traum der frühen Avantgarden. Er entstand zur gleichen Zeit wie der Traum vom Bild aus frei komponierten Farben. Der junge Augusto Giacometti, der als einer der ersten auf diese Art malen sollte, saß 1917 in den Dada-Soireen am Zürcher Paradeplatz, ein Sympathisant der ausgehungerten Truppe um Hugo Ball, Hans Arp und Tristan Tzara und einer der wenigen Schweizer, welche die Dadaisten nicht für Spinner hielten. Von ihm sprang der Funke über auf Alberto Giacometti, den Sohn seines Cousins aus dem gleichen abgelegenen Bergdorf. Nachdem sich die Pariser Dada-Filiale um die Mitte der 1920er Jahre in den Surrealismus verwandelt hatte, wurde Alberto der wichtigste Bildhauer dieser Bewegung.
Der Traum vom Lautgedicht lebte fort, auch wenn ihm die Karriere versagt blieb, zu der das Bild aus freien Farben so triumphal aufstieg. Ein eigenständiges, vielfältig kultiviertes Genre wurde daraus nie. Trotz Schwitters und seiner „Ursonate“.
Keiner aber spürte den Stachel dieses alten Traums so heftig wie Ernst Jandl. Keiner versuchte auf so einfallsreiche Weise, ihn doch noch aufs Papier zu holen oder in die Säle zu schreien. In seiner letzten Schaffenszeit entwickelte er eine aufregend neue Variante. Er schrieb kurze Stücke im Wiener Dialekt, aber anders als etwa H.C. Artmann bediente er sich dabei einer so radikalen Lautschrift, dass etwas sehr Seltsames entstand: Texte, die für den Leser entweder nichts bedeuten, also Lautgedichte sind, oder aber aus einer unbekannten Sprache zu stammen scheinen. Erst mit der Zeit, wenn man sie vor sich hin spricht, tauchen vertraute Bedeutungen auf. Eines fängt so an:

Soitades   wiaggli scho
sexe    aum aummid sein

Portugiesisch, dieses erste Wort? Das zweite Schweizerdeutsch? „Sexe“ kennt man ja irgendwie, aber hier, so? Und „aum aummid“ ist ein schöner Doppelklang – also doch Lautgedicht? Die Wiener mögen von sich aus auf den Sinn kommen, uns andern hilft eine kleine Transkription, die Jandl in winziger Schrift am Seitenende anfügt, damit wir nicht verzweifeln vor dem Orakel. Und tatsächlich, kaum kennen wir die hochdeutsche Version, hören und verstehen wir auch den Dialekt. Ein Lautgedicht ist es also nicht, und doch haben wir mit diesem eine Erfahrung gemacht. Jandls eigene Transkription lautet:

sollte es wirklich schon
sechs am abend sein…

Auch „waunsas wissn woiz“ begegnet uns so. Dieses Gedicht arbeitet noch stärker mit Assonanzen und Gleichklängen. Die vielen w am Anfang, die Klammer ums Ganze durch woiz und soiz, dazwischen, ähnlich, greiz und hoez, Laute, die einander antworten wie auch wieder grissn, gschrian, gwusd und, als eine weitere Klammer, waunsas und wauns. Daneben die Reihe hods, hoda, haum. Solange der Text fremd bleibt, semantisch verschlossen, ist er ein großartiges Klanggefüge. So soll er auch zunächst erfahren werden, und ganz verschwinden darf diese Erfahrung selbst dann nicht, wenn die Übertragung ins Hochdeutsche den Schleier wegreißt. Sonst wäre alles ein bloßes Rätselspiel, ein sprachliches Vexierbild unter der Parole: Wer findet die Lösung?
Tatsächlich müssen wir am Ende wie bei den Kippfiguren, über die Wittgenstein nachgedacht hat, beides zu sehen vermögen: das Gedicht als beschreibenden, uns anredenden Text und als ein freies akustisches Gebilde. Der Inhalt aber, wie immer wir zu ihm gelangen, trifft wie ein Schock. So etwas hat man bei Jandl nicht erwartet. „Ottos Mops“ schon und auch „lechts und rinks“ und „Laut und Luise“, Lustiges also mit ein bissehen Tiefsinn, aber dann dies (in der Transkription des Autors):

wenn ihr es wissen wollt sein kreuz
war aus holz und bei jedem hammerschlag
hat es ihn gerissen und geschrien hat er
wenn ihr es nicht von selbst gewusst haben sollt.

Die Passion Christi, von tausend Bildern zugedeckt, ein Stereotyp unter Stereotypen, verstaubt, abgelagert auf dem Dachboden der europäischen Kultur, in den Museen ein ewiges Déjà-vu – außer plötzlich in Colmar –, hier bricht sie als furchtbare Wirklichkeit durch den dadaistischen Vorhang. Das Annageln des lebendigen Leibes an das Holz tritt uns vor Augen, als hätten wir noch nie davon gehört. Die Qual. Die Schreie.
Die Floskeln aber, mit denen der Text beginnt und endet: „Wenn ihr’s wissen wollt… wenn ihr’s nicht von selbst gewusst haben solltet“, diese wie am Wirtshaustisch gequasselten Sätze zielen auf das, was das Gedicht in Wahrheit leistet. Es macht uns etwas längst Bekanntes zum ersten Mal bewußt.

Peter von Matt, aus Peter von Matt: Wörterleuchten, „Dieser Text ist verschwunden.“, 2009

Carl Hanser Verlag, 2009

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