SONNENGESANG
… daß die Explosion der Wasserstoffbombe innerhalb einer Minute die ganze Erde erfaßt und in eine kleine Sonne verwandelt…
(Pressenotiz)
Alles, was wir in Deinem Lichte schauen,
Wird vergehen,
Du aber lebst und blühst für immer und ewig!
ECHNATON, 1360 v. Chr.
Sonne!
aaaaaaDie du uns leuchtest und sengst die Fofemberwiese
(Denn die Monate sind hier anders benannt als auf Terra ✝︎),
Die du die Limonadenrebe zur Reife bringst pünktlich
(Denn der Wein ist seit dem Zerplatzen der Erde verpönt hier!),
Siehe, ich muß zu meiner Elisa (das Beth fehlt hier meistens),
Darum erlisch heute abend früher, als du es gewohnt bist!
Sonne, sei bitte nicht beleidigt, wenn ich Elisa
Sagen werde, daß sie unter anderem dir, o Gestirn, gleicht.
Zusatz zu diesem Gesang: Sonne zwei. (Zur Vermeidung von Irrtum.)
UP-Sonderbericht: Der Minister von Bähland erklärte,
Seines Staates Ruhm werde fernsten Zeiten noch leuchten.
unserer Reihe Bechtle Lyrik erscheinen die Gedichte des Wiener Lyrikers Andreas Okopenko. Was in den Versen seines Grünen Novembers so schillernd angelegt war, präsentiert sich hier in hoher Reife. Die Dinge verändern sich mit dem Licht, das der Dichter ihnen schenkt. Rätselhaft unverstellt ist die Welt, wie eine Frucht wird sie aufgebrochen, und sie entläßt ihren Kern, ohne sich selbst zu verlieren. Mitte und Innerlichkeit ist zur Sprache geronnen. Melodien formen sich an der äußersten Kante des Sichtbaren, des Wechselhaften, Melodien eines Narren oder Weisen; – nicht zu entscheiden, wo die tiefere Wahrheit brennt.
Zwischen Stille und den hellen Eruptionen einer gläsernen Zeitkritik taucht immer dasselbe, verstehende, mitteilsame Lächeln auf, das weiß und das von einer Wirklichkeit spricht, die erfahrbar ist hinter dem Schatten von Vergänglichkeit und Armut des Herzens. Reich ist dieser Dichter an heller Gegenwart. Funkelnde Wortgeflechte tauchen hinab an die Nahtstellen, wo unsere Welt sich zu verflüchtigen droht, und stellt diese wieder her: manchmal mit der einfachen Sprachgebärde eines Kindes, das „uralten Melodien“ nachträumt, manchmal aber auch mit dem überwundenen Zweifel des ewigen Fragers, der wieder lieben gelernt hat:
Wenn ich mich an Trug verstreu
mahnt mich stets, ihr Dinge.
Bechtle Verlag, Klappentext, 1963
… daß es irgendwo auf jeden Fall einen Sinn gibt, denn es gibt ihn im menschlichen Gehirn.
Dies ist zwar nicht der lyrischeste Vers aus Okopenkos zweitem Gedichtband, aber vielleicht der tröstlichste. Ein programmatischer Vers, der Kompromißlosigkeit und Härte impliziert und das bewältigte Gefühl in den Dienst des Geistigen stellt. Mit der dem Dichter Okopenko eigenen Präzision der Beobachtung setzt er die Signatur der Wirklichkeit in Verse; wie zum Beispiel in „Juliabend“:
Es riecht nach Fröschen.
Leuchtend schnappt ein Feuerzeug.
Lang ist der Sommer.
Sein scharfes Auge und sein klarer Verstand er- und umfassen Realität und Zeitgeschehen, alles in seiner Besonderheit, in seinem „Fluidum“.
Das Fluidum ist eines meiner wichtigsten Anliegen in der Dichtung und einer meiner Akkumulatoren im Leben, von dem ich immer wieder Kraft und Genugtuung beziehe. Fluidum ist Gefühl mit existentieller Resonanz.
Und:
Es ist einzigartig und spiegelt subjektiv die Einzigartigkeit des Augenblicks.
Okopenkos Kunst ist eine Kunst des Augenblicks und dessen einzigartiger, komplexer Verknüpfungen, „die wie Radiumlinien tags durch dreckiges Gebiet laufen“. Seine Lyrik ist ein Feuerwerk von Einfällen und Assoziationen; man möchte sagen: ein genauer Plan dessen, was der Autor denkt, fühlt und lebt. Einmal sehr zart und behutsam, dann wieder von sägescharfer Zeitkritik („An den Sessel geschnallt, empfängt einer den Gruß vom Messing. Vom roten Messing in den nackten Bauch“) oder von kalkig-ätzender Ironie. Manchen Angriff könnte man sich vitaler vorstellen, gröber, weniger intellektueller Feinheit und Überlegung verhaftet, so schrecklich, wie das Anzugreifende selbst schrecklich ist. Aber es wäre falsch verstanden, würde man das als Kritik auffassen. Es gibt in der österreichischen Gegenwartslyrik wenig, was der künstlerischen Qualität von Okopenkos Gedichten gleichkäme. Die Bedeutsamkeit dieser Gedichte und der darin in künstlerische Form und geistige Essenz umgesetzten menschlichen Haltung wird auch von immer weiteren Kreisen erkannt. –
Okopenko wurde für seine Lyrik vor kurzem mit dem Förderungspreis der Stadt Wien ausgezeichnet. Das war eine längst fällige Würdigung eines wesentlichen lyrischen Werkes unserer Zeit.
Walter Buchebner, Wiener Bücher-Briefe, 1964
H. St.: Die Armut des Herzens
Arbeiterzeitung, 10.11.1963
anonym: Wir stellen vor: Andreas Okopenko
Oberösterreichische Nachrichten, 16.11.1963
O(tto) Breicha: Poetische Summe
Die Presse, 4.1.1964
erweiterter Abdruck in: Wort in der Zeit, 1964
Gerald Bisinger: o.T.
Neue Deutsche Hefte, Heft 101, 1964
Rainer Zitta: Zeitkritik mit kaltem Stichel
Neues Österreich, 5.12.1964
– Andreas Okopenkos Poetik des Fluidum. –
In der Weltliteratur existieren zahlreiche Beispiele von Schriftstellern, die das Phänomen Fluidum unter anderem Namen gekannt und zu beschreiben versucht haben. Sie beließen es nicht bei einer Benennung und schlichten Aufzeigung, sondern erhoben es zu einem richtungsweisenden Element der Dichtung. Als „Mémoire Involontaire“ finden wir es bei Marcel Proust, und James Joyce ließ es als „epiphany“ zu Dichtung werden. Andreas Okopenko zitiert die genannten Dichter in seinem Aufsatz „Fluidum. Bericht von einer außerordentlichen Erlebnisart“ und grenzt diese Phänomene von seiner eigenen Fluidumerfahrung ab, die er bereits als Sechszehnjähriger hatte. Die eigene Fluidumerfahrung möchte Okopenko vergleichbar, nachvollziehbar und vor allem mitteilbar machen. Darin besteht das zentrale Anliegen des zitierten Aufsatzes:
In der Praxis spreche ich schon lange von einem Fluidum. Ich möchte es gern definieren, damit auch die anderen Leute wissen, was damit gemeint ist, denn das Fluidum ist eines meiner wichtigsten Anliegen in der Dichtung und einer meiner Akkumulatoren im Leben.
Okopenko sieht seinen Essay als ein „dichterisches Vermächtnis“ und wäre glücklich, „wenn er nicht als Denkmal in der Gegend herumstände, sondern Mitmenschen zum Aha-Sagen brächte, weil sie ähnliches Erleben kennen, und zu Mitteilung und weiteren Aufhellung dieser Kenntnis.“
Aber ist das Fluidum tatsächlich mitteilbar? Der Autor zeigt sich durchaus kritisch, bald spricht er Unsicherheiten hinsichtlich seines Vorhabens an, bald ringt er um die Mitteilung seiner Kenntnisse. Insgesamt kommt es in dem Essay zu einem sensiblen Ausbalancieren aller Bemühungen und Zweifel, der Aufsatz bildet eine kritisch-engagierte Gratwanderung zwischen Versuch und Postulat.
Im Zusammenhang mit der Mitteilbarkeit des Fluidums ist vorrangig auch des Dichters Bezugnahme zur Realität von Bedeutung. Okopenkos ästhetisches Konzept basiert ja auf der Auffassung, nicht die Sprache (um ihrer selbst willen) zu thematisieren, also nicht als manieristischer Spieler zu agieren, sondern einen sprachlichen Realismus für sich zu nutzen, der gerade auch auf die außersprachliche Wirklichkeit abzielt, wie auch das Fluidum von ihm als Phänomen des „vorsprachlichen Denkens“ bezeichnet wird.
Mir selbst war das ,Mitteilen‘ von Fluiden im Grunde und auf längere Sicht immer wichtigstes Anliegen meiner Lyrik; […] Manchmal habe ich naiv dichtend darauf vertraut, daß die einfache spontane Reaktion auf gehabte Fluiden oder fluidumverdächtige Wirklichkeit […] den Transport des Fluidums zum Mitmenschen gewährleistet, manchmal habe ich um diesen Transport ,gerungen‘ […]. Lange schon neige ich der Ansicht zu, daß möglichst präzise, dem einmaligen Augenblick spezifisch entsprechende Darstellung der vor allem visuellen Wirklichkeit, aber auch des multisensuellen Simultanerlebens, das Fluidum deckt.
Ein „existentieller“ und „totaler Realismus“ bildet eines jener Ideale, die Okopenko innerhalb seines vielschichtigen ästhetischen Poetikkonzeptes vertritt, das Bemühen um die Mitteilung fluidisch erlebter Wirklichkeit und Möglichkeit setzt der Autor in seinem Werk in konsequenter Weise um. Auch deshalb war es ihm so wichtig, das Fluidum in seinem Aufsatz ganz genau zu definieren:
Was ist nun also das „Fluidum“? Andreas Okopenko unterteilt die Frage in zwei Bereiche. Zuerst führt er die „Negativ-Kriterien“ an, die belegen, was das Fluidum alles nicht (!) ist. Das Fluidum ist demnach kein Aufnahmemodus der Umwelt, der sich auf eine einzige Komponente beschränkt oder sich bloß einem einzelnen Detail verdankt, z.B. nur optischen, akustischen etc. Reizen, die vielleicht etwas subjektiv „Einmaliges“ suggerieren oder zu vermitteln suchen. Ebensowenig entspringt es einer bestimmten (religiös, esoterisch, politisch etc. motivierten) Weltanschauung, Glaubensrichtung oder vorab festgelegten literarischen Praktik. Allzu leicht könnte das Fluidum verwechselt werden mit etwas intellektuell interessant Empfundenem, mit Erinnerungen (gerade an subjektiv Schicksalhaftes, Bedeutsames) sowie mit besonderen Erlebnissen und ergreifenden Gedanken, die einem Menschen plötzlich ins Bewußtsein kommen und ihn möglicherweise „tief berühren“, die aber nicht als „Eckpfeiler“ im Gehirn abgespeichert werden und nicht als „Brücken“ funktionieren. Solche Erlebnisse bleiben aber bloß Erinnerung, nur interessant in ihrem nackten Wortlaut oder in ihrer kargen Bedeutung, und in jedem Fall sind sie ohne Ausdehnungsbestreben oder Verweisungscharakter versehen.
Ein „echtes Fluidum“ hingegen hat zwar oft eine ähnliche Oberflächenstruktur, aber als Aufnahmemodus der Umwelt muß es den Forderungen des Dichters entsprechend ein starkes Reaktionsgefühl auf auserwählte Wirklichkeit, ein Gefühl der Existenz und Existenzergriffenheit und besonders der Einzigartigkeit des Augenblicks mit sich bringen. So läßt sich das Fluidum ganz allgemein in den weiten Bereich der psychischen Erscheinungen einordnen; es ist ein weiterer, über die fünf Sinne hinausgehender Sinn für die unmittelbare Wahrnehmung der Existenz, der stets eine Verbindung und Eingliederung in den Lebenskontext sucht. Weiters zeichnet es sich durch sein spontanes und affektives Auftreten aus, das sich sowohl in einem kurzen Augenblick als auch in einer längeren Zeitspanne (als „Fluidum-Wanderung“) als Gegenwarts- oder Erinnerungsfluidum entfalten kann. Das Fluidum-Erlebnis entsteht meist unwillentlich und zeigt in seinem plötzlichen Auftreten dem Menschen in einer Art „Vision“ für ihn subjektiv Wichtiges und Einzigartiges, welches insgesamt meist eher schwer in Worte gefaßt werden kann. Deshalb wirkt es als ein Phänomen des „vorsprachlichen Denkens“, das Zusammenhange des Lebens aufzeigt, noch bevor sich dafür die „richtigen“ Worte einfinden. Diesen Zustand rückt der Dichter in die Nähe einer „Erleuchtung“, vermittelt das Fluidum doch seine Botschaften klar und vollkommen.
Besonders wichtig für das Zustandekommen eines Fluidums ist die Haltung und Einstellung des Betrachters; er muß der Welt gegenüber aufgeschlossen reagieren und für neue Reize und Erfahrensmöglichkeiten offen sein. Das folgende, etwas gekürzte Zitat faßt die wichtigsten Kriterien des Fluidums aus der Sicht des Dichters zusammen:
Fluidum ist Gefühl mit existentieller Resonanz, oder vor unendlichem Horizont, grundsätzlich immer möglich, auch nachholbar zu gegebenem engem Gefühl. Wir finden das Leben interessant, es ist, als würde uns der Reiz des Daseins offenbar. An eine Erinnerung schließen sich andere, wir erinnern uns gern und leben uns in die alte Zeit ganz hinein. In einer reizvoll empfundenen Gegenwart schauen wir gern um uns, und ein Gegenstand steckt den anderen mit Reiz an. Wir fühlen auch, wie alles voll von Möglichkeiten und Bezügen ist. In Gegenwart und Erinnerung spüren wir Lebensfreude und Einverständnis mit der Welt, wir fühlen, wie wir leben und in all das hineingehören, und nehmen alles, was wir sehen, wichtig. Das Fluidum läßt uns das Wesen der Welt ahnen, ihr Allgemeines und ihre stetige Besonderung. Sein, Werden, Werte, es läßt uns alles Besondere und alles Mögliche lieben. […] Es mahnt uns zur Übereinstimmung mit den Werten und zur Einfügung des überwuchernden Ich. […]
Etwa kommt eine große Ruhe und ein Gefühl von Deutlichkeit über uns. Wir gewinnen Zusammenhang mit Punkten aus früheren Stadien unserer Entwicklung, unser Leben wird aus etwas Dumpfem zu einem Plan, als liefen durch dreckige Gebiete tags unsichtbare Radiumlinien, die nachts zu leuchten beginnen und das Gebiet zu einer Generalstabskarte ordnen. Unser Leben von jetzt (dieser Moment) nimmt Verbindung auf mit anderen Momenten unseres Lebens, wesentlichen, und es scheint uns, daß wir neben dem kontinuierlichen Alltagsleben ein ebenso zusammenhängendes wesentliches Leben führen; auch in zweiter Ebene sind wir ,im Fluß‘, ,in Geschichte‘. […]
Das Fluidum ist einzigartig und spiegelt subjektiv die Einzigartigkeit des Augenblicks. Es schlägt ein. Es ist im Augenblick, da es verspürt wird, schon vollständig. Die Bestandteile des Momentes werden im Fluidum als eine Ganzheit und nicht als eine Anhäufung von Einzelnem empfunden. Das Fluidum ist ein Erlebnisintegral im Zeitdifferential.
Das Fluidum verdankt sich insgesamt dem Zusammenwirken dreier „Dispositionen“ (Lebenswirklichkeit, Augenblick und Bewußtwerdung), die weniger als Eigenschaften, sondern viel eher als „günstige (Neben-) Bestimmungen“ zu verstehen sind. Man kann sie als Rahmenbedingungen für das Zustandekommen, die Wahrnehmung und die ozeanische Ausbreitung des Fluidums betrachten.
Eine zentrale Rolle fällt hierbei dem Augenblick zu. Als kleinste Erinnerungs-, Wahrnehmungs- und Erlebniseinheit, aber auch als Summe des Wahrnehmbaren in seiner geringfügigsten räumlichen und zeitlichen Ausdehnung, ist er hinsichtlich des Fluidums einer Befragung wert. In seiner Kurzlebigkeit stiftet der flüchtige Moment sowohl Einheit als auch Disparität. Die beteiligten Elemente vermögen einerseits ordnend zu wirken und einen Zusammenhang zu anderen (ähnlichen, aber auch gegensätzlichen) Erfahrungen und Gedanken herzustellen. Andererseits sorgt der Augenblick auch für Verwirrung, da er nicht immer alle Faktoren (das Wahrnehmen, Bewußtwerden, die Setzung von Prioritäten und die Reflexion) zu einem einzigen stringenten Prozeß zu verknüpfen vermag.
Das Element des Erlebnisses ist der Augenblick. Der Augenblick hat Knotenpunktnatur: Er ist nach allen Seiten hin bezogen, objektiv und subjektiv. Er ist das Hier und Nun, die Besonderung des Seienden, die Situation im Werdenden, der Ort im Gewebe, allverbunden und einzigartig.
Das Fluidum verhält sich ambivalent zum Faktor Zeit, d.h. das Fluidum „unterwirft“ sich der Zeitdauer als Rahmenbedingung. Es breitet sich zeitlich sehr unterschiedlich aus: Die Spanne reicht von einer langen Verweildauer bis hin zu einem kurzen Blitz. Dieses blitzartige und affektive (also unwillentliche!) Auftreten hebt Andreas Okopenko hervor: Das Fluidum kommt einem „Anfall“ gleich; es tritt auf, ohne bewußt provoziert worden zu sein, wie „ein Bauchschuß aus der Wirklichkeit, aus dem immanenten Trans, aus dem Hinterhalt Manitous“ oder wie „ein Ansturm, nicht zu verwechseln mit träg behaglichem Baden“. Im Fluidum spiegelt sich subjektiv die Einzigartigkeit des Augenblicks. „Es schlägt ein“, und ist im Augenblick seiner Gewahrwerdung bereits vollständig vorhanden, wobei dann auch seine einzelnen Bestandteile/Inhalte als Ganzheit empfunden werden.
Innerhalb des Gedichtzyklus „Sommerfragmente“ (in: Gesammelte Lyrik) finden wir zwei kleine Fragmente, die in ihrer knappen Formulierung diese Einzigartigkeit und Plötzlichkeit vermitteln können.
Ich fand im Wald
ein Liebesgedicht, in eine Gasmaske gesprochen.
Ich habe mir aus einer roten Wurzel
Bleistiftchen geschnitten.
Beide Textstellen scheinen durch ihre Kürze wenig „Material“ zum Nachweis eines Fluidums zu beinhalten. Doch gerade durch ihre Prägnanz wirken sie wie eine spontane Anwandlung oder wie ein Blitz, der nur einen flüchtigen Moment aufleuchtet. Die Verwendung des Präteritums und Perfekts zeugt von Vergangenem, Abgeschlossenem, und die Vermutung eines Erinnerungsfluidums oder einer fluidischen Erinnerung liegt nahe. Der Schock über eine gefundene Gasmaske als ein traumatischer Blitz, das einzigartige Gefühl des Erinnerns an das Schneiden der roten Wurzel als romantische Sehnsucht, beides ist wahrscheinlich ganz plötzlich und unvermittelt ins Bewußtsein des Dichters „geschossen“.
Wodurch werden solche Fluiden ausgelöst? Zur Beantwortung dieser Frage erweist es sich als zielführend, nach dem Bezug des Dichters zu seiner Umwelt zu fragen; hierzu ein Zitat:
Im Eindruck sind Eindrückendes ,und‘ Beeindruckter wesentlich enthalten.
Jedes solche Stück ist imstande, ein überwältigendes, beglückendes Gefühl der Welteinbezogenheit und des Seins-Einverständnisses auszulösen, das ,Fluidum‘.
Auch hier wird Wesentliches über das Fluidum gesagt: Das Fluidum, seine Inhalte und Botschaften sind ebenso wichtig wie der gewonnene und vermittelte Eindruck. Dies alles hängt wiederum von der Person des Wahrnehmenden ab.
Okopenko, der als Dichter und Mensch offen für die Reize der Umwelt und ein seismographischer Betrachter ist, geht in der Art seiner Beobachtung der Tiefenstruktur der Dinge nach. Dies schließt die Wahrnehmung der Wirkung des Beobachteten auf die eigene Person mit ein.
Die Umgebung enthält den Wert des Seins schlechthin, das Wesen ihrer Dinge, deren unendlichfältige Beziehungen, untereinander und zu Menschen, alle Möglichkeiten, das Wesen und Unwesen ihrer Menschen, deren unendlichfältige Beziehungen, untereinander und zum Ich.
Bezeichnend ist hier die Fülle der Wahrnehmung und die daraus folgenden Bezugsmöglichkeiten. Im Gegensatz zum tragischen Gefühl des „Gegenüber“ stellt das Fluidum ein Phänomen der „Einbettung“ dar, am Leben und den Erlebnissen wird bewußt und aktiv teilgenommen.
Es ist ein Gefühl wie das Anzengrubersche „Das alles ghört zu dir und du ghörst zu all dem; es kann dir nix gschehn, es kann dir nix gschehn“.
In der Wahrnehmung von Welt scheint die Oberfläche reizvoll; der Dichter nimmt sie in ihrer Beschaffenheit wahr; ein tieferer Blick, wie er sich im Fluidum ergibt, ermöglicht weitere Erkenntnisse. Aber ist Wirklichkeit nur das, was er mit den fünf Sinnen erfassen kann? Genügen Ein- und Überblick? Oder existiert neben dem kontinuierlichen Alltagsleben nicht auch noch ein Erlebensmodus, der Verbindungen und Assoziationsmöglichkeiten schafft, wie sie herkömmlich nicht erreicht werden können?! Andreas Okopenko sieht die ihn umgebende Realität folgendermaßen:
Es ist nicht einerlei, ob ich das Erlebnis der Existenz im Galgenhof habe oder während eines Gewitters […]. Die Problematik des Galgenhofes […], aber auch das Aussehen des Galgenhofes […] bleiben wichtig. Daß die Konstruktion des Galgens sinnreich und schön gegen den Vieruhrhimmel ragt, selbst daß ich von der Todesangst her einen Impuls zum Lieben des Lebens bekomme, ist in der einen Wirklichkeit genau so enthalten wie, daß es Anmaßung bedeutet, über einen Menschen den Tod zu verhängen, und daß der Vollzug unvergeßlich mies ist. […]
Die Werte und die Fülle der Welt machen die Eine Wirklichkeit aus. Die Wertaspekte sind verschiedene Schnitte durch die Welt. Alle müssen auf ein einziges hindeuten, auf die Eine Wirklichkeit. Die Freude am Galgenhof kann nur darin bestehen, daß ich mich ins Leben verliebe, selbst wenn es mich in diese Situation gebracht hat. Am Hängen werde ich keine Freude haben.
Diese Realitätsauffassung geht einher mit dem Bewußtwerdungsprozeß des Dichters. Im Fluidum erscheinen ihm die Bestandteile nicht als Anhäufung von Einzelheiten, sondern als Ganzheit. Zum Zeitpunkt des Erlebens vermittelt das Fluidum seine „Botschaften“ in Klarheit und Deutlichkeit. Die Inhalte ergreifen ihn, er gibt sich dem Fluidum hin. Es ist eine Haltung des Gefühls, durch das er sich an das Weltganze im Hier und in diesem einmaligen Augenblick an die Kontinuität seines gesamten Lebens angeschlossen fühlt – eindrucksvoll belegt durch folgendes Zitat:
Da ist noch der Großvater, der […] mit der Laubsäge Holz verbastelte, er strich die merkwürdig runden Teile dann z.B. knallgelb und tiefblau an, und diese Holzdinge waren dann so etwas ganz anderes als alle übrigen Gegenstände, die es gibt. War es der Zauber des MACHENS, der beim Anschaun dieser in unserm Beisein geschaffenen Gegenstände eines der ersten Male bewußt wurde? Und die Farben selbst. Diese Freude am Erscheinenden vor den Sinnen.
Das Fluidum ist als Reaktionsgefühl auf auserwählte Wirklichkeit zeitlich nicht gebunden, d.h. ein Fluidum kann auch erinnert werden, als Erinnerungsfluidum oder fluidische Erinnerung ins Bewußtsein gelangen. Bezeichnend sind die in dem Zitat angesprochenen Schwerpunkte: die rein visuelle Komponente, die sich durch die auffälligen Farben und ungewöhnlichen Formen belegen läßt und die Faszination des Kindes, das hautnah beim Entstehen des Spielzeugs dabei ist (Gefühlskomponente). Diese Verbindung von visuell eindrücklich Wirkendem mit dem sensiblen Erinnern an den Großvater und seine wunderbare „Spielzeugerschaffung“ bewirken im Dichter, daß diese Begebenheit zu einem Fluidum wird, denn es wird ihm bewußt, daß diese unbeschreiblich faszinierende Situation (einzigartig an Intensität, unwiederbringlich und beeindruckend gerade durch diese Bewußtwerdung) bleiben wird.
Die Art und Weise, in der das Fluidum selbst zu einem Element der Dichtung wachsen kann, macht das nachfolgende Gedicht von Andreas Okopenko anschaulich (In: Gesammelte Lyrik):
GARTEN
Der tiefe Garten
dunkelgrüner Blätter,
die vom Boden kommen
und feucht sind.
Braune Erde,
unter dem Blattwerk
wach.
Garten…
Drinnen
ein Weg,
unter hohem Gras.
Der Morgen
jung und rauchblau:
hier drüber
beginnt er.
Vor Mittag
scheint die Sonne
halb herein.
Oh, der Tag
ist hier
lang
bis zum Abend.
Und dann
naht das andere Grün:
langsam
die Nacht.
Garten:
Von den Schatten
atmet es
warm…
Diese Zeilen schrieb Okopenko am 19.5.1950; das Gedicht läßt sich damit in eine Phase eingliedern, die der Autor als „Zeiten höchster Fluidumintensitäten (im Wettlauf damit: fleißigsten Fluidumlyrisierens) bezeichnet hat.
Form und Gestus der einzelnen Strophen erinnern an das japanische Haiku. Dieser Vergleich erscheint auch deshalb fruchtbar, weil Okopenko in dieser Dichtungsgattung starke Parallelen zu seiner Fluidum-Dichtung sieht. Allgemein gilt: Haikus berühren einen Naturgegenstand (meist in einer bestimmten Jahreszeit) und beziehen sich auf ein einmaliges Ereignis, welches gegenwärtig erlebt und als einzigartiges dargestellt wird.
Im Gedicht „Garten“ finden wir die wichtigsten Haiku-Forderungen wieder: Der Garten mit (vermutlich) abgefallenen Blättern, mit Erde und Gras. Der Dichter setzt den Betrachtungsakt ins Präsens oder läßt ihn wie in der zweiten und dritten Strophe durch das Weglassen von Verben als zeitlos erscheinen; „Einschlags“-Intensitäten werden angezeigt.
Der Inhalt des Gedichtes wirkt räumlich und zeitlich abgegrenzt. Wir erhalten Einblick in einen Garten, in dem wir die sich darbietenden Naturgegenstände vorfinden. Diese Eindrücke oder vielmehr Momentaufnahmen werden zu unterschiedlichen Zeiten wahrgenommen. In den ersten drei Strophen erfahren wir eigentlich nichts über die Zeit, einzig in den Versen 2 und 4 könnten wir anhand der feuchten Blätter eventuell Morgentau vermuten, was aber nur sinnvoll erscheint, wenn wir diese Verse mit der dritten Strophe, in der konkrete Morgeneindrücke genannt werden, korrespondieren lassen. In der fünften Strophe, die Zeit ist inzwischen vorgerückt, ist es schon Mittag; der nachfolgende Abschnitt umreißt die Spanne bis Abend, danach ist es bereits Nacht.
Das Fluidum läßt sich auch daran festmachen, daß jede Strophe kompakt und in sich abgeschlossen (rein sprachlich wie auch inhaltlich) wirkt. Die zeitliche Ausdehnung gestaltet sich je Strophe unterschiedlich. In der ersten ist es sehr ungewiß, ob der Betrachter seinen Blick wie in einer Art Kurzübersicht schnell über/durch den Garten streifen läßt, da er doch schon einige Bestandteile (Blätter, Boden) erkennt. Aber auch ein zeitlich anhaltendes Wahrnehmen könnte vermutet werden: Immerhin erfahren wir von den Qualitäten (tief, dunkelgrün, feucht) des zuvor genannten Garteninventars, was für ein präziseres Aufnehmen und Sehen spricht.
Die zweite Strophe erscheint in einer Art blitzhaftem Auftreten, der Dichter registriert zwischen dem Blattwerk braune Erde und er ist davon so beeindruckt, daß er eine genaue Eigenschaft anfügt, nämlich das „Wach“-Sein. Wem sie gilt, ob der Erde, dem Blattwerk oder gar ihm selbst, ist nicht einwandfrei zu entscheiden, vielleicht (gerade in einem so kurzen Moment wie einer Fluidumerfahrung) ist es der einzigartig klare Zustand der Wachheit und des absoluten Jetzt-Bewußtseins, der eine solche Wahrnehmung auszeichnet.
In der dritten Strophe folgen dem visuellen Eindruck „Garten“ drei Schlußpunkte, als blieben hier Erfahrungen ausgespart, die in der kurzen Spanne eines Fluidums nicht aufgegriffen und konkretisiert werden können und die eher auf einen fluidischen Gesamtzustand hinweisen. Erst bei „Tiefensicht“, nämlich genauerem Betrachten, wird danach ein Weg unter hohem Gras sichtbar.
In der nachfolgenden Strophe finden wir eine Art ordnende oder spezifizierende Bestandsaufnahme der Eindrücke in räumlicher und zeitlicher Form. Der Morgen erwacht „jung“ und „rauchblau“, was auf das augenblickhafte Sehen des Betrachters hindeutet, das hier in seiner ganzen Veränderlichkeit erscheint: Kurz vor Sonnenaufgang wirken die Dinge in der Natur frisch oder jung und erscheinen in den typisch frühmorgendlichen Rauchblau-Tönen. Sie verschwinden aber nach Sonnenaufgang.
In der fünften Strophe gilt für das Faktum Zeit Ähnliches wie in der zweiten. Dieses unglaublich knappe Notieren der Tatsache, wie weit die Sonne diesen Garten bescheint, mag direkter Niederschlag eines Fluidums sein. Auch hier wieder beeindruckt die Feststellung, daß nicht irgendein Garten gemeint ist, sondern der eine, in dem sich der Dichter in einer Fluidum-Anwandlung befindet, den er sieht oder gegenwärtig erinnert.
Danach, in der sechsten Strophe, herrscht ein reflektierender Gestus vor. Das schwärmerische, würdigende oder staunende „Oh“ drückt eine positive Befindlichkeit über die Dauer eines bewußt erlebten Tages in dieser Umgebung aus. Hier nimmt der Dichter nicht mehr auf eine (relativ) genaue Tageszeit Bezug, sondern erfreut sich am Erkennen der Zeitdauer. Auffällig ist allerdings, daß wir gerade im weiten Rahmen dieser Zeitausdehnung mehr „Inhalt“ erwarten möchten. Aber weil ein Fluidum auch nur ein ganz bestimmtes Gefühl, wie hier das des erfreulichen Gewahrwerdens der Zeitdauer, hervorbringen kann, muß dieser Abschnitt nicht zwingend als „außerfluidisch“ gewertet werden.
Die siebte Strophe gestaltet sich recht spannend. Sie beginnt mit der an Vorhergehendes anknüpfenden Wendung „Und dann“. Der Betrachter wird sich bewußt, daß das Geschilderte nicht mit dem Tag endet, sondern auch in die Nacht reicht. Die wird nicht plötzlich erkannt, sondern als eine „langsam“ sich einstellende Wahrnehmung geschildert. Es vollzieht sich eine ruhig fließende Verwandlung, die der Dichter wunderbar feinfühlig durch die optische Veränderung der Farbe Grün ausdrückt. War der Garten am Morgen noch voll „dunkelgrüner Blätter“, zeigt die Nacht nun das andere „Grün“. Die Gleichsetzung der Nacht mit der Farbe Grün (obwohl wir normalerweise in der Nacht alles Gesehene eher als grau oder schwarz identifizieren würden) und die Zuschreibung der Farbe Grün an die Nacht als eigene Substanz (und nicht mehr als Qualität oder Eigenschaft) ist geradezu phantastisch und einzigartig. Somit drückt dieses Grün mehr ein Gefühl, ein andersartiges Sehen und Wahrnehmen, eben ein spezifisches Fluidum, aus.
In der letzte Strophe kommt es zu einem letztes Durchstreifen des Gartens. Die visuelle Komponente tritt zugunsten einer Wahrnehmung mittels Tastsinnes in den Hintergrund. Was in dem Garten bei Nacht Schatten wirft, trägt Leben in sich, es „atmet […] warm“. Es ist auch die Darstellung eines zeitlichen Vorganges, der sich über diesen einen Tag erstreckt: Die Sonne hat die Bäume, Sträucher etc. während des Tages beschienen, in der Nacht geben diese die gespeicherte Wärme ab. Die drei Schlußpunkte am Ende des Gedichtes stehen für ein langsames Ausklingen, ein Heraustreten des Dichters aus der wunderbaren Szene. Sei es, daß der Atem der Bäume schwächer wird oder der Dichter selbst langsam und leise ausatmet: Das Fluidum löst sich zusehends auf.
Hervorzuheben bleibt abschließend die Eigenwilligkeit des Dichters, die Dinge des Gartens in fluidalem Zustand zu sehen. Dabei kommt den verwendeten Adjektiven, eine besondere Bedeutung zu. Teilweise wird die Oberflächenbeschaffenheit näher betrachtet („dunkelgrüne“ und „feuchte“ Blätter, ein „rauchblauer“ Morgen), dann wiederum geht der Blick in die Tiefe („tiefer“ Garten, „dunkelgrüne“ Blätter, „unter“ dem Blattwerk, „unter“ hohem Gras). Ein Spiel mit unterschiedlichen räumlichen Ebenen findet statt (die Bäume im Garten sind auf suggestive Weise „rauchblau“ überzogen und „darüber“ beginnt der Morgen, Blätter fallen nicht von den Bäumen, sondern kommen „vom Boden“) sowie eine eigenwillige Kombination von Sinneseindrücken: Die Schatten spenden nicht Kühle, sondern von ihnen „atmet es warm“, die Nacht bricht nicht herein, sondern naht, fast wie eine Person, als grüne Erscheinung oder mit ihrer Farbqualität als Hoffnung signalisierendes Gefühl. Als eine vom Fluidum getragene Erscheinung „verselbständig“ sich die Dichtung und geht mit dem Umliegenden eine neue Verbindung ein. Die Lebendigkeit, die im Adjektiv „wach“ zum Tragen kommt, und das Ausatmen im letzten Vers des Gedichtes scheinen dafür Beispiele zu sein. Das Fluidum des Autors tritt mit den Fluiden des Lesers in Verbindung, es löst eine Verkettungen der Eindrücke und unzählige neue Assoziationen aus.
Daniela Petrini, aus Klaus Kastberger (Hrsg.): Andreas Okopenko. Texte und Materialien, Sonderzahl Verlag, 1998
Adolf Haslinger – Laudatio zum Großen Österreischischen Staatspreis 1998.
Konstanze Fliedl – Laudatio zum Georg-Trakl-Preis 2002.
Daniel Wisser: Der sanfte Linke
Die Presse. 13.3.2020
Karin Ivancsics: Eine Freundin erinnert sich
Die Presse, 25.6.2020
Andreas Okopenko: Anarchistenwalzer gesungen von Palma Kunkel.
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